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II ZR 178/68 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Schiffahrt)
Entscheidungsdatum: 10.12.1970
Aktenzeichen: II ZR 178/68
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Schiffahrt

Leitsätze:

1) Ein Schiffahrtsobergericht kann aus eigener Sachkunde - ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen - entscheiden, daß ein freibleibender Raum von 9-10 m bei Dunkelheit als unzweifelhaft hinreichend für eine alltäglich vorkommende Begegnung in einem Schleusenvorhafen nicht angesehen werden kann.

2) Unter Fahrwasserenge i. S. des § 41 BSchSO ist nur eine von Natur aus bestehende Verengung des Fahrwassers zu verstehen. Wird dies durch stilliegende Schiffe so verengt, daß unzweifelhaft hinreichender Raum für die Vorbeifahrt nicht vorhanden ist, so gelten nicht § 41, sondern §§ 37-40 BSchSO. Ob dabei eine Wartepflicht für den Bergfahrer oder den Talfahrer besteht, ergibt sich aus §37 Nr.1 in Verbindung mit §§ 4,38 Nr. 1 Abs. 1 BSchSO.

3) Zur Frage des nautisch falschen Verhaltens als Maßnahme des letzten Augenblicks.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 10. Dezember 1970

II ZR 178/68

(Schiffahrtsgericht Mannheim; Schifffahrtsobergericht Karlsruhe)

Zum Tatbestand:

Das leere, bei der Klägerin versicherte MS P hatte am 7. Mai 1963 gegen 21.30 Uhr talwärts nach MS W die rechte (wasserseitige) Kammer der Schleuse Heidelberg verlassen. Zur gleichen Zeit lagen im Unterwasser der Schleuse am linken Ufer MS R und unterhalb SK S. Außerdem näherte sich bergwärts das beladene, den Beklagten gehörende, vom Beklagten zu 3 geführte SK S, welches auf den Startplatz des Vorhafens vorfahren wollte. MS P geriet bei der Vorbeifahrt zunächst mit seinem Steuerbordvorschiff gegen den ca. 32 m unterhalb des Kopfes der rechten Leitmauer des Vorhafens stehenden Dalben und sodann mit dem Backbordvorschiff gegen das Backbordhinterschiff von MS K.
Die Klägerin verlangt Ersatz des dem Eigner erstatteten Schadens an P in Höhe von ca. 20 500,- DM und behauptet, daß MS K beim Umfahren des stillliegenden R zu weit nach Backbord gekommen sei und dem MS P keine ausreichende Durchfahrtsbreite gelassen habe.
Die Beklagten bestreiten ein Verschulden. Es sei genügend Raum für die Begegnung vorhanden gewesen, da MS K bei der Vorbeifahrt von P in einem Seitenabstand von 0,5 m neben MS R vorübergehend stillgelegen habe.
Das Schiffahrtsgericht hat die Klage zu 2/3 dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Das Schiffahrtsobergericht hat ihr in vollem Umfang stattgegeben. Die Revision der Beklagten blieb erfolglos.

Aus den Entscheidungsgründen:

1. Nach § 37 Nr. 1 BSchSO ist eine Begegnung nur gestattet, wenn das Fahrwasser unter Berücksichtigung aller örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs unzweifelhaft hinreichend Raum für die Vorbeifahrt gewährt.

a) Das Berufungsgericht hat aus den von ihm getroffenen Feststellungen über die vorhandene Durchfahrtsbreite und der Breite der beteiligten Schiffe unter Berücksichtigung der bei Dunkelheit einzuhaltenden Sicherheitsabstände rechtlich fehlerfrei ermittelt, daß die Voraussetzungen der genannten Bestimmung für eine Begegnung im Bereich der Engstelle nicht gegeben waren.

b) Die Frage, ob ein freibleibender Raum von insgesamt 9-10 m bei Dunkelheit als unzweifelhaft hinreichend für eine alltäglich vorkommende Begegnung in einem Schleusenvorhafen angesehen werden kann, konnte das Schifffahrtsobergericht aus eigener Sachkunde entscheiden. Entgegen der Rüge der Revision brauchte es das hierzu beantragte Sachverständigengutachten nicht zu erheben.

2. Ohne Erfolg wendet sich die Revision gegen die Annahme des Berufungsgerichts, MS K habe die Vorbeifahrt der Talfahrer unterhalb der Stillieger abwarten müssen. Sie ist der Auffassung, eine Wartepflicht hätte sich für den Bergfahrer nur ergeben können, falls die durch MS R und den Dalben gebildete Engstelle als Fahrwasserenge im Sinne des § 41 BSchSO anzusehen sei, was das Berufungsgericht zu Recht verneint habe. Unter Fahrwasserenge i. S. des § 41 BSchSO ist nur eine von Natur aus bestehende Verengung des Fahrwassers zu verstehen. Wird dagegen das Fahrwasser durch stilliegende Schiffe so verengt, daß unzweifelhaft hinreichender Raum für die Vorbeifahrt nicht vorhanden ist, dann gelten für das Begegnen nicht § 41, sondern §§ 37 bis 40 BSchSO (BGH VersR 66, 57). Aus § 37 Nr. 1 BSchSO allein ist allerdings nicht zu entnehmen, ob der Bergfahrer oder aber der Talfahrer an einer durch Stillieger verengten Stelle, die eine Durchfahrt nur für eines der begegnenden Schiffe erlaubt, wartepflichtig ist. Im Streitfall ergab sich eine Wartepflicht für MS K jedoch aus § 37 Nr. 1 BSchSO in Verbindung mit §§ 4, 38 Nr. 1 Abs. 1 BSchSO. Als Bergfahrer mußte MS K dem Talfahrer einen geeigneten, also insbesondere gefahrlosen Weg für die Begegnung freilassen. Hinzu kommt, daß die Stillieger in der von MS K benutzten linken Fahrwasserhälfte lagen. In einem solchen Falle muß der Bergfahrer, dem auf seiner Fahrwasserseite der Weg durch Stillieger versperrt ist, dem Talfahrer die Vorfahrt lassen (Vgl. BGH VersR 66, 57).

3. Das Berufungsgericht stellt fest, daß MS K während der Vorbeifahrt an MS R mit seiner Backbordseite 10 bis 12 m von der rechten Leitmauer des Schleusenvorhafens entfernt gewesen sei. Es legt dieser Feststellung die Angaben des Schiffsführers von MS K zugrunde, was verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden ist. Hieraus ergibt sich folgerichtig ein - von der Revision als nicht festgestellt gerügter - Abstand von 6.60 bis 8,60 m zwischen der Steuerbordseite von MS K und der Backbordseite von MS R (unter Berücksichtigung der Breiten dieser Schiffe von je 8,20 m bei einer Gesamtfahrwasserbreite von 35 m). Entgegen dem weiteren Revisionsangriff ist damit gleichzeitig ein zu dichtes Ankommen an MS P rechtlich fehlerfrei festgestellt.
Im Gegensatz zum Schiffahrtsgericht hat das Berufungsgericht dem Talfahrer, dessen Schiffsführer den Abstand seines Schiffes zu MS K im Zeitpunkt des Anpralls an den Dalben mit 3 bis 5 m angegeben hat, nicht als Mitverschulden angerechnet, daß er den Bergfahrer nicht näher angehalten hat. Nach der rechtlich unbedenklichen Auffassung des Berufungsgerichts handelte es sich bei dem Entschluß der Führung von MS P, über die Fahrwassergrenze nach Steuerbord auszuweichen, um einen Kopf-vor-Kopf-Zusammenstoß zu vermeiden, um eine durch das nautisch falsche Verhalten des Bergfahrers veranlaßte Maßnahme des letzten Augenblicks, die auch dann, wenn sie falsch war, als schuldlos anzusehen ist. Das gegenteilige Vorbringen der Revision, der Talfahrer habe schon frühzeitig die Lage im Revier überblicken können, so daß von einer Maßnahme des letzten Augenblicks nicht gesprochen werden könne, beachtet nicht hinreichend, daß die Führung von MS P zunächst nicht damit zu rechnen brauchte, der Bergfahrer werde seiner Wartepflicht nicht nachkommen und zudem nach der verbotswidrigen Einfahrt in die Engstelle zu weit nach Backbord abkommen.