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Leitsatz:
Eine Fahrwasserenge bzw. Stromenge im Sinne des § 41 RhSchPVO und BSchSO entsteht nicht dadurch, dass wegen in Fahrt befindlicher, vor Anker liegender oder am Lande festgemachter Fahrzeuge das Fahrwasser unzweifelhaft hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt nicht gewährt. In diesen Fällen gelten vielmehr für das Begegnen nicht § 41, sondern §§ 37 bis 40 RhSchPVO und BSchSO.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 30. September 1965
(Schifffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort, Schifffahrtsobergericht Köln)
Zum Tatbestand:
Aus dem Wesel-Datteln-Kanal fuhren das der Klägerin gehörende, beladene MS „M" (8,38 m breit) talwärts, das den Beklagten zu 1 und 2 gehörende, beladene MS „A" (5,05 m breit) bergwärts. Etwa 50 m unterhalb der Halterner Straßenbrücke hatte am Nordwall des Kanals, also in der Fahrtrichtung des MS „M" am rechten Ufer, das 8,20 m breite MS „F" festgemacht, in dessen Höhe „M" und „A" einander begegneten und zusammenstießen. Die Klägerin verlangt Schadenersatz, weil es sich in Höhe des Stilliegers um eine Engstelle gehandelt und „A" unterhalb des Stilliegers hätte anhalten müssen, bis „M" die Engstelle passiert habe. Die Beklagten beantragen Abweisung der Klage, weil „A" als Bergfahrer nicht zum Anhalten, das zu Tal fahrende MS „M" dagegen zur Beachtung der Kursanweisung des Bergfahrers verpflichtet gewesen sei.
Das Schifffahrtsgericht hat die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Das Schifffahrtsobergericht hat die Berufung im Wesentlichen zurückgewiesen. Auf die Revision wurden die vorinstanzlichen Urteile abgeändert; die Klage wurde nur noch zu 1/4 für gerechtfertigt erklärt.
Aus den Entscheidungsgründen:
Der Senat tritt der Ansicht der Revision bei, dass durch das Stilliegen eines Schiffes keine Fahrwasserenge im Sinne des § 41 BSchSO herbeigeführt wird. Bereits in seinen Urteilen vom 30. Januar 1961, II ZR 130, 131/59 (VersR 1961, 315; vgl. Wassermeyer, Der Kollisionsprozess in der Binnenschifffahrt, 3. Aufl. S. 198 Anm. 18) hat sich der erkennende Senat mit dem Begriff der „Stromenge" i. S. des fast gleichlaufenden § 41 RhSchPVO befasst. In jedem Fall hatte das Rheinschifffahrtsobergericht Köln ausgeführt, eine Stromenge werde nicht dadurch herbeigeführt, dass auch andere Schiffe sich im Revier befänden; es könne nicht darauf ankommen, wieviel Raum hiernach dem einzelnen Schiff für die Durchfahrt im gegebenen Augenblick tatsächlich zur Verfügung stehe; sonst würde der Begriff der Stromenge in einer für die Praxis kaum brauchbaren Weise relativiert werden und es für die in § 41 RhSchPVO geforderten präzisen Maßnahmen an sicheren Grundlagen fehlen. Diesen Ausführungen ist der erkennende Senat beigetreten und hat weiter bemerkt: Die Verengungen des Fahrwassers, die durch andere im Raum befindliche Schiffe herbeigeführt werde, führe nicht zu einer „Stromenge". Das ergebe sich schon daraus, dass in § 41 RhSchPVO allein auf das Fahrwasser und nicht, wie in § 37 RhSchPVO, auch auf den übrigen Verkehr abgehoben sei. Die ganz besonderen Verhaltensmaßregeln, die § 41 RhSchPVO den Berg- und Talfahrern auferlege, verböten es, den Begriff der Stromenge über den Wortlaut des Gesetzes hinaus auszulegen. Werde das Fahrwasser durch den übrigen Verkehr verengt, so sei § 37 Nr. 1 RhSchPVO anzuwenden. An dieser Auffassung hält der Senat fest und übernimmt sie auch für die Auslegung des § 41 BSchSO.
Die beiden Polizeiverordnungen haben die für den Rhein und für die übrigen Binnenschifffahrtsstraßen geltenden Verkehrsregeln weitgehend einander angeglichen. Nur soweit die besonderen Verhältnisse der Rheinschifffahrt eine abweichende Verkehrsregelung angezeigt erscheinen lassen, besteht keine Einheitlichkeit. Das ist auch bei der Auslegung der Verkehrsvorschriften zu beachten. Eine möglichst einheitliche Regelung ist aus Gründen der Verkehrssicherheit schon deswegen geboten, weil dieselben Fahrzeuge häufig sowohl den Rhein als auch die sonstigen Binnenschifffahrtsstraßen befahren.
Wenn man dem Wort „Stromenge" bei der Auslegung nicht Gewalt antun will, kann man darunter nur eine solche Enge verstehen, die auf eine von Natur aus bestehende Verengung des Fahrwassers oder auf vorhandene natürliche Hindernisse oder solchen entsprechende künstliche Hindernisse im Strom zurückzuführen ist, nicht aber eine solche Enge, die durch im Verkehr befindliche Schiffe herbeigeführt wird, mögen diese sich in Fahrt befinden oder stilliegen.
Da eine durch Stillieger herbeigeführte Enge nicht unter § 41 der beiden Polizeiverordnungen fällt, gelten für diesen Fall die Verkehrsregeln der §§ 37 bis 40 dieser Verordnungen. Es ist nicht einzusehen, warum bei Beobachtung dieser Vorschriften die Verkehrssicherheit nicht ebenso gewährleistet ist, als wenn die Regelung des § 41 anzuwenden wäre. Bei Kanälen und Schifffahrtsstraßen mit geringer Strömung entstehen durch das Weisungsrecht des Bergfahrers keine Schwierigkeiten. Bei stark strömenden Strecken einer Schifffahrtsstraße haben Talschleppzüge das Vorrecht des § 40 Nr. 1 Abs. 3 der beiden Polizeiverordnungen; einzeln zu Tal fahrende Fahrzeuge sind dadurch ausreichend geschützt, dass ihnen die Bergfahrer unter Berücksichtigung der örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs einen geeigneten, also insbesondere gefahrlosen Weg freilassen müssen (§ 38 Nr. 1 RhSchPVO, §§ 38 Nr. 1 Abs. 1 BSchSO); auf Flüssen müssen die Bergfahrer überdies den Talfahrern nach Möglichkeit die tiefe Seite des Fahrwassers (Grube) überlassen und ihre Fahrt zu diesem Zweck erforderlichenfalls verlangsamen oder einstellen (§ 38 Nr. 1 Abs. 2 BSchSO). Bei Kanälen führt, was für Fälle der vorliegenden Art bedeutsam ist, diese Regelung zu dem im Sinne der Verkehrssicherheit und der Verkehrsbeschleunigung erwünschten Ergebnis, dass dasjenige Fahrzeug seine Fahrt erforderlichenfalls zu vermindern oder einzustellen hat, dem der Stillieger den Weg versperrt, da auf Kanälen grundsätzlich nach wie vor der Rechtsverkehr gilt (Kählitz, Verkehrsrecht auf Binnenwasserstraßen II Anmerkung 5 zu § 38 der beiden Polizeiverordnungen); der Bergfahrer, dem auf seiner rechten Fahrwasserseite der Weg durch einen Stillieger versperrt ist, hat dem Talfahrer grundsätzlich die Vorfahrt zu lassen; er würde in der Regel sein Kursweisungsrecht missbrauchen, wenn er von dem Talfahrer die Begegnung an Steuerbord verlangen und diesen dadurch zwingen würde, seine Fahrt zu verlangsamen oder einzustellen.
Hiernach ergibt sich: Eine Fahrwasserenge (und eine Stromenge) im Sinne des § 41 der BSchSO (und der RhSchPVO) entsteht nicht dadurch, dass wegen in Fahrt befindlicher, vor Anker liegender oder am Lande festgemachter Fahrzeuge das Fahrwasser unzweifelhaft hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt nicht gewährt. In diesen Fällen gelten für das Begegnen nicht § 41, sondern §§ 37 bis 40 der beiden Polizeiverordnungen (gl. Ansicht Wasserrneyer a.a.0. S. 188; a. A. Kählitz auch für in Fahrt befindliche Schiffe a.a.O. Anm. 4 zu § 37 der beiden Polizeiverordnungen.
Da eine Fahrwasserenge nicht vorlag und die Unfallstelle auch nicht als schwierige Stelle im Sinne des § 41 Nr. 1 und 2 BSchSO bezeichnet war, war die Schiffsführung von „A" nicht verpflichtet, zu warten; sie hat nicht gegen § 41 BSchSO verstoßen. Wohl aber fällt der Schiffsführung von „M" ein Verstoß gegen § 39 Nr. 1 BSchSO zur Last, da sie die Weisung des Bergfahrers zur Begegnung an der Backbordseife nicht beachtet hat; „M" hätte ihre Fahrt so lange verlangsamen und erforderlichenfalls einstellen müssen, bis „A" die stillliegende „F" passiert gehabt hätte.
Beide Schiffsführungen der sich begegnenden Schiffe haben gegen das Begegnungsverbot des § 37 Nr. 1 BSchSO verstoßen. Sie durften es nicht zu einer Begegnung in Höhe des Stilliegers kommen lassen, sondern mussten unabhängig von der Frage der Vorfahrt ihre Fahrt bereits eingestellt haben, bevor die Steven ihrer Schiffe in gleiche Höhe gekommen waren. Das haben beide Schiffsführungen versäumt. Nach der eigenen Darstellung der Beklagten war „A" im Augenblick der Kollision „fast zum Stillstand" gekommen. Hätte die Schiffsführung von „A" rechtzeitig ihre Fahrt eingestellt, dann hätte das Vorschiff bei dem Zurückschlagen mit dem Bug nach Backbord verfallenden „M" nicht gegen das Vorschiff von „A" geraten können. Entsprechendes gilt für die Schiffsführung von „M", die nicht nur zu spät und zu wenig ihre Fahrt vermindert, sondern auch zu spät zurückgeschlagen hat. Beide Schiffsführungen haben nach der Feststellung des Berufungsgerichts vorausgesehen, dass die Begegnung in der Höhe des Stilliegers erfolgen würde. Keine der beiden Schiffsführungen kann der Vertrauensgrundsatz zugute kommen, da sie sahen, dass der Gegner nicht anhielt, sondern weiterfuhr.
Die Schiffsführung von „M" hat erheblich überwiegend den Zusammenstoß herbeigeführt. Sie hat die Kursweisung des Bergfahrers nicht befolgt, ist in die ihr nicht zustehende Fahrwasserhälfte geraten und hat ihre Fahrt zu spät eingestellt. Sie hat den Zusammenstoß auch überwiegend verschuldet. Ihre Schuld ist zwar nicht so erheblich wie in den meisten Fällen, in denen die Kursweisung des Bergfahrers nicht befolgt wird; denn bei der Entscheidung der Frage, ob durch ein stilliegendes Fahrzeug eine Fahrwasserenge im Sinne des § 41 BSchSO herbeigeführt wird, handelt es sich um eine schwierige Auslegungsfrage, die, wie der Fall zeigt, auch von rechtskundigen Fachkreisen im Sinne der Klägerin beantwortet worden ist. Bei der Zweifelhaftigkeit dieser Auslegungsfrage musste aber die Schiffsführung von „M" damit rechnen, dass ihre Auslegung nicht zutrifft, und sich daher entsprechend vorsichtig verhalten. Wegen des Verstoßes gegen das Begegnungsverbot des § 37 Nr. 1 BSchSO steht ihr Verschulden ebenso fest wie das der Schiffsführung von „A", der allein dieser Verstoß zur Last liegt. In Würdigung der gesamten Umstände hält es der Senat für angemessen, dass die Klägerin 1/4 und die Beklagten als Gesamtschuldner 1/4 des entstandenen Schadens zu tragen haben."