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II ZR 205/74 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Schiffahrt)
Entscheidungsdatum: 09.12.1976
Aktenzeichen: II ZR 205/74
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Schiffahrt

Leitsätze:

1) Zur Frage, ob der Versicherer von Schiff oder Ladung Beteiligter der großen Haverei und des Dispacheverfahrens sein kann.

2) Sind Schiff und Ladung in eine gemeinsame Gefahr geraten, weil das erstere die Reise fahruntüchtig angetreten hat und deshalb gesunken ist, so ist es Sache des - eine Havereivergütung verlangenden - Schiffseigners zu beweisen, daß ihn oder die Besatzung an der anfänglichen Fahruntüchtigkeit des Schiffes kein Verschulden trifft.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 9. Dezember 1976

II ZR 205/74

(Landgericht Duisburg; Oberlandesgericht Düsseldorf)

Zum Tatbestand:

Das bei der Beklagten versicherte, mit einer der Klägerin gehörenden Erzladung beladene MS M sank auf der Fahrt von Rotterdam nach Dortmund bei Waal-km 874. Bei der Bergung des Wracks und des größten Teils der Ladung
entstanden Kosten in Höhe von ca. 91 000,- DM, wovon nach der über 3 Jahre späteren Dispache das Schiff etwa 50700,- DM und die Ladung ca. 40300,- DM tragen sollten.
Die Klägerin hat erfolglos Widerspruch vor dem Amtsgericht erhoben und diesen sodann mit der Klage verfolgt, weil der Eigner oder Schiffsführer das Sinken von MS M verschuldet hätten. Nach den Regeln des ersten Anscheins sei anzunehmen, daß die Reise in fahruntüchtigem Zustand des Schiffes angetreten sei.
Die Beklagte hat dieses Vorbringen bestritten. Das Schiff sei regelmäßig untersucht und fachmännisch gewartet worden. Ein Verschulden liege keinesfalls vor. Die Beklagte beruft sich gemäß den Konnossementsbedingungen auch auf die Freizeichnung von einem etwaigen schuldhaften Verhalten.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen; das Berufungsgericht hat den Widerspruch für begründet erklärt. Die Revision der Beklagten blieb ergebnislos.

Aus den Entscheidungsgründen:

„...
Nach § 156 Abs. 1 Satz 1 FGG hat der Widersprechende den Widerspruch, soweit er sich nicht in der Verhandlung über die Dispache erledigt hat (§ 155 Abs. 3 FGG), gegen diejenigen an dem Verfahren Beteiligten zu verfolgen, deren Rechte durch den Widerspruch betroffen werden. Als eine solche Beteiligte ist die Beklagte anzusehen. Zwar ist der Versicherer des Schiffes oder der Ladung grundsätzlich nicht an der großen Haverei beteiligt (Vortisch/Zschucke, Binnenschiffahrts- und Flößereirecht 3. Aufl. § 79 BSchG Anm. 3 und § 87 BSchG Anm. 2; Mittelstein, Das Recht der Binnenschiffahrt S. 335; Schaps/Abraham, Das deutsche Seerecht 3. Aufl. 2. Bd. § 702 Anm. 6) und kann deshalb grundsätzlich auch nicht Beteiligter des Dispacheverfahrens sein (Keidel/Winkler, FGG 10. Aufl. § 150 Rdnr. 6 und § 153 Rdnr. 5; Jansen, FGG 2. Aufl. § 150 Rdnr. 2; Schlegelberger, FGG 6. Aufl. § 150 Rdnr. 2; Schaps/Abraham a.a.O. Anhang zu § 739 Anm. 1 zu § 153 FGG). Jedoch ist es möglich, daß er im Wege der Rechtsnachfolge die Stellung eines Beteiligten an der großen Haverei ganz oder teilweise erlangt. Letzteres tritt ein, wenn ein Beteiligter seine Vergütungsansprüche an seinen Versicherer abtritt oder die Ansprüche auf diesen nach § 67 Abs. 1 Satz 1 VVG übergehen (vgl. Prölss/Martin, VVG 20. Aufl. § 67 Anm. 2). Das ist hier anzunehmen.
...
Es kann offen bleiben, ob vorliegend überhaupt ein Fall der großen Haverei im Sinne von § 78 Abs. 1, § 82 Nr. 3 Abs. 3 BinnSchG gegeben ist. Auch wenn man davon zu Gunsten der Beklagten ausgeht, ist der Widerspruch der Klägerin gegen die Dispache - und damit die Klage - begründet. Denn, wie das Berufungsgericht mit Recht angenommen hat, trifft den Eigner des MS M ein Verschulden an dem Sinken des Schiffes, so daß die Bestimmung des § 79 Abs. 2 BinnSchG zur Anwendung kommt, wonach der Beteiligte, der die gemeinsame Gefahr von Schiff und Ladung verschuldet hat, wegen der ihm entstandenen Schäden und Kosten keine Havereivergütung verlangen kann (vgl. auch Vortisch/Zschucke a.a.O. § 79 BSchG Anm. 5).

a) Zunächst ist es zutreffend, daß sich die Beklagte ein Verschulden des Eigners von MS M (wie auch der Besatzung - vgl. § 79 Abs. 3 BinnSchG) an dem Sinken des Schiffes nach §§ 404, 412 BGB entgegenhalten lassen muß, da sie, soweit es um dessen Vergütungsanspruch gegen die Klägerin geht, dessen Rechtsnachfolger ist (vgl. oben).

b) Weiter ist dem Berufungsgericht beizutreten, soweit es meint, es spreche ein Anscheinsbeweis dafür, daß MS M bei Antritt der Reise infolge eines Mangels in der Beschaffenheit des Schiffes fahruntüchtig gewesen und deshalb gesunken sei. Die gegenteilige Ansicht der Revision berücksichtigt nicht genügend, daß MS M noch am Tage des Reisebeginns ohne jeden äußeren Anlaß in einer normalen Fahrsituation untergegangen und dieser Vorfall auch nicht durch eine fehlerhafte Beladung - die übrigens ebenfalls die Fahruntüchtigkeit eines Schiffes bewirken kann - verursacht worden ist. Wenn aber ein Schiff unter solchen Umständen sinkt, so entspricht es der Lebenserfahrung, daß es wegen eines Mangels in seiner Beschaffenheit nicht in der Lage war, die gewöhnlichen Gefahren der Reise zu bestehen.

c) Diesen Anscheinsbeweis hat die Beklagte, wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat, nicht erschüttert. Sie hat keine Tatsachen behauptet, die die Möglichkeit einer anderen Ursache für das Sinken des MS M als einen Mangel in der Beschaffenheit des Schiffes aufzeigen. Daß MS M das Fahrtzeichen 1 des Binnenschiffahrtsbüros Hamburg besaß, letztmals vor dem Unfall am 4. Oktober 1967 (auf dem Wasser) untersucht worden ist, danach bis zu seinem Untergang keine Havarie oder Kollision hatte und seit der letzten Landuntersuchung anläßlich einer Überholung des Motors im Jahre 1966 zahlreiche Fahrten ohne Schwierigkeiten durchgeführt hat, genügt nicht, um die Möglichkeit einer anderen Schadensursache darzutun.
...

d) Das Berufungsgericht hat ein Verschulden des Eigners des MS M an dem Sinken des Schiffes angenommen, weil die Beklagte nicht bewiesen habe, daß diesen, ihren Rechtsvorgänger, kein Verschulden an der Fahruntüchtigkeit des Schiffes treffe. Dabei hat es nicht übersehen, daß die Klägerin nach allgemeinen Grundsätzen gehalten wäre, ein schuldhaftes Verhalten des Eigners (oder der Besatzung) des MS M darzutun und gegebenenfalls zu beweisen, da sie sich auf die Vorschrift des § 79 Abs. 2 BinnSchG zur Begründung ihres Widerspruchs gegen die Dispache beruft. Es meint jedoch, diese Grundsätze seien hier nicht anzuwenden, weil im Rahmen des § 79 Abs. 2 BinnSchG auch die Regelung des § 58 Abs. 1 BinnSchG gelte, wonach der Frachtführer für den Schaden haftet, welcher seit der Empfangnehme bis zur Ablieferung durch Verlust oder Beschädigung des Frachtguts entstanden ist, sofern er nicht beweist, daß der Verlust oder die Beschädigung durch Umstände herbeigeführt ist, welche durch die Sorgfalt eines ordentlichen Frachtführers nicht abgewendet werden konnten. Letzteres ist zutreffend (vgl. Prüssmann, Seehandelsrecht § 702 Anm. F 2 a; Schaps/Abra¬ham a.a.O. § 702 Anm. 7; Schlegelberger/Liesecke, Seehandelsrecht § 702 Rdnr. 4; Wüstendörfer, Neuzeitliches Seehandelsrecht 2. Aufl. S. 382; a. M. allerdings Vortisch/Zschucke a.a.O. § 79 BSchG Anm. 4). Jedoch kommt die Beweislastregelung des § 58 Abs. 1 BinnSchG hier nicht zum Zuge, weil sie den Schiffseigner nur in seiner Stellung als Frachtführer betrifft. Das war aber, was das Berufungsgericht nicht berücksichtigt hat, der Rechtsvorgänger der Beklagten nicht.
...
Dennoch ist dem Berufungsgericht im Ergebnis dahin beizutreten, daß die Beklagte das Nichtverschulden des Eigners (oder der Besatzung) des MS M an dem Sinken des Schiffes zu beweisen und diesen Beweis nicht erbracht hat.

aa) Es ist in der Rechtsprechung seit langem anerkannt, bei einzelnen vertraglichen, vorvertraglichen oder deliktischen Rechtsbeziehungen eine Verteilung der Beweislast nach Gefahrenbereichen vorzunehmen (BGHZ 27, 236, 238; 51, 91, 103ff.). Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß in den Fällen, in denen die Schadensursache aus dem Herrschafts- oder Organisationsbereich des Beklagten stammt, es dem geschädigten Kläger vielfach nur schwer oder überhaupt nicht möglich ist, ein Verschulden des Beklagten nachzuweisen, wogegen es für den letzteren regelmäßig leicht ist, seinen Herrschafts- oder Organisationsbereich zu überschauen, er somit „näher daran" ist, den Sachverhalt aufzuklären und die Folgen einer nicht vollständigen Aufklärung zu tragen (vgl. Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts 11. Aufl. 1. Bd. S. 303, 304). Von dieser besonderen Lage wird auch das Verhältnis zwischen dem Schiffseigner und dem Ladungseigentümer bestimmt, wenn das Schiff mit der Ladung infolge eines Mangels in der Beschaffenheit des Fahrzeugs gesunken ist. Hier liegt für den Ladungseigentümer oftmals ein „Beweisnotstand" vor, soweit es um die Frage eines Verschuldens des Schiffseigners oder der Besatzung geht, wogegen dieser aufgrund seiner Herrschafts- und Organisationsgewalt über das Schiff die Verschuldensfrage in aller Regel klären kann, und sofern ihm das einmal nicht möglich ist, jedenfalls „näher daran" ist, die Folgen der Nichtaufklärbarkeit zu tragen. In solchen Fällen ist es daher Sache des beklagten Schiffseigners, seine Schuldlosigkeit und die der Besatzung zu beweisen. Er wird damit entsprechend dem Frachtführer behandelt, der, wie bereits erwähnt, nach § 58 Abs. 1 BinnSchG im Verhältnis zu dem Absender und, soweit die Rechte aus dem Frachtvertrag auf den Empfänger oder einen Dritten übergegangen sind (vgl. Vortisch/Zschucke a.a.O. § 58 BSchG Anm. 4 a), zu diesem sein Nichtverschulden beweisen muß. Diese Regelung (vgl. auch § 559 Abs. 2, § 606 Satz 2 HGB) zeigt, daß der Gesetzgeber die dort bestehende gleiche Interessenlage in der gleichen Weise gelöst hat.

bb) Nun meint allerdings die Revision, im Streitfall stehe der Inhalt der Verlade- und Transportbedingungen der Frachtführerin der Annahme entgegen, daß die Beklagte die Schuldlosigkeit ihres Rechtsvorgängers (oder der Besatzung des MS M) an dem Sinken des Schiffes zu beweisen habe. Das ist nicht richtig. Abgesehen davon, daß die genannten Bedingungen keine klare und eindeutige Regelung dahin enthalten, daß die Ladungsinteressenten stets das Verschulden des Schiffseigners oder der Besatzung zu beweisen haben, wäre es nach Ansicht des Senats rechtlich nicht zulässig, ihnen in den allgemeinen Geschäftsbedingungen des Frachtführers die Beweislast dafür aufzubürden, daß der Schiffseigner oder die Besatzung an der anfänglichen Fahruntüchtigkeit des Schiffes ein Verschulden trifft, weil es sich bei den zu beweisenden Tatsachen um Vorgänge handelt, die sich im Verantwortungsbereich des Transportunternehmens abspielen, in dessen Obhut das Beförderungsgut steht (BGH, Urt. v. 13. 3. 69 - II ZR 58/67, LM Allg. Geschäftsbedingungen Nr. 30 = Vers13 1969, 511, 513).

cc) Das Berufungsgericht hat ohne Verfahrensverstoß angenommen, daß die Beklagte die Schuldlosigkeit ihres Rechtsvorgängers oder der Besatzung des MS M nicht bewiesen hat. Soweit die Revision demgegenüber auf die verschiedenen früheren Untersuchungen dieses Schiffes und die zahlreichen, von ihm einwandfrei durchgeführten Reisen verweist (vgl. oben Ziff. 2 c), genügt das nicht, um jedwedes Verschulden des Rechtsvorgängers der Beklagten oder der Besatzung an dem Untergang des MS M auszuschließen. Hierfür wäre erforderlich gewesen darzutun, was für ein Mangel in der Beschaffenheit des MS M das Sinken bewirkt hat und daß dieser Mangel trotz der Sorgfalt eines ordentlichen Schiffseigners oder -führers nicht zu entdecken war. Daran fehlt es aber.
...“