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Leitsatz:
Zum Anscheinsbeweis, wenn ein Schleppkahn aus dem Kurs seines Bootes läuft.
(Klarstellung zu BGH II ZR 158/67 vom 13. 3.1969)
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 14. Juli 1969
II ZR 229/67
(Rheinschiffahrtsgericht DuisburgRuhrort; Rheinschiffahrtsgericht Köln)
Zum Tatbestand:
Der der Klägerin gehörende, beladene und von MS V zu Berg geschleppte Schleppkahn S stieß mit dem der Beklagten zu 1 gehörenden, vom Beklagten zu 2 geführten, beladenen Schleppkahn P, der von Boot J zu Tal geschleppt wurde, bei Rhein-km 750,0, zusammen.
Die Klägerin verlangt Ersatz ihres Schadens an S und des ihr abgetretenen Ladungsschadens in Höhe von insgesamt ca. 53 000,- DM, weil der Beklagte zu 2 das Ruder des SK P nicht richtig bedient habe und deshalb P nach Steuerbord ausgeschert sei.
Die Beklagten behaupten, daß das Ausscheren des SK P dadurch verursacht sei, daß das der Streithelferin gehörende MS D versucht habe, SK P während der Begegnung der beiden Schleppzüge an dessen Backbordseite mit ca. 25 km/Std. bei einem Seitenabstand von nur 30-35 m zu überholen. Der dadurch hervorgerufenen Sogwirkung des Überholers und des MS V habe SK P nicht erfolgreich begegnen können.
Das Rheinschiffahrtsgericht und das Rheinschiffahrtsobergericht haben die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Auf die Revision der Beklagten wurde das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
Bei der erneuten Verhandlung wird das Berufungsgericht, sofern es die Darstellung der Beklagten über den Unfallhergang nicht für bewiesen hält, besonders auf folgende Gesichtspunkte zu achten haben.
a) Läuft ein Kahn aus dem Kurs seines Bootes, so spricht grundsätzlich der Beweis des ersten Anscheins dafür, daß das Ausscheren durch fehlerhafte nautische Maßnahmen der Kahnführung, insbesondere durch falsche Bedienung des Ruders, verursacht worden ist (BGH VersR 1965, 510). Werden der Eigner oder der Führer eines Kahnes auf Ersatz von Schäden in Anspruch genommen, die im Zusammenhang mit dem Ausscheren des Schiffes entstanden sind, so obliegt es daher zunächst ihnen, die auf die allgemeine Lebenserfahrung gestützte tatsächliche Vermutung für das Vorliegen eines schuldhaften Verhaltens der Kahnführung durch den Nachweis der Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs zu entkräften (BGHZ 3, 169, 171). Hierfür genügt beispielsweise, daß sie das Vorliegen einer - durch besondere Wasser- oder Strömungsverhältnisse, durch die Vorbeifahrt eines oder mehrerer anderer Fahrzeuge oder durch das Zusammenspiel aller dieser Umstände hervorgerufenen - Druck- oder Sogwirkung beweisen, die geeignet ist, das Ausscheren des Kahnes zu verursachen. In einem derartigen Falle kommen sie allerdings ihrer Beweisführungspflicht nicht schon dadurch nach, daß sie das Vorhandensein irgendeines auf den Kahn im Zeitpunkt des Ausscherens wirkenden Druckes oder Soges nachweisen. Vielmehr muß es sich um solche Kräfte handeln, denen die Führung des Schiffes unter Berücksichtigung der gesamten Gegebenheiten mit nautischen Mitteln nicht oder nur schwer begegnen kann. Dies folgt aus der Überlegung, daß Druck- und Sogwirkungen, welche ohne weiteres auf nautischem Wege ausgleichbar sind, keine adäquate Ursache für das Ausscheren eines Kahnes darstellen. Denn derartige Kräfte sind im Hinblick auf die jedem Führer eines Kahnes geläufigen und von ihm regelmäßig angewendeten Gegenmaßnahmen erfahrungsgemäß nicht geeignet, das Auslaufen eines Kahnes herbeizuführen. Schert demnach ein Kahn in räumlichem oder zeitlichem Zusammenhang mit der Vorbeifahrt eines oder, wie im Streitfall, mehrerer anderer Fahrzeuge aus dem Kurs seines Bootes aus, so räumt dieser Umstand allein nicht den gegen die Kahnführung sprechenden Beweis des ersten Anscheins eines schuldhaften Verhaltens aus. Vielmehr ist hierzu erforderlich, daß die Kahnführung oder der beklagte Schiffseigner solche Umstände (Abstand, Geschwindigkeit, Form und Abladetiefe der einzelnen Fahrzeuge, Strömungsgeschwindigkeit und -richtung, Wasserstand) nachweist, aus denen sich die Möglichkeit für das Vorhandensein von Kräften ergibt, denen die Führung des Kahnes nicht oder nur schwer durch nautische Mittel begegnen konnte.
b) Der Senat hat in mehreren, dieselbe Kollision betreffenden Entscheidungen (VersR 1969, 656 f)2) u. a. ausgeführt, die Lebenserfahrung für sich allein biete regelmäßig keine Grundlage für die Annahme eines Verschuldens der Kahnführung, wenn ihr Schiff in räumlichem oder zeitlichem Zusammenhang mit dem Überholen eines anderen Fahrzeuges aus dem Ruder laufe. Dieser Satz bedarf der Klarstellung. Er geht von einem Schiffsunfall aus, bei dem auf dem Rhein ein zu Berg fahrender, teilweise abgeladener Kahn bei niedrigem Wasserstand zu einem Zeitpunkt aus dem Ruder gelaufen ist, in dem er einen schweren Schubverband überholte und seinerseits von einem großen, auf 2,8 m abgeladenen Motorschiff überholt wurde. Der Satz ist deshalb, wie auch dem Zusammenhang der einzelnen Entscheidungen zu entnehmen ist, dahin zu verstehen, daß unter den besonderen Umständen dieses Falles kein Anscheinsbeweis für ein Verschulden der Kahnführung spricht. Hingegen sollte damit nicht von dem in BGH VersR 1965, 510 ausgesprochenen Grundsatz (vgl. oben a) abgegangen werden."