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II ZR 195/77 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Schiffahrt)
Entscheidungsdatum: 02.04.1979
Aktenzeichen: II ZR 195/77
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Schiffahrt

Leitsatz:

Zur Frage, ob ein Versicherungsverein a. G den für ein Seeschiff taxierten Versicherungswert aufgrund seiner Allgemeinen Versicherungsbedingungen auch noch nach Eintritt des Versicherungsfalles herabsetzen kann, wenn die Taxe den wirklichen Wert des Schiffes nicht unerheblich übersteigt.

Urteil des Bundesgerichtshofes vom 2. April 1979

 II ZR 195/77

 (Landgericht Hamburg; Oberlandesgericht Hamburg)


Zum Tatbestand:

Das beim Beklagten ab 29. 6. 1969 mit 640000,- DM versicherte MS „R" des Klägers, der Mitglied des Beklagten, des führenden Versicherers mehrerer Versicherungsvereine a. G. ist, war am 11. 10. 1972 in der Themsemündung gesunken.

Der Beklagte hatte 480000,- DM nach der Abandonerklärung an den Kläger gezahlt, der jedoch den Rest der Versicherungssumme von 180 000,- DM verlangt, weil der Wert des Schiffes bei Eintritt des Versicherungsfalls dem vollen Taxwert entsprochen habe.
Der Beklagte bestreitet dies; außerdem habe er dieVersicherungssumme schon am 1. 10. 1972 auf den Betrag von 480000,- DM herabgesetzt und den Kläger mit Schreiben vom 29. 9. 1972 hiervon in Kenntnis gesetzt. Der Kläger will erst im November 1972 eine Ablichtung dieses Schreibens erhalten haben.

Beide Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Auf Revision des Klägers ist das Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen worden.

Aus den Entscheidungsgründen:

„...
Das Berufungsgericht hat offengelassen, ob der Beklagte dem Kläger die Herabsetzung des Taxwertes des MS „R" von 640000,- DM auf 480000,- DM vor Eintritt des Versicherungsfalls oder erst danach mitgeteilt hat. Im Revisionsrechtzug ist deshalb zugunsten des Klägers zu unterstellen, daß ihm eine derartige Mitteilung des Beklagten erst nach dem Verlust des MS „R" zugegangen ist. Das ist für die Entscheidung über den Klageanspruch jedoch ohne Bedeutung. Denn mit dem Berufungsgericht ist davon auszugehen, daß der Beklagte nach § 6 Abs. 2 Satz 2 AVB berechtigt war, den Taxwert des MS „R" noch nach Eintritt des Schadensereignisses herabzusetzen.
...
a) Nach § 795 Abs. 1 HGB „gilt als Versicherungswert des Schiffes, wenn die Parteien nicht eine andere Grundlage für die Schätzung vereinbart haben, der Wert, welchen das Schiff in dem Zeitpunkt hat, in welchem die Gefahr für den Versicherer zu laufen beginnt" (ähnlich § 70 ADS). Die Vorschrift geht von dem in der Seeversicherung seit langem geltenden Satz „von der Unwandelbarkeit des Versicherungswerts" aus (vgl. Hagen, Seeversicherungsrecht 1938 S. 155; für die Binnenschiffsversicherung vgl. § 141 Abs. 1 VVG, aber auch § 22 Abs. 1 Satz 1 Flußkasko-Police), ist aber nicht zwingend. Es verstößt danach nicht gegen § 795 Abs. 1 HGB, daß § 6 Abs. 2 Satz 2 AVB den Gilden die Befugnis einräumt, „den Versicherungswert auch von sich aus neu festzusetzen, wenn im Laufe des Versicherungsverhältnisses der wirkliche Wert durch (bestimmte) Umstände oder durch Alter und Abnutzung vom Versicherungswert nicht unerheblich abweicht".

b) Nach § 793 Abs. 2 Halbsatz 1 HGB kann der Versicherer eine Herabsetzung des Taxwertes fordern, wenn dieser wesentlich übersetzt ist (vgl. auch § 6 Abs. 2 Satz 2 ADS). Die Vorschrift macht deutlich, daß trotz der Regelung des § 795 Abs. 1 HGB auch auf dem Gebiete der Seeversicherung das versicherungsrechtliche Bereicherungsverbot (vgl. § 55 VVG) jedenfalls insoweit durchgreifen kann, als es zu keiner wesentlichen Bereicherung des Versicherungsnehmers kommen soll (vgl. auch Hagen aaO S. 84 und 154). Dieser Gedanke läßt sich aber nur dann voll verwirklichen, wenn die Herabsetzung des Taxwerts auch noch nach Eintritt des Versicherungsfalls verlangt und durchgesetzt werden kann (ebenso Ritter/Abraham, Das Recht der Seeversicherung, 2. Aufl., § 6 Anm. 34; vgl. auch Bruck/Möller, VVG 8. Aufl., § 57 Anm. 39, sowie Prölss/Martin, VVG 21. Aufl., § 57 Anm. 2).
...
c) § 6 Abs. 2 Satz 2 AVB enthält, sieht man einmal von der einseitigen Herabsetzungsbefugnis der Gilden ab, praktisch die gleiche Regelung wie § 793 Abs. 2 Halbsatz 1 HGB. Aus dieser Sicht bestehen keine Bedenken gegen die Aufnahme der Klausel in die AVB der Gilden. Auch ist ihr Inhalt nicht, wie die Revision meint, einschränkend dahin auszulegen, daß sie den Fall einer Herabsetzung des Tatwerts nach Eintritt des Versicherungsfalls nicht umfaßt. Denn die Klausel will - wie § 793 Abs. 2 Halbsatz 1 HGB - eine nicht unerhebliche Bereicherung eines Versicherungsnehmers verhindern.
...
d) Entgegen der Ansicht der Revision kann die Befugnis der Gilden, den Taxwert einseitig herabzusetzen, ebenfalls nicht zur Unwirksamkeit der streitigen Klausel führen. Die Regelung hat den Zweck, langwierige Streitigkeiten mit einem einzelnen Versicherungsnehmer über die Anpassung des Taxwerts an den wirklichen Wert des Schiffes zu vermeiden. Das liegt im Interesse aller Gildenmitglieder. Ferner ist zu diesem Punkt bedeutsam, daß die (erneute) Wertfestsetzung, wie noch näher auszuführen sein wird, an die Festsetzungsregelung des § 6 Abs. 1 AVB („Der Versicherungswert des Schiffes einschließlich Motors, Ausrüstung, Inventar und Zubehör wird unter Berücksichtigung der vom Antragsteller angegebenen Werte und der Anschaffungspreise von der alleinversichernden oder führenden Gilde als verbindliche Werttaxe nach den waren Wertverhältnissen festgesetzt") gebunden und für den Versicherungsnehmer nur dann verbindlich ist, wenn sie sich unter Berücksichtigung des bei der Schätzung auszuübenden billigen Ermessens in einem dem wirklichen Schiffswert noch entsprechenden Rahmen hält.

e) Richtig ist, daß die Herabsetzung des Taxwerts nach § 6 Abs. 2 Satz 2 AVB wegen der Regelung des § 6 Abs. 4 AVB („Die Versicherungssumme ist gleich dem Versicherungswert") zugleich die Versicherungssumme und damit die Höhe des Versicherungsschutzes gegen Haftpflichtansprüche sowie gegen Ansprüche aufgrund einer Wrackbeseitigung betrifft (vgl. § 13 Abs. 1 und 2 AVB). Das ist jedoch nur die Folge davon, daß nach dem Versicherungsverhältnis auch dieser Schutz an den - in der Regel nicht gleichbleibenden - Schiffswert anknüpft. Selbst wenn aber insoweit Bedenken gegen eine Herabsetzung des Taxwerts nach Eintritt eines Haftungsfalles bestehen sollten, könnten diese den Bereich der Versicherung des Schiffskaskos nicht berühren und insbesondere nicht dazu führen, dem Versicherungsnehmer eine nicht unerhebliche Bereicherung im Rahmen dieser Versicherung zu verschaffen.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hatte MS „R" bei Eintritt des Versicherungsfalls im Oktober 1972 keinen höheren Wert als 480 000,- DM. Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Betrag von dem bei Abschluß des Versicherungsvertrages im Juli 1969 auf 640 000,- DM taxierten Wert des Schiffes „nicht unerheblich" abwich. Aus dieser Sicht bestehen daher keine Bedenken gegen die Herabsetzung des Taxwerts durch den Beklagten von 640000,- DM auf 480 000,- DM. Jedoch rügt die Revision mit Grund, daß die Feststellungen des Berufungsgerichts über den - verminderten - wahren Wert des MS „R" verfahrensrechtlich fehlerhaft sind.
...
Die Sache bedarf deshalb zu diesem Punkt weiterer Prüfung durch das Berufungsgericht.
...

Zwei Bemerkungen erscheinen insoweit angezeigt:

a) § 6 Abs. 1 AVB (vgl. oben unter d) bestimmt, welche Gesichtspunkte für die Berechnung des Versicherungswerts maßgebend sind. Dafür, daß im Falle einer Neufestsetzung der Taxe etwas anderes gelten soll, besteht kein Anhalt. Demnach kommt es für die Ermittlung des Versicherungswerts des MS „R" nicht auf den mutmaßlichen Verkaufswert des Schiffes im Oktober 1972, sondern auf den Anschaffungspreis für ein gleichwertiges Fahrzeug (Wiederbeschaffungswert) an.


b) Die Regelung des § 6 Abs. 3 AVB, wonach „die Wertfestsetzungen der Gilden verbindlich sind, sofern sie nicht offenbar unbillig sind", räumt den Gilden ohne vernünftigen Grund einen unangemessen weiten Schätzungsspielraum ein. Sie ist daher nach Treu und Glauben sowie mit Rücksicht auf den Grundgedanken des § 315 BGB dahin einzuschränken, daß die Festsetzung für den Versicherungsnehmer nur dann verbindlich ist, wenn der anhand der Vorschrift des § 6 Abs. 1 AVB nach billigem Ermessen bestimmte Versicherungswert sich in einem dem wirklichen Schiffswert noch entsprechenden Rahmen hält. Auch ist die Nachprüfung der Wertfestsetzung nicht, wie das Berufungsgericht angenommen hat, aus vereinsrechtlichen Gesichtspunkten beschränkt. Denn die Festsetzung betrifft das Versicherungsverhältnis, hingegen nicht das vereinsrechtliche Mitgliedschaftsverhältnis des Versicherungsnehmers."