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II ZR 79/70 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Entscheidungsdatum: 05.06.1972
Aktenzeichen: II ZR 79/70
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsatz:

Ein Bergfahrer verstößt gegen die allgemeine Sorgfaltspflicht eines Schiffers, wenn er bei einer durch Nebelfetzen auf 200 bis 150 m eingeschränkten Sicht einen Übergang macht, obwohl noch mit Talfahrt zu rechnen ist.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 5. Juni 1972

II ZR 79/70

(Rheinschiffahrtsgericht Mannheim; Rheinschiffahrtsobergericht Karlsruhe)


Zum Tatbestand:

Infolge einer Kollision in Strommitte bei Rhein-km 427 zwischen dem zu Tal fahrenden, bei der Klägerin versicherten Schleppboot W und dem zu Berg fahrenden MS L, das dem Beklagten zu 1 gehört und vom Beklagten zu 2 geführt wurde, ist SB W schwer beschädigt worden und gesunken. Vorher hatte das Motorschiff einen anderen Bergfahrer, das MS F, an dessen Steuerbordseite überholt.

Die Klägerin verlangt Ersatz des erstatteten Schadens von ca. 170000,- DM, weil der Beklagte zu 2 kurz unterhalb des Unfallortes trotz der durch Industrienebel hervorgerufenen schlechten Sicht einen Seitenwechsel vom linken zum rechten Ufer begonnen habe.

Die Beklagten behaupten demgegenüber, daß SB W mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei, ferner aus Unaufmerksamkeit den Bergfahrer zu spät bemerkt und dessen Weisung zur Steuerbordbegegnung nicht befolgt habe.
Beide Vorinstanzen haben den Klageanspruch dem Grunde nach zu 3/4 für gerechtfertigt erklärt. Auf die Revision der Parteien ist das Urteil aufgehoben und die Sache zur anderweiten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen worden.

Aus den Entscheidungsgründen:

Das Berufungsgericht wirft der Führung des MS L vor, in mehrfacher Hinsicht nautisch falsch gehandelt und dadurch die Kollision verursacht zu haben. So habe sie MS F nicht überholen dürfen, außerdem den Abschluß dieses Manövers fehlerhaft ausgeführt. Ferner habe sie es pflichtwidrig unterlassen, im Bereich der durch das Nebelfeld verminderten Sicht die Geschwindigkeit herabzusetzen und einen Ausguck aufzustellen.

Dabei beachtet das Berufungsgericht jedoch nicht, daß die Lage im Revier und die örtlichen Gegebenheiten es einem Bergfahrer ohne weiteres gestatteten, das 30 bis 40 m aus dem rechten Ufer fahrende MS F mit einem so großen Seitenabstand zu überholen, daß es trotz der Dunkelheit und möglicher Sichtverschlechterung durch Industrienebel zu keiner Gefährdung des Überholers, des zu Überholenden und etwaiger Talfahrer kommen konnte, sofern sich alle Fahrzeuge, wie es ihre Pflicht war, nautisch richtig verhielten.
Gegen diese Pflicht hat die Führung des MS L allerdings in mehrfacher Hinsicht verstoßen. So mußte sie, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, angesichts der Sichtverschlechterung auf 200 bis 150 m am Bug ihres rund 85 m langen Schiffes einen Ausguck aufstellen (§ 80 Nr. 1 Abs. 2 RheinSchPVO 1954). Ferner war sie, was das Berufungsgericht nicht erwogen hat, aus dem gleichen Grunde gehalten, Schallzeichen nach § 81 Nr. 1 RheinSchPVO 1954 zu geben. Das war um so notwendiger, weil die Talfahrt von dem Industrienebel überrascht worden sein konnte, da sich dieser „infolge aufkommender Luftströmungen minütlich ändern, d. h. plötzlich kommen, allerdings auch ebenso rasch verschwinden kann" (vgl. den Schlußbericht der Wasserschutzpolizei vom 14. Februar 1966 in den Beiakten Cs 581/66) und diese Erscheinung im Bereich der BASF in der Schiffahrt allgemein bekannt ist. Weiter oblag ihr wegen der eingeschränkten Sicht die Pflicht, die Geschwindigkeit herabzusetzen (§ 80 Nr. 1 Abs. 1 Satz 1 RheinSchPVO 1954), weil sie, wie das Berufungsgericht ersichtlich annimmt, bei einer Geschwindigkeit von 13 km/st vor einem auftauchenden Hindernis nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte (§ 80 Nr. 3 Satz 1 RheinSchPVO 1954). Schließlich durfte sie unmittelbar unterhalb und innerhalb des Nebelfeldes keinen Übergang machen. Denn mit Rücksicht auf die eigene - nicht unbeträchtliche - Geschwindigkeit, insbesondere aber auf die begrenzte Sicht erforderte es die allgemeine Sorgfaltspflicht eines Schiffers (§ 4 RheinSchPVO 1954), nicht in Schrägfahrt, sondern gestreckt zu fahren. Dadurch hätten von vornherein kreuzende Kurse mit der Talfahrt, die wegen der Sichtbehinderung ebenfalls gehalten war, jede Schräglage zu vermeiden, auf der im Unfallbereich gerade verlaufenden Stromstrecke verhindert und die Begegnung mit einem sich auf dem Kurs des Bergfahrers nähernden Talfahrer gefahrlos durchgeführt werden können.
Nun kann aber das nautisch falsche Verhalten der Führung des MS L nur dann eine Schadensersatzpflicht der Beklagten begründen, wenn dieses Verhalten die Kollision adäquat verursacht hat. Das hat das Berufungsgericht ohne weitere Begründung - auch für das Nichtaufstellen eines Ausgucks und für die von dem Bergfahrer eingehaltene Geschwindigkeit - bejaht. Die Revision der Beklagten meint, zumindest in diesem Punkte sei das angefochtene Urteil unrichtig. Denn, wenn MS L, wie das Berufungsgericht bei Prüfung des Mitverschuldens der Führung des SB W ausgeführt habe, das Blinklicht „so rechtzeitig gezeigt habe, daß der Talfahrer trotz der hohen Begegnungsgeschwindigkeit von mindestens 23 km/st (_ 363 m/min) auf die Kursweisung hätte eingehen können", so könne ein der Zeichengebung vorangegangenes Fehlverhalten des Bergfahrers für die Kollision nicht ursächlich geworden sein.
Daran ist richtig, daß dem Bergfahrer sein Fehlverhalten als ein für den Unfall kausales Verschulden nicht zuzurechnen wäre, wenn er trotz dieses Verhaltens das weiße Blinklicht dem Talfahrer so rechtzeitig gezeigt hätte, daß dieser die Kursweisung noch ohne Gefahr hätte befolgen können. Hingegen läge es anders, wenn der Talfahrer der Weisung des Bergfahrers, an seiner Steuerbordseite vorbeizufahren, zwar durch unverzügliche harte Ruder- und Maschinenmanöver gerade noch hätte nachkommen können, jedoch infolge der späten Wahrnehmbarkeit des weißen Blinklichts eine gefährliche Situation entstand, mit deren Bewältigung durch den Talfahrer nicht ohne weiteres gerechnet werden konnte. Denn eine solche Gefahrenlage, in die der Talfahrer nicht hätte hineingebracht werden dürfen, wäre eine adäquate Folge der Schrägfahrt des MS L gewesen. Indessen ist es nach dem angefochtenen Urteil unklar, ob das Berufungsgericht mit den Worten „die Führung des MS L habe so rechtzeitig Blinklicht gezeigt, daß der Talfahrer auf diese Kursweisung hätte eingehen können", die Möglichkeit einer gefahrlosen Begegnung zwischen dem Bergfahrer und dem (mit Rücksicht auf seine Größe sowie seine Ruder- und Maschinenanlage wendigen) SB W feststellen oder damit lediglich zum Ausdruck bringen wollte, der Talfahrer habe bei einem sofortigen nachdrücklichen Befolgen der Kursweisung des Bergfahrers eine kollisionsfreie Vorbeifahrt noch oder gerade noch schaffen können. So wirft das Berufungsgericht einerseits dem Talfahrer, weil er die Kursweisung des Bergfahrers nicht befolgt habe, grobe Fahrlässigkeit vor, was wohl dann berechtigt sein dürfte, wenn der Weg für eine gefahrlose Vorbeifahrt gewiesen war. Andererseits sieht sich das Berufungsgericht nicht imstande festzustellen, daß der Bergfahrer dem Talfahrer einen geeigneten - mithin gefahrlosen - Weg freigelassen hat, obwohl MS „Leopold Ronald" entsprechend seiner „rechtzeitigen" Kursweisung fuhr; außerdem bezeichnet es das Verhalten des Bergfahrer wegen der Schrägfahrt als besonders grob fahrlässig, wogegen erhebliche Zweifel bestehen dürften, wenn MS L nach der Kursänderung noch in der Lage gewesen sein sollte, SB W den Weg für eine gefahrlose Begegnung zu weisen.

Da es für die Frage des adäquaten Ursachenzusammenhanges zwischen dem nautisch falschen Verhalten des Bergfahrers und der Kollision darauf ankommt, ob der Talfahrer die Kursweisung des Bergfahrers ohne Gefahr oder nur mit Risiken hätte befolgen können, das angefochtene Urteil zu diesem Punkte aber unklar ist, bedarf es insoweit einer erneuten Erörterung der Sache durch das Berufungsgericht.

Die aufgezeigte Unklarheit nötigt zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils auch insoweit, als das Berufungsgericht ein Mitverschulden der Führung des SB W zu 1/4 angenommen hat. Denn die Schwere dieses Verschuldens, auf die es bei der nach §§ 92 BinnSchG, 736 HGB vorzunehmenden Abwägung allein ankommt, hängt nicht unerheblich davon ab, ob der dem Talfahrer gewiesene Begegnungskurs gefahrlos oder nicht frei von Risiken war.