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Leitsatz:
Die durchgehende Schiffahrt hat an Hafenausfahrten eine gewisse Bevorrechtigung gegenüber dem Ausfahrenden, der verpflichtet ist, den durchgehenden Verkehr durch Schallzeichen auf das bevorstehende Ausfahrmanöver aufmerksam zu machen, im Falle einer Sichtbehinderung einen Ausguck aufzustellen und die eigentliche Ausfahrt erst nach Erreichen der vollen Sicht vorzunehmen. Auf die Einhaltung dieser Maßnahmen darf der durchgehende Verkehr vertrauen, muß aber die ausfahrende Schiffahrt, wenn nötig, durch Kurs- oder Geschwindigkeitsänderungen unterstützen und denjenigen Teil der Wasserstraße freihalten, den der Ausfahrende benötigt, um volle Sicht zu erlangen, selbst wenn keine Ausfahrtsignale zu vernehmen sind.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 24. Juni 1971
II ZR 92/69
(Schiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort, Schifffahrtsobergericht Köln)
Zum Tatbestand:
Mitte März gegen 19.30 Uhr stieß das beladene, der Beklagten zu 1 gehörende und vom Beklagten zu 2 geführte TMS P bei der Ausfahrt aus dem Rhein-Lippe-Hafen in den Wesel-Datteln-Kanal in Richtung zum Rhein mit dem vom Rhein kommenden, bei der Klägerin versicherten MS M so stark zusammen, daß letzteres sank.
Die Klägerin verlangt Ersatz des erstatteten Schadens von ca. 170000,- DM, weil der Beklagte zu 2 keine Ausfahrtzeichen gegeben habe, obwohl ihm die Sicht auf die an dieser Stelle von Süden nach Norden zum Rhein führenden Kanalstrecke durch den hohen Ostwall des Kanals versperrt gewesen sei.
Die Beklagten beantragten in den Vorinstanzen Abweisung der Klage in vollem Umfang, weil sich MS M, welches die Kanalstrecke weiter in südlicher Richtung befahren wollte, der Hafenausfahrt nicht auf der für ihn rechten (westlichen) Fahrwasserseite genähert habe, sondern nahe an dem hohen Ostwall des Kanals gefahren sei.
Schiffahrts- und Schiffahrtsobergericht haben den Klageanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Mit der Revision streben die Beklagten an, daß die Klage nur zur Hälfte für gerechtfertigt erklärt wird. Die Revision wurde jedoch zurückgewiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Binnenschiffahrtstraßenordnung 1966 schrieb nicht vor, daß auf den westdeutschen Kanälen rechts zu fahren ist (anders jetzt, jedenfalls für das Begegnen § 15.05 Nr. 1 -WK- BinSchStrO 1971). Deshalb stand es MS M frei, auf welcher Seite des Fahrwassers es seinen Weg nehmen wollte, zumal es nach § 3 -WK- BinSchStrO 1966 als Bergfahrer galt und damit auch bestimmen konnte, ob es die Talfahrer an seiner Backbord- oder an seiner Steuerbordseite vorbeifahren lassen wollte (§ 38 Nr. 1 BinSchStrO 1966). Diese Berechtigung wurde nicht dadurch eingeschränkt, daß - nach den Feststellungen des Berufungsgerichts - auf den westdeutschen Kanälen in der Regel rechts gefahren wird.
Nach dem angefochtenen Urteil blieb die Behauptung der Beklagten, der Kurs des MS M sei nur etwa 15-20 m aus dem Ostwall des - zwischen 72 und 74 m breiten - Kanals verlaufen, unbewiesen. Diese tatrichterliche Würdigung kann die Revision nicht durch ihre abweichende Würdigung ersetzen. Bei einem Abstand des MS „Mondorf" zu seinem Backbordwall von mehr als 20 m kommt aber ein Verstoß der Führung dieses Schiffes gegen § 4 BinSchStrO aus folgenden Gesichtspunkten nicht in Betracht:
Um den Gefahren zu begegnen, die bei der Hafenausfahrt eines Schiffes entstehen können, sind dem Ausfahrenden und der durchgehenden Schiffahrt bestimmte Pflichten auferlegt (vgl. § 50 Nr. 3 BinSchStrO 1966; § 6.16 BinSchStrO 1971). Sie bestehen für den durchgehenden Verkehr darin, daß er den Ausfahrenden, wenn nötig, durch eine Änderung des Kurses oder der Geschwindigkeit unterstützen muß. Der Ausfahrende darf die durchgehende Schifffahrt allerdings nicht zu unvermittelten Manövern zwingen. Das zeigt, daß die durchgehende Schiffahrt in einem gewissen Sinne gegenüber dem Ausfahrenden bevorrechtigt ist. Diesen Vorrang muß der Ausfahrende auch in solchen Fällen beachten, in denen er, wie hier, die durchgehende Schiffahrt praktisch erst bei Passieren der Mündungslinie sehen kann. Daraus ergibt sich für ihn die Verpflichtung, den durchgehenden Verkehr durch Schallzeichen auf das bevorstehende Ausfahrtmanöver aufmerksam zu machen, wegen seiner Sichtbehinderung einen Ausguck aufzustellen und die eigentliche Ausfahrt erst vorzunehmen hat, wenn er volle Sicht auf die anschließend zu befahrende Wasserstraße hat. Auf die Einhaltung dieser Maßnahmen durch den Ausfahrenden kann der durchgehende Verkehr vertrauen. Jedoch gebietet die Unterstützungspflicht, die der durchgehenden Schiffahrt gegenüber einem Fahrzeug obliegt, das einen Hafen verlassen will, daß sie in Fällen der vorliegenden Art denjenigen Teil der Wasserstraße freihält, den der Ausfahrende benötigt, um volle Sicht auf diese zu erlangen. Dies gilt auch dann, wenn sie keine Schallzeichen hört, da mit Ausfahrten aus einem Hafen stets gerechnet werden muß. Dieser Pflicht hat MS M in jedem Falle genügt. Bei einem unwiderlegt behaupteten Abstand dieses Schiffes zu dem Ostwall des Kanals von mehr als 20 m ist TMS Piz la Margna" hinreichend Raum verblieben, um sich vor der eigentlichen Hafenausfahrt volle Sicht auf die vom Rhein kommende Strecke des Wesel-Datteln-Kanals zu verschaffen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß nach den rechtlich einwandfreien Feststellungen des Berufungsgerichts der sich trichterförmig öffnende Hafenmund selbst Schiffen von der Größe des TMS P die Möglichkeit bot, sich vor dem Passieren der Mündungslinie aufzustrecken, mithin in Parallellage volle Sicht auf die erwähnte Kanalstrecke zu gewinnen.
Der Revision kann auch insoweit nicht gefolgt werden, als sie meint, auf MS M sei man wegen der unübersichtlichen Hafenausfahrt gehalten gewesen, einen Ausguck aufzustellen. Diese Auffassung verkennt, daß MS M nicht in den Rhein-Lippe-Hafen fahren, sondern die Fahrt auf dem Wesel-Datteln-Kanal fortsetzen wollte. Für die Fahrt auf dem Kanal hatte der Rudergänger des MS M aber nach allen Seiten genügende Sicht.