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II ZR 1/63 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Entscheidungsdatum: 04.05.1964
Aktenzeichen: II ZR 1/63
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsätze:

1) Solange ein Kläger bestimmte Tatbestände nicht zur Stützung seiner Klage verwertet oder sich gutachtliche Äußerungen dritter Stellen nicht zu eigen macht, kann es dem Beklagten nicht zum Nachteil gereichen, wenn er es unterläßt, insoweit substantiierte Gegenbehauptungen zur Aufklärung des Sachverhalts aufzustellen oder sich in sonstiger Weise damit auseinanderzusetzen.

2) Zur Würdigung der Ursachen für das Ausscheren eines Anhangkahnes. Daß der Schleppzugführer einen vom üblichen Kurs abweichenden, aber nicht verbotenen Kurs fährt, kann allein keinen Schuldvorwurf begründen.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 4. Mai 1964

(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort/ Rheinschiffahrtsobergericht Köln)

Zum Tatbestand:

Das bei der Klägerin versicherte MS „A" hatte auf der Bergfahrt bei Kleinwasser (Ruhrorter Pegel 2,42 m) Grundberührung bei Emmerich gehabt und Schraubenschaden erlitten, sodaß es die Fahrt mit eigener Kraft nicht fortsetzen konnte. Deshalb hatte das den Beklagten zu 1 gehörende, vom Beklagten zu 2 verantwortlich geführte Schleppboot „B" die weitere Verschleppung zur Ruhr übernommen. MS „A" rakte dann bei Xanten und am Tage darauf nochmals bei Alsum (km 788), geriet dort auf Grund und erlitt erhebliche Schäden. Die Klägerin verlangt Schadensersatz mit der Begründung, daß entgegen dem Verlangen des Schiffsführers von „A" auf ganz kurzem Strang verschleppt zu werden, der Strang auf ungefähr 200m ausgefiert und dadurch ein Ausscheren stark nach Steuerbord und ein Raken auf den Kribben bei Xanten verursacht worden sei. Auch das Raken und die hieraus entstandenen Schäden am nächsten Tage seien darauf zurückzuführen, daß der Schleppstrang nicht ganz kurz, sondern bis auf etwa 70 bis 75 m gefiert worden sei. Die Beklagten halten das Verschleppen auf langem Strang für sachgemäß, was auch vom Schiffsführer von MS „A" nicht beanstandet sei. Das Raken sowie die Folgeschäden seien vielmehr auf falsches Nachsteuern und auf die zu starke Abladung des MS „A" zurück zuführen.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat im Berufungsverfahren ein Mitverschulden von MS „A" zu 50 Prozent anerkannt und erreicht, daß die Klage vom Rheinschiffahrtsobergericht zur Hälfte dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt worden ist. Auf die Revision der Beklagten ist der Rechtsstreit unter Aufhebung der Vorentscheidung an das Rheinschiffahrtsobergericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Aus den Entscheidungsgründen:

Zunächst rügt die Revision das Verfahren des Berufungsgerichts. Sie führt aus: Die Klägerin habe sowohl im ersten Rechtszug als auch in ihrer Berufungsbegründung und im ersten Verhandlungstermin vor dem Berufungsgericht die Klage allein darauf gestützt, daß der Schleppzugführer das Motorschiff in fehlerhafter Weise auf zu langem Strang geschleppt habe. Unter Verletzung der §§ 128, 139 ZPO habe das Berufungsgericht nach dem ersten Verhandlungstermin durch einen Erörterungsbeschluß der Klägerin nahegelegt, ihre Klage auf einen anderen Sachverhalt, nämlich auf eine in der Stellungnahme der Wasser- und Schiffahrfsdirektion Duisburg behauptete falsche Kursführung des Schleppzugführers zu stützen. Der Zulassung neuen Vorbringens, das auch eine Klageänderung darstelle, hätten die Beklagten widersprochen. Erst im Schlußverhandlungstermin habe sich die Klägerin nach nochmaligem Vorhalt die Stellungnahme der Wasser- und Schiffahrtsdirektion zu eigen gemacht. Unter Verletzung der §§ 279, 529 ZPO habe das Berufungsgericht nicht geprüft, ob das neue Angriffsmittel zugelassen werden könne. Es sei auch unzulässig, daß im angefochtenen Urteil das Bestreiten des neuen Vorbringens durch die Beklagten mit der Begründung für unbeachtlich erklärt worden sei, die Beklagten hätten seit dem Erörterungsbeschluß mehr als zwei Monate Zeit gehabt, ihrerseits Nachforschungen anzustellen und ihr Bestreiten zu substantiieren. Es kann dahingestellt bleiben, ob das Berufungsgericht durch den Erörterungsbeschluß das richterliche Fragerecht und die richterliche Fragepflicht nicht überschritten und den Verhandlungsgrundsatz verletzt hat. Jedenfalls hat sich die Klägerin die tatsächlichen Ausführungen der Wasser- und Schiffahrtsdirektion zu eigen gemacht, ihr neues Vorbringen, das keine Klageänderung darstellt, ist damit Gegenstand der mündlichen Verhandlung geworden (vgl. RGZ 151, 93, 97 f).
Jedoch ist die Revisionsrüge, das Berufungssgerich,1 hätte das Bestreiten des neuen Vorbringens der Klägerin durch die Beklagte im Schlußtermin nicht für unbeachtlich erklären dürfen, begründet, Es ist rechtsirrtümlich, wenn das Rheinschiffahrtsobergericht meint, die Beklagten hätten bereits auf den Erörterungsbeschluß hin den Sachverhalt aufklären müssen, um dem neuen Angriffsmittel substantiiert entgegentreten zu können, Solange die Klägerin ihre Klage nicht auf die in der Stellungnahme der Wasser- und Schiffahrtsdirektion enthaltenen tatsächlichen Behauptungen stützte, kann es den Beklagten nicht zum Nachteil gereichen, wenn sie eine Aufklärung unterließen, da noch durchaus dahinstand, ob die Klägerin entgegen ihrem bisherigen Verhalten sich diese Behauptungen zu eigen machen würde. Das ist ausweislich des Schlußverhandlungsprotokolls erst in der Schlußverhandlung geschehen. Das Bestreiten konnte auch nicht mangels Substantiierung zurückgewiesen werden. Nach dem Schlußverhandlungsprotokoll hat der Prozeßbevollmächtigte der Beklagten die Richtigkeit der Stellungnahme der Wasser- und Schifffahrtsdirektion bestritten. Damit hat er auch die Richtigkeit der Behauptung über das Vorhandensein und die Ausdehnung des angeblich sich 75 m in den Strom hineinziehenden Grundes bestritten, der, wie die Revision zutreffend ausführt, im Rheinatlas nicht verzeichnet ist. Angesichts dieses Sachverhaltes wäre es, wie das in Rheinschiffahrtssachen üblich ist, erforderlich gewesen, daß das Gericht im, Wege der amtlichen Auskunft die Stromprofile angefordert hätte, um sich die zuverlässigen Unterlagen für seine Entscheidung zu verschaffen.

Da die Grundberührung auf das, Ausscheren zurückzuführen ist, hätte es einer Erörterung bedurft, wie es zu dem Ausscheren gekommen ist. Darüber enthält das angefochtene Urteil nichts. Das Nachsteuern des Anhangschiffes liegt im Verantwortungsbereich des Anhangschiffers. Das Ausscheren kann neben anderen Gründen auf falscher Ruderführung beruhen, es kann, was im vorliegenden Fall vor allem in Betracht kommt, darauf beruhen, daß das Schiff nicht genügend, steuerfähig war. Ausweislich des Tatbestandes hat, die Klägerin selbst das Auslaufen auf den mangelnden Ruderdruck zurückgeführt. Nach der Feststellung des Berufungsgerichts war aber das Motorschiff jedenfalls dann durchaus steuerfähig, wenn der Anhangschiffer die Schraube mitdrehte und dadurch dem Ruder genügenden Druck verlieh. Falls der Schiffer vor dem Ausscheren die Schraube nicht mitgedreht hat, so kann der Schleppzugführer wegen falscher Kursführung nur dann verantwortlich gemacht werden, wenn es auch ohne das Auslaufen des Motorschiffes zur Grundberührung gekommen wäre. Darüber fehlt jede Feststellung.
Allein die Tatsache, daß der Schleppzugführer einen von dem üblichen Kurs abweichenden Kurs gefahren hat, kann einen Schuldvorwurf gegen ihn nicht begründen, da ein solcher Kurs nicht verboten ist. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Schleppzugführer sei nicht in genügender Entfernung vom linken Ufer gefahren, da er mit seinem ganzen Schleppzug nicht Abstand von dem sich 75 m in den Strom hineinziehenden Grund gehalten habe, ist nicht ausreichend begründet.
Nach alldem war das angefochtene Urteil aufzuheben. In der neuen Verhandlung wird das Berufungsgericht, bevor es auf die Sache eingeht, zu prüfen haben, ob das neue Vorbringen nach § 529 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 ZPO zugelassen werden kann. Die Annahme, daß die Klägerin aus grober Nachlässigkeit das Vorbringen sowohl im ersten Rechtszug als auch in der Berufungsbegründung unterlassen hat, liegt nahe. Die Klägerin leitet ihre Rechte von dem Eigner des Motorschiffes ab, der zugleich Schiffsführer war. Sie hatte daher die Möglichkeit, sich ein genaues Bild über den Unfallvorgang, insbesondere über die Kursführung des Schleppzuges zu verschaffen. Dazu kommt, daß der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin um die Einsichtnahme in die Strafakten, in denen sich die Stellungnahme der Wasser- und Schiffahrtsdirektion befindet, bereits bei Klageerhebung gebeten hat und die Strafakten bereits am 17. Dezember 1960, also 22 Monate vor der Schlußverhandlung, an das Rheinschiffahrtsgericht zwecks Einsichtnahme durch den Prozeßbevollmächtigten übersandt worden sind."