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U 2/00 BSch - Oberlandesgericht (Schiffahrtsobergericht)
Entscheidungsdatum: 30.01.2001
Aktenzeichen: U 2/00 BSch
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Abteilung: Schiffahrtsobergericht

Leitsätze:

1. Das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme bei der Annäherung an einen Schleusenvorhafen bezieht sich nicht nur auf den gleichgerichteten Verkehr, sondern gilt auch gegenüber dem Gegenverkehr.

2. § 6.28 Nr. 2 Satz 1 BinSchStrO, wonach bei der Annäherung an den Schleusenbereich (wozu gemäß Nr. 1 auch der Schleusenvorhafen zählt) die Fahrzeuge ihre Fahrt verlangsamen müssen, ist „Schutzgesetz" im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB.

3. Der Grundsatz, dass Schiffsführer die an Bord vorhandenen technischen Einrichtungen, insbesondere ein Sprechfunkgerät, auch ohne ausdrückliche gesetzliche Verpflichtung benutzen müssen, wenn damit die Gefährdung von Menschenleben, das Entstehen von Sachschäden oder Behinderungen der Schifffahrt vermieden werden können, gilt nicht nur für die Schifffahrt auf dem Rhein, sondern gleichermaßen für die Schifffahrt auf dem Neckar und dem Main.

Urteil des Oberlandesgerichts (Schifffahrtsobergerichts) Karlsruhe

vom 30.1.2001

- U2/00BSch -

(Schifffahrtsgericht Mainz)


Zum Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Haftung für die Folgen einer Schiffskollision, die sich am 09.03.1999 auf dem Main bei Kilometer 4 im Oberwasser der Schleuse Kostheim zugetragen hat.

Die Klägerin ist Versicherer des MS „S", die Beklagte zu 1 ist Ausrüsterin von MS „R", der Beklagte zu 2 dessen Schiffsführer.
Am 09.03.1999 etwa gegen 04.20 Uhr befand sich der Schubverband (SV) bestehend aus MS „R" und SL „L" zu Berg fahrend im Oberwasser der Schleuse Kostheim. Zur gleichen Zeit fuhr MS „S", das von dem Schiffseigner S. geführt wurde, zu Tal auf die Schleuse Kostheim zu. Das Schiff fuhr leer ohne Ballast von Flörsheim in Richtung Rhein. Im obersten Teil des Oberwassers der Schleuse Kostheim kam es zu einem Zusammenstoß zwischen dem MS und dem SV. Dabei erlitt der Schubverband keine Schäden; Gegenstand der Klage sind die an MS „S" entstandenen Schäden.
Die Klägerin hat im ersten Rechtszug im wesentlichen vorgetragen, Schiffsführer S habe MS „S" mit einer Umdrehungszahl von ca. 320 Upm - was einer normalen Geschwindigkeit entspreche - zu Tal gefahren. Er habe sich zuerst bei Mainkilometer 7,0 und dann bei Mainkilometer 5,0 bei der Schleuse Kostheim über Funk gemeldet und erfahren, dass zwei Bergfahrer hochschleusten und die Schleuse dann für MS „S" klar sei. Als MS „S" gegen 04.20 Uhr sich in Höhe von Mainkilometer 4,2 befunden habe, habe Schiffsführer S unterhalb der Autobahnbrücke im Vorkanal der Schleuse einen beladenen Koppelverband gesehen. Dieser Verband sei korrekt ohne Blinklicht fahrend zu Berg gekommen, so dass eine problemlose backbord-backbord-Begegnung mit MS „S" zu erwarten gewesen sei. Erst als sich die begegnenden Schiffe nur noch in einem Kopf-auf-Kopf-Abstand von ca. 300 m befunden hätten, sei der Kopf des Koppelverbandes plötzlich nach backbord verfallen, was Schiffsführer S veranlasst habe, sich sofort über Kanal 10 mit den Worten zu melden: „Der Koppelverband im Oberwasser der Schleuse Kostheim: backbord-backbord, macht bitte etwas mehr Platz". Von Seiten des Koppelverbandes sei jedoch keine Reaktion erfolgt. Der Koppelverband sei weiterhin nach Backbord verfallen, so dass der Schiffsführer S seine Maschine auf Stopp gestellt habe und mit dem Bugstrahlruder volle Kraft zurück. Eine Havarie sei aber infolge des kurzen Abstands nicht mehr vermeidbar gewesen. Die Schiffe seien dann in der Weise kollidiert, dass das Backbordvorschifff von MS „S" mit dem Backbordvorschiff des vorgekoppelten Schubleichters, beide etwa in Höhe der Pollerbank, zusammengestoßen seien. Infolge dieses Anstoßes sei das Steuerbordvorschiff von MS „S" ebenfalls in Höhe der Pollerbank mit dem unmittelbar oberhalb der Autobahnbrücke Hochheim in Verlängerung der Trenndammlinie liegenden Dalben kollidiert.
Die Beklagten haben im ersten Rechtszug im wesentlichen vorgetragen: Im Oberwasser der Schleuse Kostheim hätten auf der linksmainischen Uferseite drei Schiffe hintereinander gelegen, die dort Nachtruhe gehalten hätten. Entsprechend der durch diese Stilllieger eingeschränkten Breite des Oberwassers sei der Koppelverband in der Mitte der verbleibenden Wasserfläche gefahren. Angesichts dieser räumlich beengten Verhältnisse sei es klar gewesen, dass der Talfahrer, der den Schleusenbereich habe gut einsehen können, nicht innerhalb des Oberwassers mit dem Koppelverband habe begegnen können. Der Beklagte zu 2 habe deshalb davon ausgehen können, dass MS „S" seine Fahrweise und Geschwindigkeit entsprechend einrichten und die Begegnung mit dem Koppelverband erst vornehmen würde, wenn dieser den engen Vorhafen verlassen haben würde. Der Koppelverband habe die oberhalb des Vorkanals gelegene Brücke in dem üblichen Kurs der Bergfahrt bereits auf einer Länge von ca. 150 m unterfahren, als der Beklagte zu 2 erkannt habe, dass MS „S" seine Geschwindigkeit unverändert beibehalte und sich damit dem Koppelverband nähere. Außerdem habe MS „S" nun seinen Kurs auf den Kopf des Koppelverbandes, der bis dahin seinen gestreckten Kurs unverändert beibehalten habe, gerichtet. Um der drohenden Kollision zu entgehen, habe der Beklagte zu 2 sofort ein Notmanöver eingeleitet, indem er unter Einsatz der Hauptmaschine und des Bugstrahlruders den Kopf des Verbandes nach Steuerbord gedrückt habe, wodurch der Kopf des Schubleichters bis auf 5 m an die oberhalb des Vorkanals befindlichen linksmainischen Dalben herangekommen sei. Hierdurch sei es gelungen, im letzten Augenblick eine Kopf-auf-Kopf-Kollision zu verhindern. MS „S" habe jedoch mit seinem Backbordvorschiff die Backbordseite des Schubleichters gerammt. Anschließend sei MS „S" weiter zu Tal getrieben, bis es zwischen dem Backbordachterschiff des MS „R" und dem Trenndamm stecken geblieben sei. Infolge des Notmanövers des Koppelverbandes sei dieser in eine Steuerbordschräglage geraten, wobei das Achterschiff von MS „R" bis auf ca. 8 - 9 m an den Trenndamm herangekommen sei. Der Unfall sei auf das Verschulden der Schiffsführung von MS „S" zurückzuführen.

Das Schifffahrtsgericht hat die Schadensersatzklage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Die Berufung der Beklagten hatte teilweise Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen:

„Die Beklagen haften der Klägerin auf Ersatz von drei Vierteln des durch den Schiffsunfall auf dem Main am 09.03.1999 entstandenen Schadens gemäß § 823 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6.28 Nr. 2 Satz 1 BinSchStrO, §§ 92, 92 c, 92 f BSchG.

1. Begegnen sich Berg- u. Talfahrt auf einer Bundeswasserstraße, so müssen gemäß § 6.04 BinSchStrO die Bergfahrer unter Berücksichtigung der örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs den Talfahrern einen geeigneten Weg freilassen.
Der Beklagte Ziff. 2 als Schiffsführer des zu Berg fahrenden Schubverbandes hatte danach unter Berücksichtigung der örtlichen Umstände dem zu Tal fahrenden MS „S" einen geeigneten Weg freizulassen. Bei der Annäherung beider Schiffe war - entsprechend der Üblichkeit im dortigen Revier - vorgesehen, dass der Bergfahrer den Talfahrer an backbord vorbeifahren lässt, so dass kein Zeichen zu geben war (§ 6.04 Nr. 2 BinSchStrü). Nach den insoweit mit der Berufung nicht beanstandeten Feststellungen des Schifffahrtsgerichts ist das Oberwasser der Schleuse Kostheim im oberen Teil auf einer Länge von ca. 400 m bis zum Übertritt in den offenen Main durchweg mindestens 50 m breit. Wenn in diesem Oberwasser an der landseitigen Spundwand mehrere Stilllieger einzeln hintereinander liegen, so ist die verbleibende Wasserfläche nicht in dem Maße eingeschränkt, dass eine Begegnung von Bergfahrern und Talfahrern nicht erfolgen könnte. Wenn der Bergfahrer davon abweichend wünschte, dass der Talfahrer warten solle, bis der Bergfahrer den Bereich des Oberwassers im Schleusenvorhafen verlassen haben würde, so hätte er Funkkontakt mit dem Talfahrer aufnehmen und eine entsprechende Absprache treffen müssen.

Der Bundesgerichtshof hat in einer Entscheidung (VersR 1991, 605 betont, dass es die allgemeine Sorgfaltspflicht gebietet, dass Schiffsführer auf dem Rhein die an Bord vorhandenen technischen Einrichtungen, insbesondere ein Sprechfundgerät, auch ohne ausdrückliche gesetzliche Verpflichtung benutzen, wenn damit die Gefährdung von Menschenleben, das Entstehen von Sachschäden oder Behinderungen der Schifffahrt vermieden werden können. Das Schifffahrtsobergericht Karlsruhe hat (mit Urteil vom 08.07.1992 - U 8/91 -) ausgeführt, dass diese Grundsätze nicht nur für den Rhein, sondern gleichermaßen für die Schifffahrt auf dem Neckar gelten. Entsprechendes gilt für die Bundeswasserstraße Main. Wie das Schifffahrtsgericht zutreffend ausgeführt hat, hätte die Schiffsführung des Schubverbandes spätestens zu dem Zeitpunkt, zu dem sie bemerkte, dass der zunächst gestreckt fahrende Schubverband mit dem Heck in Richtung Trenndamm also in Richtung auf die geografisch rechte Mainseite hin verfiel, den ankommenden Talfahrer hätte warnen müssen.

2. Die Berufung hat insoweit teilweise Erfolg, als sie geltend macht, dass der Schiffsführung von MS „S" ein Mitverschulden anzulasten ist. Gemäß § 6.28 Nr. 2 Satz 1 BinSchStrO müssen bei der Annäherung an den Schleusenbereich (wozu gemäß Nr. 1 auch der Schleusenvorhafen zählt) die Fahrzeuge ihre Fahrt verlangsamen. Gegen diese Vorschrift, die „Schutzgesetz" im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB ist, da sie jedenfalls auch dem Schutz der einzelnen anderen Verkehrsteilnehmer zu dienen bestimmt ist, hat die Schiffsführung von MS „S" verstoßen. Sie hat in unverminderter Geschwindigkeit mit einer Umdrehungszahl von 320 Upm den Schleusenvorhafen angehalten.

Der Schiffsführer S hat bei seiner Vernehmung als Zeuge im Verklarungsverfahren angegeben, dass aufgrund des wachsenden Wassers (es herrschte Hochwasser) eine starke Strömung bestand. Ihm war auch bekannt, dass im Vorkanal der Schleuse Kostheim, insbesondere bei starker Strömung, unruhiges Wasser herrscht. Dies hängt damit zusammen, dass sich das Wasser den Weg durch den relativ engen Vorkanal bahnen muss, während der Rest von ca. 2/3 der Wasserspiegelbreite am Weiterlauf durch die Staustufe Kostheim gehindert wird. Ihm war ferner bekannt, dass die heikelste Stelle im dortigen Revier der Bereich um Mainkilometer 4,0 also unmittelbar vor und während der Ausfahrt aus dem Vorkanal für die Bergfahrt darstellt. Dort setzt - nach den Angaben des Schiffsführers S - eine bei wachsendem Wasser sich verstärkende kräftige Neerströmung nach geografisch rechts ein, so dass man den Kopf streng nach steuerbord halten muss, um Kurs halten zu können. Als erfahrener Schiffsführer musste er daher seinerseits einen Beitrag dazu leisten, dass es nicht zu einer Kollision mit dem ihm entgegenkommenden Koppelverband kommen würde. Schiffsführer S hatte erkannt, dass der Bergfahrer nicht äußerst rechts fahren konnte, weil er dort stillliegende Schiffe passieren musste. Unter diesen konkreten Umständen war es dem Talfahrer spätestens als er erstmals das Verfallen des Bergfahrers erkannte, möglich und zumutbar, seine Geschwindigkeit rechtzeitig so herabzumindern, dass der Schubverband zunächst den Schleusenvorhafen vollständig verlassen konnte, ehe er als Talfahrer in den Schleusenvorhafen einfuhr.
Zwar handelt es sich an der Unfallstelle nicht um eine Fahrwasserenge, die in keinem Falle hinreichenden Raum für ein Begegnen bieten würde. Gleichwohl sind die für das Begegnen in engem Fahrwasser in § 6.07 (insbesondere Nr. 1 d) BinSchStrO enthaltenen Grundsätze sinngemäß auch in Fällen wie dem vorliegenden heranzuziehen: Danach müssen Talfahrer, wenn ein Verband bereits zu Berg in eine Fahrwasserenge hineingefahren ist, soweit möglich, oberhalb der Enge verbleiben, bis die Bergfahrer sie durchfahren haben. Das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme bei der Annäherung an einen Schleusenvorhafen (vgl. hierzu auch Bemm/von Waldstein RheinSchPolV0 3. Aufl. § 6.28 Rdnr. 4 ff, 6) bezieht sich nicht nur auf den gleichgerichteten Verkehr, sondern gilt auch gegenüber dem Gegenverkehr.

3. Die Abwägung der beiderseitigen Verursachens- u. Verschuldensanteile führt dazu, dass die Klage dem Grund nach zu drei Vierteln gerechtfertigt ist. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Schifffahrtsobergerichte wurde wiederholt betont, dass bei Kollisionen zwischen Berg- u. Talfahrern besonders die hohe Verantwortung zu Buche schlägt, die sich aus der Weisungsbefugnis des Bergfahrers ergibt (vgl. beispielsweise Senat, Urteil vom 21.12.1999 - U 2/99 BSch m. w. Nr.). Entsprechendes gilt für die Verpflichtung des Bergfahrers, dem Talfahrer unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse einen geeigneten Weg frei zu lassen. Ihr kommt auch im vorliegenden Falle das entscheidende Gewicht zu, wobei insbesondere die vom Zeugen D (Schiffsführer von MS „G", das im Oberwasser hinter dem Schubverband herfuhr) bestätigte Tatsache des Verfallens des Bergfahrers im Schleusenvorhafen und dessen unterlassene Funkmitteilung besonders ins Gewicht fallen. Andererseits ist der - oben unter Ziffer 2 dargestellte - Mitverschuldensbeitrag der Führung des talfahrenden Motorschiffes nicht geringer als mit einem Viertel zu bewerten...."

Ebenfalls abrufbar unter ZfB 2002 - Nr. 2 (Sammlung Seite 1851 ff.); ZfB 2002, 1851ff.