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Leitsatz:
1) Zur Sogwirkung von überholenden Fahrzeugen: Die Fahrtüchtigkeit eines Schiffes kann nicht deshalb bezweifelt werden, weil es infolge einer zu nahen und schnellen Vorbeifahrt eines weitaus größeren Schiffes zu kentern droht.
2) Das Fehlen eines Schiffsattestes allein erbringt keinen Anscheinsbeweis für ein Mitverschulden der Führung des durch unsachgemäße Überholung in Gefahr gebrachten überholten Schiffes.
Urteil des Bundesgerichtshofes vom 14. Juni 1965
II ZR 248/63
(Rheinschiffahrfsgericht Duisburg-Ruhrort; Rheinschiffahrtsobergericht Köln)
Zum Tatbestand:
Das bei dem Kläger versicherte, zu Tal fahrende MS B wurde bei Köln-Rodenkirchen von dem der Beklagten zu 1 gehörenden, vom Beklagten zu 2 geführten leeren MS L überholt. Dabei brachen auf MS B die Decklaststützen, so dass die an Deck liegende Brikettladung in den Strom rutschte.
Der Kläger verlangt Erstattung der ersetzten Schäden mit der Behauptung, daß MS L, nachdem es das MS B zuerst auf dessen Backbordseite habe überholen wollen, wegen der begegnenden Bergfahrt kurz hinter diesem Schiff nach Steuerbord gegangen und bei hoher Fahrtstufe so nahe an MS B vorbeigefahren sei, dass dieses sich wegen der Sogwirkung nach vorne geneigt habe, auf Grund geraten und beschädigt sei. Infolge der erhaltenen Schlagseite sei Wasser in das Schiff gedrungen und die gut verstaute Ladung zum Teil in den Strom gerutscht.
Die Beklagten behaupten u. a., daß ihr Schiff vor MS B auf dessen Backbordseite mit 50 m Seitenabstand überholt habe. Erst als MS L schon mehrere 100 m entfernt gewesen sei, habe man die Querlage von MS B bemerkt, so daß ein Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Überholung nicht bestehen könne. Das Schiff habe kein Rheinschiffsattest besessen. Die nicht richtig abgestützte Decklast sei nicht ordnungsgemäß verstaut gewesen.
Die Vorinstanzen haben die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Die Revision der Beklagten blieb erfolglos.
Aus den Entscheidungsgründen:
„Das Berufungsgericht hat aufgrund der Beweisaufnahme festgestellt:
MS L habe mit einer Geschwindigkeit von 25 bis 30 km/h das MS B in einem Seitenabstand von weniger als 10 m an der Steuerbordseite überholt. Als „Luanda" soeben an B vorbeigewesen sei, habe MS B stark geschaukelt und den Kopf zum linken Ufer hingestreckt; es habe Grundberührung bekommen, wodurch seine Fahrt gebremst worden sei; die Deckladung sei ins Rutschen gekommen und nach Brechen der Abstützungen über Bord gegangen. Die Havarie sei allein auf die nautisch fehlerhafte Fahrweise von L zurückzuführen. Die Abstützungen der Decklast seien nicht zu schwach gewesen, sie hätten normalen Bewegungen des Schiffes standhalten können. Es sei ein Glück gewesen, dat3 die Decklaststützen gebrochen und die Deckladung in den Strom gerutscht sei, da andernfalls das Schiff gekentert und gesunken wäre.
Die Revision wendet sich im wesentlichen gegen die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts. Ihre Verfahrensrügen können den Bestand des angefochtenen Urteils nicht gefährden.
Mit Recht hat das Berufungsgericht in dem Verhalten des J Schiffsführers von „Luanda einen Verstoß gegen § 4 RhSchPVO gesehen. Er hat weiterhin gegen die Vorschrift des § 37 Nr. 4 RhSchPVO verstoßen.
Die Revision wendet sich gegen die Feststellung des Berufungsgerichts, die Stützen der Decklast seien nicht zu schwach gewesen. Sie beanstandet, daß das Berufungsgericht dem Antrag, zu diesem Punkt zwei Mitglieder der Schiffsuntersuchungskommission als sachverständige Zeugen zu vernehmen, nicht stattgegeben habe. Ob die Begründung, mit der das Berufungsgericht die Vernehmung der Zeugen abgelehnt habe, der rechtlichen Nachprüfung standhält, braucht nicht erörtert zu werden, da die Behauptung der Beklagten, die Stützen seien zu schwach gewesen, für die Entscheidung des Rechtsstreits unerheblich ist. Das Berufungsgericht ist mit dem gerichtlichen Sachverständigen, dem Schiffahrtsamf und der Wasserschutzpolizei zu der Überzeugung gekommen, das Schiff wäre gekentert und gesunken, wenn die Stützen dem durch die Steuerbordneigung des Schiffes hervorgerufenen Seitendruck der Ladung standgehalten hätten.
Nicht zugestimmt werden kann der Ansicht der Revision, ein Schiff sei nicht fahrtüchtig, wenn es durch die in nahem Abstand erfolgende Vorbeifahrt eines schnell fahrenden Fahrzeuges von der Größe des MS L zu kentern drohe. Im Gegensatz zu dem von der Revision angezogenen, durch Urteil des erkennenden Senates vom 15. Oktober 1959 II ZR 77/58 (VersR 1959, 985) entschiedenen Fall war im vorliegenden Fall die Decklast nicht zu hoch gewesen.
Das Fehlen des Schiffsattestes von B für den Rhein war nach Ansicht des Rheinschiffahrtsgerichts für die Havarie nicht ursächlich. Das Berufungsgericht, das offensichtlich der Ansicht des Erstrichters beigetreten ist, hat sich mit dieser Frage nicht ausdrücklich befaßt. Das Fehlen des Rhein-Attestes allein erbringt keinen Anscheinsbeweis für ein Mitverschulden der Schiffsführung von MS B.