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II ZR 33/73 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Entscheidungsdatum: 02.12.1974
Aktenzeichen: II ZR 33/73
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsätze:

1) Zum Beweiswert der Aussagen von unfallbeteiligten Besatzungsmitgliedern.

2) Der Schiffsführer eines im Schleppverband fahrenden, mit dem schleppenden Motorschiff gemeerten Schiffes darf einen vom Führer des Schleppverbandes eingeschlagenen vorschriftswidrigen Kurs nicht widerspruchlos hinnehmen, muß vielmehr die Änderung des Kurses verlangen. Er haftet für einen aus dem falschen Kurs entstandenen Kollisionsschaden unter der Voraussetzung, daß die pflichtwidrige Unterlassung der gebotenen Wahrschau für die Kollision ursächlich war.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 2. Dezember 1974

(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort; Rheinschiffahrtsobergericht Köln)

Zum Tatbestand:

Das von der Klägerin versicherte, beladene MS P stieß auf der Bergfahrt nachts gegen 23.45 Uhr im Benrather Bogen mit einem Talschleppverband zusammen, bestehend aus dem leeren TMS A des Beklagten zu 1 als Ausrüster, geführt vom Beklagten zu 2, und dem auf dessen Backbordseite gemeerten, der Beklagten zu 3 gehörenden und vom Beklagten zu 4 geführten leeren TMS R. Der Beklagte zu 2 war auch verantwortlicher Führer des gesamten Schleppverbandes.
Die Klägerin verlangt neben der Feststellung allen zukünftigen Schadens von den 4 Beklagten als Gesamtschuldner Ersatz des erstatteten Schadens von über 85 000,- hfl., weil der Schleppverband die Weisung des im linken Teil des Fahrwassers zu Berg fahrenden MS P zur Backbordbegegnung nicht befolgt, sondern nach Einschaltung des weißen Funkellichtes in einer Entfernung von 500 m mit Backbordkurs in den Kurs von MS P hineingefahren sei.
Die Beklagten bestreiten ein Verschulden und tragen vor, daß der Abstand des sich rechtsrheinisch nähernden Bergfahrers zum rechten Ufer für eine Hindurchfahrt des Schleppverbandes zu gering gewesen sei. In einer Entfernung von 800 bis 900 m habe TMS A durch Anleuchtung des rechten Ufers und des eigenen Schiffes auf den Schleppverband aufmerksam gemacht, bei einer Entfernung von 500 bis 600 m das Schallzeichen „Zwei kurze Töne" gegeben, das weiße Funkellicht eingeschaltet und den Kurs nach Backbord geändert in der Annahme, daß der Bergfahrer das Zeigen des weißen Funkellichtes vergessen habe. Dieser habe bei einem Abstand von nur noch 150-200 m den Kurs plötzlich nach Steuerbord geändert, was zu dem Zusammenstoß geführt habe.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Rheinschiffahrtsobergericht hat sie dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Die Revision der Beklagten zu 1 und 2 wurde zurückgewiesen. Die Revision der Beklagten zu 3 und 4 führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache zwecks anderweiter Verhandlung und Entscheidung, soweit zum Nachteil der Beklagten zu 3 und 4 entschieden worden war.

Aus den Entscheidungsgründen:

Befolgt, wie hier, ein Talfahrer entgegen der Vorschrift des § 6.04 Nr. 5 RheinSchPolVO 1970 nicht die nach § 6.04 Nr. 2 RheinSchPoIVO 1970 gegebene Weisung eines Bergfahrers, an Backbord vorbeizufahren, weil dieser ihm hierfür keinen geeigneten Weg freigelassen habe, so muß er - unabhängig von der Parteistellung im Prozeß - diese Behauptung beweisen (BGH, Urt. v. 26. 11. 1964 - II ZR 56/63, VersR 1965, 152, 153). Diesen Beweis haben die Beklagten nach Ansicht des Berufungsgerichts nicht erbracht. Zwar hätten die Zeugen M., B. und K., sämtlich von dem Schleppverband, in weitgehender Übereinstimmung angegeben, daß MS P hart rechtsrheinisch zu Berg gekommen sei. Demgegenüber habe jedoch die Besatzung des MS P bekundet, daß ihr Fahrzeug in der Mitte des Stromes zu Berg gefahren sei, was unter Berücksichtigung der amtlichen Fahrrinne im Unfallrevier bedeute, daß es sich im linksrheinischen Fahrwasser gehalten haben müsse. Angesichts dieser widersprechenden Aussagen der Besatzung der an der Kollision beteiligten Fahrzeuge habe „der erste Richter entsprechend der ständigen Rechtsprechung der Rheinschiffahrtsgerichte und des erkennenden Senats zutreffend festgestellt, daß es sicherlich nicht gerechtfertigt sei, den Aussagen der Besatzungsmitglieder des Schleppverbandes für sich allein gesehen einen höheren Beweiswert beizumessen, als denjenigen der Besatzung des MS P. Hinreichend objektive Anhaltspunkte, die geeignet wären, die Richtigkeit der von den Besatzungsangehörigen des Schleppverbandes gegebenen Darstellung des Unfallhergangs zweifelsfrei zu bestätigen, lägen - entgegen der Ansicht des Rheinschiffahrtsgerichts - aber nicht vor.
Die Revision greift diese Ausführungen mit Verfahrensrügen an. Sie kann damit keinen Erfolg haben:

a) Allerdings lassen es einige Wendungen in dem angefochtenen Urteil nicht ausgeschlossen erscheinen, daß das Berufungsgericht von dem Satz ausgegangen ist, den Aussagen von Besatzungsmitgliedern unfallbeteiligter Schiffe könne nur dann ein erheblicher Beweiswert beigemessen werden, wenn sie durch sonstige Beweise oder Beweisanzeichen mittelbar oder unmittelbar bestätigt werden. Darin läge ein Verstoß gegen § 286 ZPO (BGH, Urt. v. 30. 9. 1974 - II ZR 11/73, VersR 1974, 1196). Jedoch kann hier nicht außer acht gelassen werden, daß das Berufungsgericht trotz eines möglicherweise rechtlich falschen Ausgangspunktes in einer mehrseitigen Erörterung eine individuelle Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses der Beweisaufnahme vorgenommen hat, so daß es auch nicht richtig ist, soweit die Revision meint, das Berufungsgericht habe durch eine lediglich „pauschale Art" der Beweiswürdigung § 286 ZPO verletzt.

b) Zu den Rügen, die die Revision gegen einzelne Punkte der Beweiswürdigung erhoben hat, ist zunächst zu bemerken, daß sie in rechtlich unzulässiger Weise darauf hinauslaufen, an die Stelle der Ausführungen des Berufungsgerichts eine den Beklagten günstigere, jedoch nicht zwingende Beurteilung des Ergebnisses der Beweisaufnahme zu setzen. Außerdem ist einzelnen der Rügen entgegenzuhalten, daß es für eine einwandfreie Würdigung der Sach- und Rechtslage durch den Tatrichter keineswegs eines ausdrücklichen Eingehens auf jedes einzelne Vorbringen der Parteien oder jede Zeugenaussage oder jedes einzelne Beweismittel und einer ausdrücklichen Auseinandersetzung damit bedarf, sofern sich nur ergibt, daß eine sachentsprechende Beurteilung überhaupt stattgefunden hat (BGHZ 3, 162, 175). Das ist aber dem angefochtenen Urteil zu entnehmen.
Ist demnach zu Lasten des Schleppverbandes davon auszugehen, daß er der von MS „P" gegebenen Weisung, an Backbord vorbeizufahren, hätte nachkommen können, so ist, wie keiner weiteren Darlegung bedarf, in dem Nichtbefolgen dieser Weisung durch den Führer des Schlepverbandes ein schuldhafter, für die Kollision ursächlicher Verstoß gegen die Vorschrift des § 6.04 Nr. 5 RheinSchPolVO 1970 zu sehen. An der Schadensersatzpflicht des Beklagten zu 2 als Führer des Schleppverbandes und Schiffer des TMS „AB" sowie der Beklagten zu 1 als Ausrüsterin dieses Fahrzeugs kann daher kein Zweifel bestehen (§ 823 BGB; §§ 2, 3, 4, 92 - a. F. -, 114 BinnSchG; § 735 HGB).

Nicht ganz so liegt es hingegen hinsichtlich einer Schadensersatzpflicht der Beklagten zu 3 und zu 4.
Entgegen der Ansicht der Revision wird der Beklagte zu 4 nicht schon deshalb von jeder Verantwortung an der Kollision entlastet, weil sich der Kurs des von ihm geführten TMS „R" zwangsläufig aus dem Kurs des TMS A, an dessen Backbordseite sein Fahrzeug gemeert war, ergab. Denn auch dann hatte er alle Maßnahmen zu treffen, die für die sichere Führung seines Fahrzeugs geboten waren (§ 1.02 Nr. 5 Abs. 2 Satz 2 RheinSchPolVO 1970). Insbesondere war er verpflichtet, selbst die schiffahrtspolizeilichen Vorschriften zu beachten (vgl. BGH, Urt. v. 27. 3. 1958 - II ZR 338/56, LM Nr. 1 zu RheinschiffahrtspolizeiVO v. 24. 12. 1954 = VersR 1958, 392, 394). Führte deshalb der Kurs des TMS A dazu, daß auch sein Fahrzeug die Weisung des Bergfahrers, an der Backbordseite vorbeizufahren, nicht befolgen konnte, so durfte er diesen von dem Führer des Schleppverbandes eingeschlagenen Kurs nicht widerspruchslos hinnehmen. Vielmehr mußte er, wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, von ihm verlangen, daß er die Kursweisung des Bergfahrers befolgt. Das hätte durch Wahrschau von dem Steuerhaus seines Fahrzeugs aus geschehen können, weshalb er dieses - was in der gegebenen Lage nicht ungefährlich hätte sein können - nicht hätte zu verlassen brauchen. Zudem ist aus seinen Angaben im Verklarungsverfahren zu entnehmen, daß er zu TMS A Sprechfunkverbindung hatte, von dieser allerdings keinen Gebrauch machte. Auch spielt es keine Rolle, daß die Sicht gut und außerdem auf TMS A das Radargerät in Betrieb war. Denn von dem Augenblick an, in welchem der Führer des Schleppverbandes das weiße Funkellicht einschaltete und den Kurs nach Backbord änderte, mußte er, sofern dies nicht geschehen sein sollte, erkennen, daß dieser mit dem Verband der Kursweisung des Bergfahrers, an Backbord vorbeizufahren, nicht nachkommen, sondern unter Verstoß gegen § 6.04 Nr. 5 RheinSchPolVO 1970 eine Steuerbordbegegnung erzwingen wollte. Dabei geht - wie bei jedem Talfahrer - auch zu Lasten der Beklagten zu 3 und zu 4, daß es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme offen geblieben ist, ob der Bergfahrer dem Schleppverband einen geeigneten Weg freigelassen hat, und damit keine Umstände festgestellt werden konnten, die es dem Verband erlaubt hätten, die für ihn bindende Kursweisung des Bergfahrers nicht zu befolgen.

Demnach hat das Berufungsgericht dem Beklagten zu 4 zu Recht vorgeworfen, daß er dem vorschriftswidrigen Verhalten des Führers des Schleppverbandes nicht widersprochen und von ihm die Befolgung der Kursweisung des Bergfahrers nicht verlangt hat. Dieses pflichtwidrige Unterlassen des Beklagten zu 4 kann allerdings eine Schadensersatzpflicht der Beklagten zu 3 und zu 4 nur begründen, wenn es für die Kollision ursächlich war, es somit bei der gebotenen Wahrschau nicht zu dem Zusammenstoß gekommen wäre. Das wäre aber nur dann der Fall gewesen, wenn der Führer des Schleppverbandes auf eine Wahrschau des Beklagten zu 4 entsprechend reagiert hätte. Insoweit hat jedoch das angefochtene Urteil keine Feststellungen getroffen, obwohl es nach dem Verhalten des Führers des Schleppverbandes keineswegs auf der Hand liegt, daß er einer Wahrschau des Beklagten zu 4 nachgekommen wäre. Dieser Fehler nötigt zu einer Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit es zum Nachteil der Beklagten zu 3 und zu 4 erkannt hat, und - im Umfang der Aufhebung zu einer Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

Da nach dem Beweisergebnis davon auszugehen ist, daß MS P dem Schleppverband einen geeigneten Weg für die ihm gewiesene Backbordbegegnung freigelassen hat und entsprechend dieser Weisung nach Steuerbord ausgewichen ist, kommt ein ursächliches Verschulden des Schiffers von MS P an der Kollision nicht in Betracht, auch wenn er die Backbordschallzeichen des Schleppverbandes überhört hat. Denn auch diese hätten ihm nur verdeutlichen können, was für ihn bereits das weiße Funkellicht und der Backbordkurs des Schleppverbandes zum Ausdruck brachten, daß sich der Verband entgegen der ihm erteilten Kursweisung eine Steuerbordbegegnung erzwingen wollte.