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II ZR 66/71 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Schiffahrt)
Entscheidungsdatum: 21.05.1973
Aktenzeichen: II ZR 66/71
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Schiffahrt

Leitsätze:

Der Verantwortungsbereich eines Schiffs- oder eines Schleppzugführers wird durch die Annahme eines Lotsen nicht eingeschränkt. Begehen diese aber einen Fehler, weil sie der Lotse falsch beraten oder es pflichtwidrig unterlassen hat, sie auf eine schwierige Stelle hinzuweisen und die in diesem Zusammenhang zu treffenden Maßnahmen zu empfehlen, so ist ihr Verhalten entschuldigt, sofern sie die fehlerhafte Handlungsweise des Lotsen nicht erkennen konnten.

Bundesgerichtshof

Urteil

vom 21. Mai 1973

Zum Tatbestand:

Der bei der Klägerin versicherte und beladene Kahn G fuhr im Anhang des der Beklagten zu 1 gehörenden und vom Beklagten zu 2 geführten beladenen MS R auf dem Main bei Hochwasser zu Berg. Beim Passieren der Aschaffenburger Straßenbrücke geriet Kahn G vor der linken Öffnung, dem „Leinrittbogen", mit dem Hinterschiff zum linken Ufer, kam dadurch in eine starke Neerung, verfiel mit dem Vorschiff nach Backbord und stieß sodann mit dem Backbordvorschiff gegen den flußseitigen Pfeiler dieser Brückenöffnung. Beide Schiffe des Schleppzuges waren mit Mainlotsen besetzt.
Die Klägerin verlangt von den Beklagten als Gesamtschuldnern Ersatz des von ihr erstatteten Schiffsschadens von ca. 31 000,- DM, weil die Schleppkraft von MS R an diesem Tage wegen des Hochwassers nicht ausgereicht habe, um Kahn G sicher durch die linke Brückenöffnung zu ziehen.
Die Beklagten behaupten dagegen, daß Kahn G bei der Annäherung an die Brückenöffnung fälschlicherweise zum linken Ufer hingesteuert worden sei. Allein darauf beruhten die weiteren Folgen und der Anprall des Schiffes am Brückenpfeiler.
Schiffahrtsgericht und Schiffahrtsobergericht heben den Klageanspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Auf die Revision der Beklagten wurden diese Urteile aufgehoben, die Klage gegen den Beklagten zu 2 abgewiesen und die Klage gegen die Beklagte zu 1 dem Grunde nach nur zur Hälfte gerechtfertigt erklärt.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Brücke hatte zur Unfallzeit zwei Öffnungen für die Schiffahrt, Von diesen besaß die linke Öffnung, der Leinrittbogen, eine nutzbare Breite von etwa 17 m; durch sie musste bei Wasserständen von weniger als 220 am Pegel Obernau (Pegelstand zur Unfallzeit: 218) die Bergfahrt ihren Weg nehmen (§ 19 Nr. 1 -Ma- BinnSchSO 1966). Die Fahrwasserbreite der rechts neben dem Leinrittbogen liegenden Mittelöffnung der Brücke betrug rund 20 m; diese Öffnung war von der Talfahrt zu benutzen.
Die Fahrwasserverhältnisse im Brückenbereich waren für die Bergfahrt schon wegen der Lage des Leinrittbogens im linken Teil der Linkskrümmung des Mains und wegen der Enge seiner Öffnung nicht besonders gut. Außergewöhnlich schwierig gestalteten sie sich bei Hochwasser. Dieses bewirkte einmal, dass der Vorstau der Brückenpfeiler eine starke Neerung unterhalb der Brücke entstehen ließ, und zwar vor allem unterhalb des Leinrittbogens. Außerdem hatte das Hochwasser zur Folge, dass bei tief abgeladenen Bergfahrern, sobald ihr Hinterschiff in die enge Brückenöffnung kam, eine schlagartige Geschwindigkeitsverminderung bis zu einem vorübergehenden Stillstand der Fahrt eintreten konnte, weil sich in dieser Lage der Wasserzustrom zur Schiffsschraube verringerte. Deshalb schrieb § 19 Nr. 2 - Ma - BinnSchSO 1966 der Bergfahrt vor, bei Wasserständen von 220 und darüber am Pegel Obernau die Mittelöffnung der Brücke zu benutzen. Ferner stellte bei derartigen Wasserständen das Wasser- und Schiffahrtsamt Aschaffenburg der Bergfahrt kostenlos Schlepphilfe für das Durchfahren der Brücke zur Verfügung.
Das Berufungsgericht wirft dem Beklagten zu 2 vor, die Fahrt des Schleppzugs nicht rechtzeitig vor der Brücke abgebrochen zu haben, Das sei geboten gewesen, weil es - nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Sch. - am Unfalltag wegen des hohen Wasserstands nicht möglich gewesen sei, SK G nur mit Hilfe des MS R unfallfrei durch die Brücke zu ziehen. Der Beklagte zu 2 habe auch erkennen können, dass es bei der Brückendurchfahrt zu einer Beschädigung des SK G kommen werde; er habe die hohe Beladung der beiden Fahrzeuge seines Schleppzugs gekannt; außerdem habe er als erfahrener Benutzer des Mains zumindest Kenntnis von der Gefährlichkeit und der Unfallträchtigkeit bei der Durchfahrt durch den Leinrittbogen bei Hochwasser haben müssen. Nach Ansicht der Revision geht das Berufungsgericht bei diesen Ausführungen von der unzutreffenden Auffassung aus, SK G habe wegen der zur Unfallzeit herrschenden Strömungsverhältnisse zwangsläufig in die Neerung unterhalb des Leinrittbogens geraten müssen, seine Führung habe nicht die Möglichkeit gehabt, dis dadurch zu verhindern, dass sie bei der Annäherung an die Brücke die rechte Seite des Flusses angehalten habe. Insbesondere habe das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang unbeachtet gelassen, dass SK G - nach den Aussagen seines Schiffsführers M. und des die Kahnführung beratenden Mainlotsen D. - die rechte Seite des Flusses nicht nur ungenügend angehalten habe, sondern noch vor der Fahrtverminderung des MS R zum linken Ufer gesteuert worden und beim erstmaligen Losefallen des Strangs bereits aus der Hauptströmung heraus gewesen sei.
Das Berufungsgericht hat sich mit diesen Bekundungen befaßt. Wenn es trotzdem zu der Auffassung gelangt ist, ein falsches Nachsteuern des SK G sei nicht bewiesen, so läßt das keinen Rechtsfehler erkennen. (Wird ausgeführt.)
Die Revision ist weiter der Ansicht, auch wenn man mit dem Berufungsgericht davon ausgehe, dass die Fahrt des Schleppzuges vor der Brücke hätte abgebrochen werden müssen, so könne es jedenfalls nicht als schuldhaft angesehen werden, wenn der Beklagte zu 2 dies unterlassen habe. Hier sei nämlich zu dessen Gunsten zu berücksichtigen, dass die Bergfahrt zur Unfallzeit den Leinrittbogen noch habe benutzen müssen und die Lotsen auf beiden Fahrzeugen des Schleppzugs keine Bedenken gegen die Brückendurchfahrt erhoben hätten.
Der Angriff hat Erfolg. Allerdings wird der Verantwortungsbereich des Schiffs- oder des Schleppzugführers durch die Annahme eines Lotsen nicht eingeschränkt.
Denn, da der Lotse lediglich Berater des Schiffs- oder Schleppzugführers ist, ändert sich durch seine Tätigkeit an deren Stellung, insbesondere an ihrer Befehlsgewalt, nichts, und zwar auch dann, wenn der Lotse, wie es in der Binnenschiffahrt vielfach üblich ist, das Steuer des von ihm belotsten Fahrzeugs übernimmt. Es bleibt deshalb auch nach der Annahme eines Lotsen Sache des Schiff- oder des Schleppzugführers zu entscheiden, welcher Kurs genommen oder ob die Fahrt in einer bestimmten Lage abgebrochen werden soll. Ist die Entscheidung falsch, so geht dies grundsätzlich zu ihren Lasten. Jedoch kann ein Fehler zu entschuldigen sein, wenn sich der Schiffs- und Schleppzugführer bei der Entscheidung auf einen Rat oder eine, Angabe des Lotsen verlassen hat oder erwarten durfte, dass dieser auf eine besondere Lage oder die mit Rücksicht darauf zu treffenden Maßnahmen hinwies. Insoweit ist der Umstand von Bedeutung, dass der Lotse eine genaue Kenntnis der unter seiner Beratung zu durchfahrenden Strecke, insbesondere der Untiefen, der Strömungsverhältnisse oder bemerkenswerter Besonderheiten, besitzt, und wegen dieser Kenntnis von dem Schiffs- oder dem Schleppzugführer, die mit den örtlichen Verhältnissen vielfach nicht so vertraut sind, als Lotse angenommen wird. Man kann es deshalb einem Schiff- oder einem Schleppzugführer nicht zum Verschulden anrechnen, wenn sie sich in den mit der Lotstätigkeit zusammenhängenden Fragen auf den Lotsen verlassen, sofern dieser nicht erkennbar unzuverlässig ist oder für sie erkennbare Fehler begeht. So liegt es hier. Beide Fahrzeuge des Schleppzugs fuhren unter der Beratung je eines Mainlotsen. Keiner von ihnen hatte Bedenken gegen die Durchfahrt des Schleppzugs durch den Leinrittbogen geäußert, wie übrigens auch nicht Schiffsführer M. vom SK G, der nach dem nicht substantiiert bestrittenen Vortrag der Beklagten die mit dem Schleppzug auf dem Main zu durchfahrende Strecke ebenfalls gekannt hat. Da es gerade hier auf eine genaue Kenntnis des Fahrwassers, insbesondere der Strömungsverhältnisse im Brückenbereich, ankam, außerdem ein Lotse gehalten ist, den Schiffs- oder den Schleppzugführer auf alle Besonderheiten der zu durchfahrenden Strecke aufmerksam zu machen und ihnen die etwa zu treffenden Maßnahmen zu empfehlen (so ausdrücklich § 14 der Lotsenordnung für den Rhein zwischen Basel und Mannheim vom 15. Juni 1956), durfte der Beklagte zu 2 bei dem Schweigen der Lotsen davon ausgehen, dass sich die Durchfahrt durch den Leinrittbogen bei vorsichtigem Navigieren gefahrlos bewältigen ließ, zumal der Wasserstand am Pegel Obernau noch nicht jene Marke erreicht hatte, von der ab die Wasser- und Schiffahrtsverwaltung die Benutzung des Leinrittbogens durch die Bergfahrt für gefährlich hielt und ihr die Durchfahrt durch den Mittelbogen vorschrieb.

Den Beklagten zu 2 trifft demnach kein Verschulden daran, dass er die Fahrt des Schleppzugs nicht vor der Brückendurchfahrt abgebrochen hat.

Mit der Abweisung der Klage gegen den Beklagten zu 2 entfällt jedoch nicht die Haftung der Beklagten zu 1 für den infolge der Anfahrung des Brückenpfeilers durch SK G verursachten Schaden. Denn die Beklagte zu 1 hat nicht nur für ein schuldhaftes Verhalten ihres Schiffsführers einzustehen, sondern auch für jedes Verschulden des den Beklagten zu 2 beratenden Lotsen R. bei Ausübung seiner Lotstätigkeit (§ 3 BinnSchG). Diesem gereicht es aber zum Vorwurf, dass er den Beklagten zu 2 nicht auf die Strömungsverhältnisse im Brückenbereich hingewiesen und zum Abbruch der Fahrt geraten hat, obwohl es, wie das Berufungsgericht festgestellt hat, wegen dieser Verhältnisse nicht möglich war, SK G nur mit MS R unfallfrei durch den Leinrittbogen zu ziehen.
Die Haftung der Beklagten zu 1 aus § 3 BinnSchG ist allerdings auf das MS R und den Wert dieses Fahrzeugs beschränkt (§§ 4, 114 BinnSchG).

Der Vorwurf, pflichtwidrig nicht zu einem Abbruch der Fahrt des Schleppzugs vor der Brückendurchfahrt geraten zu haben, ist aber nicht nur dem Lotsen R. zu machen. Er trifft in gleicher Weise den Lotsen D. von SK G. Zwar hatte D. nur die Führung des Kahns und nicht den Beklagten zu 2 zu beraten. Da aber, wie festgestellt, ein unfallfreies Durchfahren des Leinrittbogens mit SK G zur Unfallzeit nicht möglich war, hätte er der Kahnführung zum Abbruch der Fahrt raten müssen, was diese sodann ihrerseits im Interesse der Sicherheit ihres Fahrzeugs von dem Beklagten zu 2 hätte verlangen müssen. Das Verschulden von D. geht zu Lasten der Interessenten des SK G. Diese können daher ihren Schaden von der Beklagten zu 1 nicht in vollem Umfange, sondern nur nach dem Verhältnis der Schwere des auf beiden Seiten obwaltenden Verschuldens ersetzt verlangen (§§ 92 BinnSchG; 736 Abs. 1 HGB). Da beide Lotsen der gleiche Vorwurf trifft, wiegt das auf jeder Seite obwaltende Verschulden gleich schwer.