Rechtsprechungsdatenbank
Leitsätze:
1) Zur Bewertung von Zeugenaussagen.
2) Will das Berufungsgericht von der Würdigung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen durch das erstinstanzliche Gericht abweichen, so ist es in der Regel verpflichtet, den Zeugen noch einmal zu vernehmen, um sich einen unmittelbaren Eindruck zu verschaffen.
3) Der Tatrichter, der in der Würdigung von Zeugenaussagen grundsätzlich frei ist, kann Teilen einer Aussage folgen und gleichzeitig andere Bekundungen desselben Zeugen als unglaubwürdig oder widerlegt ansehen.
4) Für eine einwandfreie Würdigung der Sach- und Rechtslage bedarf es keines ausdrücklichen Eingehens auf jedes einzelne Vorbringen der Parteien oder jede einzelne Zeugenaussage und einer eingehenden Auseinandersetzung damit, sofern eine sachentsprechende Beurteilung überhaupt stattgefunden hat.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 5. November 1970
II ZR 91/68
(Rheinschiffahrtsobergericht Karlsruhe)
Zum Tatbestand:
Das der Klägerin gehörende MS N hatte linksrheinisch bei km 319,1 übernachtet und von dort aus Mitte Januar gegen 8.00 Uhr die Bergfahrt aufgenommen. Ihm entgegen kam das der Beklagten zu 1 gehörende, vom Beklagten zu 2 geführte MS B, welches die Drusenheimer Brücke (km 318,330) etwa in Fahrwassermitte zu Tal durchfuhr. Mit Blinklicht für eine Steuerbordbegegnung richtete MS N seinen Kurs in spitzem Winkel zu dem rechtsrheinischen badischen Grund. MS B erwiderte mit Typhon das Kurszeichen mit dreimaligem Steuerbordzeichen und richtete seinen Kurs ebenfalls zum badischen Grund. Bei km 318,6 stießen beide Schiffe Steven auf Steven zusammen und wurden beschädigt. An der Unfallstelle - zu Tal gesehen in einer Rechtsbiegung des Rheins - ist der Strom ca. 90 m breit.
Die Klägerin verlangt Ersatz ihres Schadens von ca. 50 000,- DM, weil MS B die rechtzeitige und erkannte Kursweisung des Bergfahrers ohne Grund mißachtet habe.
Nach der Darstellung der Beklagten haben sich beide Schiffe zunächst auf kollisionsfreiem Kurs befunden. MS N habe deshalb eine nach § 37 Nr. 2 RhSchPolVO (1954) verbotene Kursänderung vorgenommen, diese zu spät angezeigt und dem Talfahrer keinen geeigneten Weg freigelassen. Bei der Befolgung dieses Kurses hätte MS B seine Ruderlage plötzlich nach Backbord ändern müssen und wäre dadurch mit Sicherheit in den Hang verfallen.
Beide Vorinstanzen haben den Klageanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Die Revision der Beklagten blieb erfolglos.
Aus den Entscheidungsgründen:
1. Im einzelnen hat das Berufungsgericht zum Unfallhergang festgestellt:
MS N sei nach dem Ablegen von seiner linksrheinischen Übernachtungsstelle (km 319,1) in einem Abstand von 50 m vom elsässischen Ufer - etwa in Fahrwassermitte - zu Berg gefahren. Auch MS B habe den Kurs etwa Fahrwassermitte gehalten. Beide Schiffe hätten sich somit bei der Annäherung auf Kollisionskurs befunden. Deshalb habe das bergfahrende MS N nach § 38 Nr. 1 RhSchPVO (1954) einen kollisionsfreien Begegnungskurs weisen müssen.
Die Revision greift diese Feststellung mit Verfahrensrügen an. Diese sind nicht begründet.
a) Das Berufungsgericht stützt seine Feststellung über den Annäherungskurs der beiden Schiffe auf die Aussagen des im Verklarungsverfahren vernommenen Zeugen Z. (Lotse auf MS N). Die Revision rügt, das Berufungsgericht habe den Aussagen des genannten Zeugen nicht folgen dürfen, ohne zuvor nochmals den Zeugen B. (Wahrschauer auf der linksrheinisch bei km 318.520 gelegenen Station), dem das Rheinschiffahrtsgericht gefolgt sei, zu vernehmen (§ 398 ZPO). B. hatte im Verklarungsverfahren ausgesagt, MS N sei in einem Abstand von etwa 20-25 m vom elsässischen Ufer zu Berg gekommen.
Es ist zwar anerkannt, daß das Berufungsgericht, wenn es von der Würdigung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen durch das Gericht erster Instanz abweichen will, in der Regel verpflichtet ist, den Zeugen nochmals zu vernehmen, um sich einen unmittelbaren eigenen Eindruck zu verschaffen (BGH LM Nr. 2 und 3 zu § 398 ZPO). Das gilt jedenfalls dann, wenn dem Berufungs¬gericht kein anderes Beweismittel zur Verfügung steht als das Protokoll über die Zeugenvernehmung vor dem Erstinstanzlichen Gericht, es also keine weiteren vom Erstrichter nicht berücksichtigten Umstände, die für seine Auffassung sprechen könnten, anführen kann (BGH LM Nr. 3 zu § 398 ZPO = NJW 1964, 2414).
Im Streitfall hat sich jedoch das Rheinschiffahrtsgericht überhaupt nicht mit der Glaubwürdigkeit der von der Aussage B's abweichenden Bekundungen der Zeugen Z., W. und Br. befaßt. Es hat vielmehr ausdrücklich die Aussagen der letztgenannten Zeugen außer Betracht gelassen (Urteil Blatt 3 R und 4) und ist nur von der Aussage B's ausgegangen, weil dem Rheinschiffahrtsgericht dessen Angaben bereits genügen, um zu dem Ergebnis zu gelangen, die Beklagten hätten nicht bewiesen, daß die Annäherungskurse der Schiffe jede Gefahr eines Zusammenstoßes ausschlossen.
b) Der Revision ist auch nicht zu folgen, wenn sie vorbringt, das Berufungsgericht habe § 286 ZPO verletzt, weil es in der Frage des Uferabstandes des MS N der Aussage des Zeugen B. nicht gefolgt sei und sich stattdessen auf die Bekundung des Zeugen Z. gestützt habe, wogegen es andere Teile der Aussage des ausdrücklich als glaubwürdig bezeichneten Zeugen B. seiner Entscheidung zugrunde gelegt habe, wie es andererseits dem Zeugen Z. in anderen Punkten nicht gefolgt sei. Das Berufungsgericht habe hierfür zumindest eine einleuchtende Begründung geben müssen.
Der Tatrichter ist in der Würdigung von Zeugenaussagen grundsätzlich frei. Er kann Teilen einer Aussage folgen und gleichzeitig andere Bekundungen desselben Zeugen als unglaubwürdig oder widerlegt ansehen. Das Berufungsgericht hat auch begründet, warum es nicht dem Zeugen B., sondern Z. gefolgt ist. Es bezeichnet die Aussage des Zeugen Z. als präzise, die betreffende Bekundung B's dagegen als vage. Diese - wenn auch knappe - Beweiswürdigung genügt den Anforderungen des § 286 ZPO, denn sie läßt erkennen, daß eine sachgerechte Abwägung der abweichenden Aussagen stattgefunden hat (BGHZ 3, 162, 175).
2. Das Berufungsgericht stellt weiter fest, daß die beteiligten Schiffe 300 m voneinander entfernt waren, als MS N das - vom Talfahrer auch erkannte - Blinklicht für eine Steuerbordbegegnung gab. Nach den rechtsfehlerfreien Darlegungen des Berufungsgerichts war bei dieser Entfernung die Kursweisung des Bergfahrers so rechtzeitig, daß der Talfahrer die geforderte Steuerbordbegegnung noch ohne Gefahr durchführen konnte.
a) Ohne Erfolg rügt die Revision, das Berufungsgericht habe hier die Aussage des Zeugen Z. übergangen (§ 286 ZPO).
Das Berufungsgericht hat nicht gegen § 286 ZPO verstoßen, wenn es die Aussage des Zeugen Z. nicht ausdrücklich erörtert hat. Für eine einwandfreie Würdigung der Sach- und Rechtslage bedarf es keineswegs eines ausdrücklichen Eingehens auf jedes einzelne Vorbringen der Parteien oder jede einzelne Zeugenaussage und einer eingehenden Auseinandersetzung damit, sofern sich nur ergibt, daß eine sachentsprechende Beurteilung überhaupt stattgefunden hat (BGHZ 3, 162, 175). Letzteres ist im Streitfall aber ohne weiteres dem Zusammenhang der Entscheidungsgründe zu entnehmen.
b) Zu Unrecht sieht die Revision einen Widerspruch darin, daß das Berufungsgericht einerseits davon ausgeht, MS N sei in einem Uferabstand von 50 m - bei einer Fahrwasserbreite von 100 m unterhalb der Unfallstelle - zu Berg gekommen, andererseits aber ausführt, MS N habe bis zur Kollisionsstelle noch mindestens 70 m Flußbreite überwinden müssen. Mit der letzten Feststellung ist ersichtlich nicht die seitliche Entfernung quer über den Strom (Versetzung) gemeint, sondern die Entfernung, welche MS N in Schrägfahrtrichtung über den Strom noch bis zum Kollisionsort zurückgelegt hat.
3. Ohne Erfolg wendet sich die Revision gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, MS N habe dem Talfahrer einen geeigneten Weg (§ 38 Nr. 1 Satz 2 RhSchPVO [1954]) zur Vorbeifahrt an Steuerbord freigelassen.
Das Berufungsgericht führt hierzu aus: Infolge der Rechtsbiegung des Rheins sei die Strömung im Bereich der Unfallstelle zum linken Ufer hin gerichtet. Zum gefahrlosen Durchfahren des von MS N dem Talfahrer überlassenen Hanges habe dieser die Ruderlage nicht plötzlich nach Backbord ändern müssen. Vielmehr habe MS B die - wegen der Abtrift nach links - gebotene Steuerbordruderlage lediglich geringfügig nachlassen müssen.
Diese Ausführungen lassen keinen Rechtsfehler erkennen. Insbesondere konnte das sachkundige Rheinschiffahrtsobergericht die Frage, welche Ruderlage bei dem ständig vorkommenden Durchfahren einer allmählichen Stromkrümmung notwendig ist, ohne die Zuziehung eines Sachverständigen entscheiden.
Ohne Rechtsfehler verneint das Berufungsgericht ein Mitverschulden der Führung von MS „N.
1. Unstreitig hat MS N kein zusätzliches akustisches Kurszeichen gegeben. Ein solches Zeichen ist nach § 38 Nr. 4 RhSchPVO (1954) geboten, wenn zu befürchten steht, daß der Talfahrer die Kursweisung nach § 38 Nr. 2 oder Nr. 3 RhSchPVO (1954) nicht verstanden hat, oder wenn die Gefahr eines Zusammenstoßes droht.
a) Es steht fest, daß MS N eine rechtzeitige Kursweisung gegeben und entsprechend dieser Kursweisung einen klaren Backbordkurs zum badischen Grund hin eingeschlagen hat. Im Hinblick darauf durfte seine Führung erwarten, daß MS B die Kursweisung erkennen, befolgen und von dem - durch ein gegen § 39 Nr. 2 RhSchPVO (1954) verstoßendes Steuerbordkurszeichen erkennbar gemachten - Verlangen nach einem anderen Begegnungskurs auch ohne die Abgabe eines zusätzlichen Schallzeichens seitens MS N abgehen werde.
b) Das Unterlassen eines Schallzeichens wegen der Gefahr eines Zusammenstoßes war nicht unfallursächlich. Aus der Fahrweise des MS B wurde, wie das Berufungsgericht festgestellt hat, für MS N frühestens auf eine Entfernung von 80 m erkennbar, daß MS B die Kursweisung des Bergfahrers nicht befolgen werde. Auf eine derart kurze Entfernung hätte aber ein Schallzeichen seitens MS N den Unfall nicht mehr verhindern können.
2. Zutreffend hat das Berufungsgericht der Führung von MS N auch nicht als Mitverschulden angerechnet, daß sie keinen Versuch unternommen hat, die drohende Kollision durch eine Kursänderung abzuwenden.
a) Einmal, so führt das Berufungsgericht sinngemäß aus, sei zweifelhaft, ob eine Kursänderung des Bergfahrers, die vor der erst auf eine Entfernung von 80 m erfolgten Kursänderung des Talfahrers ohnehin nicht in Betracht gekommen wäre, die Kollision noch habe verhindern können.
Die Führung eines Schiffes trifft kein Mitverschulden, wenn sie in einer allein von einem anderen Schiff schuldhaft herbeigeführten Gefahrenlage im letzten Augenblick eine falsche Entscheidung trifft.
b) Rechtsirrig ist in diesem Zusammenhang die Auffassung der Revision, MS N habe Gegenmaßnahmen bereits bei Abgabe des ersten Steuerbordsignals seitens des MS B ergreifen müssen. Der Bergfahrer ist ebenso wie der Talfahrer an seine eigene Kursweisung gebunden. Nach § 37 Nr. 3 RhSchPVO (1954) darf er den von ihm festgelegten Kurs nicht mehr ändern, es sei denn, es läge der hier nach den Umständen nicht gegebene Ausnahmefall des § 5 RhSchPVO (1954) vor. Dem gesetzwidrigen Verlangen von MS B nach Änderung der erteilten Kursweisung brauchte MS N nicht nachzukommen."