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Leitsätze:
1) Unter einem vereinbarten Nutzungsverlust ist keinesfalls ohne weiteres nur die Zahlung des gesetzlichen Liegegeldes zu verstehen.
2) Ein Anscheinsbeweis für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Schäden an einem Schiff und dem Hellingen dieses Schiffes kann bejaht werden, wenn aus einem bestimmten Fehler beim Hellingen nach allgemeiner Erfahrung geschlossen werden kann, der Fehler sei für die unmittelbar oder alsbald nach dem Zuwasserlassen des Schiffes erstmals in Erscheinung getretenen Schäden ursächlich, oder wenn diese Schäden nach allgemeiner Erfahrung den Schluß auf ein unsachgemäßes Hellingen des Schiffes als Schadensursache nahelegen. Diese Fragen wird regelmäßig nur beurteilen können, wer über gründliche Erfahrungen und Kenntnisse auf dem Gebiete des Baus oder der Reparatur von Schiffen verfügt.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 23. November 1970
II ZR 173/68
(Oberlandesgericht Düsseldorf)
Zum Tatbestand:
Die Firma B., deren Rechtsnachfolgerin die Klägerin ist, ließ im August/September 1962 am Vorschiff ihres Motorschiffes O. verschiedene Reparaturen auf der Werft der Beklagten ausführen. Später kam es zwischen den Parteien zu Meinungsverschiedenheiten über die ordnungsmäßige Durchführung der Arbeiten. Am 13. 4. 1963 schloß Prokurist D. von der Firma B. mit der Beklagten eine Vereinbarung, nach, welcher der Schiffsraum im Laderaum 1 und 2 „kostenlos einwandfrei ausgerichtet" werden sollte. Weiter hieß es:
„Nach Angaben von Herrn Dr. sind im Gangbord des Vorschiffes Risse und eine Beule in der Decksbeplattung entstanden.
Zu der Frage der Risse wird ein von Herrn D. bestellter Experte Stellung nehmen. Der Nutzungsverlust des Schiffes für die Liegezeit an der Werft wird an den Schiffseigner vergütet."
Am gleichen Tage noch wurde das Schiff auf Helling genommen und am 19. 4. 1963 wieder zu Wasser gelassen. Bei einer unmittelbar anschließenden Talreise wurde bereits in Wesseling Wasser im Maschinenraum festgestellt. Ferner hatte der Schiffsführer, als er das Schiff am 20. 4. 1963 zur Werft der Beklagten zurückbrachte, Schwierigkeiten mit der Maschine. Eine genaue Untersuchung ergab, daß die Maschine und die Welle versetzt und in der Kielplatte unter der Maschine 2 Risse vorhanden waren.
Die Klägerin verlangt Schadensersatz von ca. 55 000,- DM, weil die Beklagte beim Aufslippen und beim Zuwasserlassen des Schiffes nicht sachgemäß gehandelt habe. Außerdem habe die Beklagte die am 13. 4. übernommenen Arbeiten nicht vollständig ausgeführt und den während der Liegezeit des Schiffs an der Werft entstandenen Nutzungsverlust nicht ersetzt.
Die Beklagte bestreitet jedes Verschulden. Sie hafte nach ihren Verkaufs- und Lieferbedingungen - außer bei grober Fahrlässigkeit - nicht für Schäden, die ein Schiff durch das Hellingen erleide, und habe auch überhaupt nicht für Folgeschäden, wie Nutzungsverluste, einzutreten.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat ihr in Höhe von 2195,46 DM (575,46 DM für vereinbarte, aber nicht ausgeführte Arbeiten + 1620,- DM für den Aufenthalt an der Werft vom 13.-19. 4. 63 = 7 Tage abzüglich 2 Osterfeiertage = 5 x tägliches Liegegeld = 5 x 324,- DM) stattgegeben. Die Revision führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung an das Berufungsgericht insoweit, als die Klage bezüglich eines Nutzungsverlustes von 627,50 DM in der Zeit vom 13. bis 19. April 1963 und wegen eines Schadensersatzes von etwa 51 600,- DM wegen unsachgemäßen Hellingens abgewiesen worden war.
Aus den Entscheidungsgründen:
Der Revision ist zuzugeben, daß das angefochtene Urteil soweit es die Klage abgewiesen hat, nicht in allen Punkten einer rechtlichen Nachprüfung standhält.
Mit Erfolg wendet sich die Revision gegen die Auffassung des Berufungsgerichts, der Klägerin stehe lediglich eine Nutzungsentschädigung in Höhe des gesetzlichen Liegegeldes für das MS O. zu. Die Klägerin leitet aus der Vereinbarung vom 13. April 1963 die Befugnis her, den tatsächlichen Nutzungsverlust des Schiffes ersetzt zu verlangen. Die Beklagte versteht den Inhalt dieser Vereinbarung ebenso; sie meint allerdings, daß sie der Klägerin aus anderen, in diesem Zusammenhang nicht interessierenden Gründen keinen Ersatz für einen etwaigen Nutzungsverlust zu leisten habe. Bei diesen Einlassungen der Parteien besteht aber kein Zweifel daran, daß beide unter dem Wort „Nutzungsverlust" in der Vereinbarung vom 13. April 1963 den tatsächlichen Nutzungsverlust des Schiffseigners und nicht das gesetzliche Liegegeld verstanden haben. Wie das Berufungsgericht zu seiner abweichenden Auffassung kommt, ist nicht deutlich.
Die Teilabweisung des Anspruchs auf Nutzungsentschädigung in Höhe der Differenz zwischen dem von der Klägerin behaupteten Nutzungsverlust (449,50 DM x 5 -- 2247,50 DM) und dem gesetzlichen Liegegeld (324,- DM x 5 = 1620,- DM) wird auch nicht von der Hilfsbegründung des Berufungsgerichts getragen. Die Klägerin hat für den behaupteten Nutzungsverlust Beweis durch die Benennung der Zeugen M. und W. sowie unter Berufung auf ein Sachverständigengutachten angetreten. Nimmt man hierzu in Betracht, daß die Beklagte den behaupteten Nutzungsausfall lediglich mit dem allgemeinen Hinweis auf die wirtschaftlich schlechte Lage der Rheinschiffahrt bestritten hat, so kann von einem nicht nachprüfbaren Vorbringen der Klägerin keine Rede sein.
Das Berufungsgericht wird demnach nachzuprüfen haben, ob der Klägerin für die fünf Liegetage nicht die behauptete (2247,50 DM) oder jedenfalls eine höhere als die zuerkannte (1620,- DM) Nutzungsentschädigung zusteht.
Das Berufungsgericht geht rechtlich zutreffend davon aus, daß die Beklagte im Falle eines schuldhaft unsachgemäßen Hellingens des MS O. dem Schiffseigner aus dem Gesichtspunkt einer positiven Vertragsverletzung schadensersatzpflichtig ist. Es meint allerdings, die Beklagte habe nach Ziffer V Nr. 3 ihrer Verkaufs- und Lieferbedingungen nur g r o b e Fahrlässigkeit zu vertreten. Ob ein solches Verschulden seitens der Bediensteten der Beklagten vorliegt, läßt das Berufungsgericht unerörtert.
Bei der Prüfung der Frage des Ursachenzusammenhangs verneint das Berufungsgericht das Bestehen eines Anscheinsbeweises zu Gunsten der Klägerin. Es meint, das Auftreten der Schäden am Achterschiff des MS O. stehe zwar in einem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Werftaufenthalt des
Schiffes. Dieser Umstand allein begründe jedoch keine beweiskräftige Vermutung dafür, daß die Ursache dieser Schäden im Gefahrenbereich der Beklagten gelegen habe.
Gegen diese Ausführungen bestehen rechtliche Bedenken.
Im Streitfall kann zu Gunsten der Klägerin ein Anscheinsbeweis in zweifacher Hinsicht gegeben sein. Zum einen kann das Vorliegen eines solchen Beweises dann zu bejahen sein, wenn aus einem bestimmten Fehler beim Hellingen des Schiffes nach allgemeiner Erfahrung geschlossen werden kann, der Fehler sei für die unmittelbar oder alsbald nach dem Zuwasserlassen des Schiffes erstmals in Erscheinung getretenen Schäden ursächlich. Zum anderen kann ein derartiger Beweis gegeben sein, wenn die S c h ä d e n, die unmittelbar oder alsbald nach dem Zuwasserlassen des MS O. erstmals in Erscheinung getreten sind, nach allgemeiner Erfahrung den Schluß auf ein unsachgemäßes Hellingen des Schiffes als Schadensursache nahelegen.
Mit dem ersten Fall hat sich das Berufungsgericht in der Weise befaßt, daß es zunächst im Wege einer umfänglichen Beweisaufnahme festgestellt hat, welche der von der Klägerin behaupteten Fehler der Bediensteten der Beklagten beim Hellingen des MS O. bewiesen sind. Sodann hat es nach Einholung mehrerer Gutachten die Frage verneint, ob die allein festgestellte Beschädigung einer Laufschiene unter dem Hellingwagen Nr. 8 einen nachteiligen Einfluß auf den Lauf dieses Wagens oder auf die Lage des MS O. während des Aufslippens oder des Zuwasserlassens des Schiffes hatte.
Das angefochtene Urteil muß in dem hier zur Nachprüfung stehenden Punkte jedoch deshalb aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, weil dieses die von der Klägerin - unter Beweisantritt - in den Vordergrund gestellte Frage, ob auf Grund der Schäden des MS O. nach, den Grundsätzen des Anscheinsbeweises ein unsachgemäßes Hellingen des Schiffes anzunehmen ist, rechtlich nicht einwandfrei verneint hat.
Im Streitfall sind Schäden bestimmter Art (querlaufende Risse in einer Kielplatte unter der Maschine, Versetzen der Maschine und der Welle) unmittelbar oder alsbald nach dem Zuwasserlassen des MS O. erstmals in Erscheinung getreten. Ob derartige Schäden nach allgemeiner Erfahrung den Schluß auf ein unsachgemäßes Hellingen des Schiffes nahelegen, wird regelmäßig nur derjenige beurteilen können, der über eingehende Erfahrungen und gründliche Kenntnisse auf dem Gebiet des Baus oder der Reparatur von Schiffen verfügt. Daß das Berufungsgericht derartige Erfahrungen und Kenntnisse besitzt, ist von ihm weder dargetan noch seinen Ausführungen zu entnehmen. Dann konnte das Berufungsgericht aber nicht ohne sachverständige Beratung die Frage des Anscheinsbeweises auf Grund der Schäden des MS O. entscheiden.
Zu prüfen bleibt noch die Frage, ob die Abweisung der Schadensersatzansprüche der Klägerin wegen des angeblich unsachgemäßen Hellingens des MS O. im Ergebnis nicht deshalb gerechtfertigt ist, weil die Beklagte nach Ziff. V Nr. 3 ihrer Verkaufs- und Lieferbedingungen nur grobe Fahrlässigkeit zu vertreten hat und in Ziff. VII Nr. 8 dieser Bedingungen jede Haftung für mittelbare Schäden, wie beispielsweise Nutzungsverlust, ausgeschlossen hat. Eine abschließende Beurteilung dieser Frage durch das Revisionsgericht ist schon deshalb nicht möglich, weil das Berufungsgericht - von seinem Standpunkt aus zu Recht - keine Feststellungen über ein s c h u l d h a f t e s Verhalten der Bediensteten der Beklagten getroffen hat. Ihr steht ferner entgegen, daß das Berufungsgericht eine Anwendung der erwähnten Bedingungen auf den Streitfall nur beiläufig und ohne erschöpfende Erörterung des Streitstoffs bejaht hat. Insbesondere fehlt jede Prüfung in der Richtung, ob im Streitfall eine Anwendung der genannten Bedingungen deshalb nicht in Betracht kommt, weil die Nachbesserungsarbeiten auf einer selbständigen, im Vergleichswege getroffenen Vereinbarung beruhen und der weitere Inhalt der Vereinbarung einzelnen Bestimmungen der Verkaufsund Lieferbedingungen der Beklagten eindeutig widerspricht.
Sollte sich auf Grund der erneuten Verhandlung der Sache ergeben, daß der vom Berufungsgericht bisher verneinte Anscheinsbeweis besteht, so ist es Sache der Beklagten, den Anscheinsbeweis durch den Nachweis der Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufs zu entkräften (BGHZ 6, 169). Gelingt ihr dieser Nachweis nicht, so hat s i e zu beweisen, daß sie kein Verschulden trifft (BGHZ 23, 288; vgl. auch BGHZ 27, 236). Im Rahmen der in diesem Zusammenhang jeweils vorzunehmenden Beweiswürdigung ist das Berufungsgericht frei und an die bisher getroffenen Feststellungen nicht gebunden."