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II ZR 158/67 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Entscheidungsdatum: 13.03.1969
Aktenzeichen: II ZR 158/67
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Norm: § 44 RheinSchPolVO
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsätze:

1) Läuft ein Schleppkahn in räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem Überholen eines anderen Fahrzeugs aus dem Ruder, so bietet die Lebenserfahrung für sich allein regelmäßig keine Grundlage für die Annahme eines Verschuldens der Kahnführung.

2) Die Vorschrift des § 44 RheinSchPolVO über die Pflicht des Vorausfahrenden zur Verminderung der Geschwindigkeit beim überholen ist auf das zuerst überholende Schiff gegenüber dem Zweitüberholer nicht anzuwenden.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 13. März 1969

II ZR 158/67

(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort, Rheinschiffahrtsobergericht Köln)

Zum Tatbestand:

Das der Klägerin gehörende MS C (1683 t, 2 x 600 PS), befand sich mit dem beladenen Kahn Ca bei Orsoy auf Bergfahrt. Am linksrheinischen Ufer fuhr der Schubzug Co/K an dort festgemachten Schiffen vorbei bergwärts. Der Schubzug wurde von dem rechtsrheinisch fahrenden MS R mit seinem auf langen Strang fahrenden beladenen Anhangkahn M, der der Beklagten zu 1 gehört und vom Beklagten zu 2 geführt wurde, überholt. Als MS C bei der Überholung im Raum zwischen dem Schubzug und dem Schleppzug bis in die Höhe von M gekommen war, scherte dieser Kahn nach Steuerbord aus und verlegte dem zu Tal kommenden TMS E den Weg. Daher geriet dieses Schiff gegen das Steuerbordschiff von M und dann gegen die Backbordseite mitschiffs von C. Sodann drückten M und E das MS C gegen das MS Co. Die Klägerin macht gegen die Beklagten Ersatzansprüche von ca. DM 25000,--- wegen Beschädigung ihres Schiffes geltend. Der Schleppzug R habe versucht, vor dem C-Zug zu bleiben, für den ein sehr großer Zwischenraum zwischen dem R-Schleppzug und dem C-Schuhzug zur Überholung zur Verfügung gestanden habe.
Die Beklagten behaupten, daß der Zwischenraum 50 bis 60 m betragen habe. C habe mit großer Geschwindigkeit eine Doppelüberholung versucht. In einem seitlichen Abstand von 30 m von M habe C eine so starke Sogwirkung ausgeübt, daß "Malm 18" nach Steuerbord ausgelaufen sei.

Das Pheinschiffahrtsgericht hat die Klage abgewiesen, das Rheinschiffahrtsobergericht hat sie dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Auf die Revision der Beklagten wurde das Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweiten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. '

Aus den Entscheidungsgründen:

Das angefochtene Urteil gibt in mehrfacher Richtung Anlaß zu rechtlichen Bedenken,

1. Ob das Ausscheren eines Kahnes nach der Lebenserfahrung dann auf ein Verschulden des Kahnführers zurückzuführen ist, wenn die konkreten Ursachen für das Ausscheren nicht aufzuklären sind, ist unter' Berücksichtigung der Umstände des einzelnen Falles zu entscheiden. Liegen keine besonderen Umstände vor, so spricht allerdings ein Anscheinsbeweis für eirl ursächliches Verschulden des Schiffsführers des ausscherenden Kahnes (vgl. BGHZ 6,169; BGH VersR 1965, 510). Sind aber solche besonderen Umstände unstreitig oder von der Kahnführung bewiesen, so kann der Anscheinsbeweis entfallen. Ein solcher besonderer Umstand ist hier das Uberholen, insbesondere im Zusammenhang mit dem Niedrigwasser. Läuft ein Kahn in räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem Überholen eines anderen Fahrzeugs aus dem Ruder, so bietet die Lebenserfahrung für sich allein regelmäßig keine Grundlage für die Annahme eines Verschuldens der Kahnführung; denn erfahrungsgemäß wird nicht selten durch die von dem Überholenden ausgehende Druck- und Sogwirkung ein Ausscheren des zu überholenden Kahnes herbeigeführt. Eine solche Gefahr besteht besonders dann, wenn der Kahn wenig Wasser unter seinem Boden hat. Es ist dann durchaus möglich, daß der Kahn trotz richtiger Steuerung ausschert. Bei dieser Sachlage ist für den Anscheinsbeweis regelmäßig kein Raum. Der durch einen ausscherenden Kahn Geschädigte muß vielmehr den Beweis für ein nautisch fehlerhaftes Verhalten des Kahnführers erbringen. Diesen Beweis kann er dadurch führen, daß nach den Umständen des Falles (für die der Überholende beweispflichtig ist) bei richtiger Steuerung dieses Kahnes ein Ausscheren vermieden worden wäre. Zu diesen Umständen gehören u. a. der Abstand der Fahrzeuge bei dem Überholen und ihre Lage, zueinander im Zeitpunkt des Ausscherens, die von der Größe, dem Tiefgang und der Geschwindigkeit des überholenden Schiffes abhängige Sog- oder Druckwirkung, die Stromtiefe, Stromrichtung und Stromgeschwindigkeit der Strecke, die von dem Kahn beim Überholen befahren wird.

2. Die Ausführungen im angefochtenen Urteil über die von MS C ausgehenden Sogwirkungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand, wie die Revision zutreffend rügt (§ 286 ZPO). Der Schiffsführer R. des MS Kr, das hinter dem SK M fuhr, hat nach seiner Aussage beobachtet, daß das Vorschiff des Kahnes durch den beim Überholen entstandenen Sog angesaugt wurde. Das haben auch der Schiffsführer B. von TMS E und, wenn auch mit Einschränkung, der Schiffsführer Sch. von Co angenommen. Das Berufungsgericht hat sich auch nicht damit auseinandergesetzt, daß der Schiffsführer R. nach seiner Bekundung (vgl. dazu auch die Aussage des Schiffsführers D., der sich ebenfalls auf MS Kr befand) sich entschlossen habe, den Schleppzug R und M nicht zu überholen, obwohl sein Fahrzeug schneller als alle anderen Schiffe im Revier habe fahren können; denn er habe ein Überholen für bedenklich gehalten, weil bei dem niedrigen Wasserstand der vorhandene Raum für ein Überholmanöver in dieser Situation nicht ausgereicht habe.
Die theoretischen Ausführungen, die das Berufungsgericht über die von dem Uberholer ausgehenden Druck- und Sogwirkungen unter Berücksichtigung der Lage der beiden Fahrzeuge im Augenblick des Ausscherens des Kahnes macht, stehen im Gegensatz zu den Darlegungen des Rheinschifffahrtsgerichts, das sich auf einen Bericht der Versuchsanstalt für Binnenschiffbau e. V. Duisburg bezieht. Da es sich im vorliegenden Fall um nicht einfache physikalische Fragen handelt, mußte das Rheinschiffahrtsobergericht, wenn es meinte, der Auffassung des Rheinschiffahrtsgerichts nicht folgen zu können, hierüber ein Sachverständigengutachten der Versuchsanstalt einholen, zumal es sich nicht mit dem vom Rheinschiffahrtsgericht angeführten Bericht der Versuchsanstalt auseinandergesetzt hat. Die Uberlegungen im angefochtenen Urteil sind auch insoweit nicht ausreichend, als das Berufungsgericht den niedrigen Wasserstand, der hier eine entscheidende Rolle spielen kann, die Kahneigenschaft des zu überholenden Schiffes und seine Beladung den Einfluß von Stromgeschwindigkeit und Stromrichtung auf das Ausscheren des Kahnes sowie den Umstand nicht berücksichtigt hat, ob und welche Wirkungen auf den Kahn von dem schweren Schubverband Co ausgingen, den MS C gleichzeitig überholt hat.

3. Die Revision greift auch zu Recht die Ausführungen im angefochtenen Urteil an, mit denen das Berufungsgericht die Möglichkeit einer Grundberührung des Kahnes begründet. Der Schluß, den das Rheinschiffahrtsobergericht aus dem Schweigen der Zeugen R. und D. über den Uferabstand zieht, widerspricht bei den hier gegebenen Umständen den Denkgesetzen. Dasselbe gilt für den Schluß, der aus dem Raken des MS Kr bei seinem Ausweichen nach der Kollosion von M und C gezogen wird (wird ausgeführt).
Wenn aber ein „Schmecken des Grundes" durch den Kahn in Frage kommen sollte, müßte geprüft werden, ob dieses bei dem niedrigen Wasserstand nicht dadurch herbeigeführt worden ist, daß MS C bei seiner Vorbeifahrt infolge der, wenn auch vielleicht geringen, Sogwirkung dem Heck des Kahns Wasser weggenommen hat. Auch bei einer solchen Möglichkeit kann ein Anscheinsbeweis gegen das ausscherende Fahrzeug nicht Platz greifen.

4. Trotz der Aussage des Matrosen E. von M, er habe bei Beginn des Auslaufens das Ruderblatt beobachtet, wie es ganz nach Backbord ausgedreht worden sei, will das Berufungsgericht Steuer- oder Ruderfehler nicht, „mit letzter Sicherheit" ausschließen. Soweit das Berufungsgericht diese Aussage deshalb nicht für ausreichend hält, weil es nicht ausgeschlossen sei, daß dem Kahnführer schon vorher möglicherweise Ruder- oder Steuerfehler unterlaufen seien, ergibt sich dafür nach dem Akteninhalt kein Anhaltspunkt. Im angefochtenen Urteil wird nicht einmal angedeutet, worin diese Fehler oder ihre Wirkung bestanden haben können. Wenn das Berufungsgericht ausführt, der Kahn sei in seiner Steuerung bis zum Auslaufen nicht beeinträchtigt worden, so ist das kein Argument gegen die Möglichkeit, daß das Heck des Kahnes infolge des Sogs nicht mehr genügend Wasser unter sich hatte, als das Heck von „Colorado" über die Mitte des Kahns hinausgekommen war.

5. Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, daß nach dem jetzigen Prozeßstand ein Verschulden des Schiffsführers von C, das auch bei einem etwaigen Verschulden des Kahnführers rechtlich erheblich ist (§ 92 BSchG, § 736 HGB, § 254 BGB), im angefochtenen Urteil mit nicht zutreffender Begründung verneint worden ist. Schiffseigner und Schiffsführer des überholenden MS C müssen beweisen, daß für das Überholen und die gleichzeitige Begegnung unzweifelhaft hinreichender Raum vorhanden war (BGH VersR 1960, 594; 1964, 650). Das gilt selbstverständlich erst recht für den Zweitüberholer. Unzweifelhaft hinreichender Raum für die Vorbeifahrt von C könnte insbesondere auch dann nicht gegeben sein, wenn die Gefahr bestanden hätte, daß dem dicht am Grund fahrenden SK M das für seine Steuerung nötige Wasser durch die Vorbeifahrt entzogen worden wäre.
Ohne Rechtsverletzung hat das Berufungsgericht , ein Verschulden der Schiffsführungen von MS R und TMS E verneint. Die Vorschrift des § 44 RhSchPVO über die Pflicht des Vorausfahrenden zur Verminderung der Geschwindigkeit ist auf das zuerst überholende Schiff gegenüber dem Zweitüberholer nicht anzuwenden. Denn andernfalls wäre es dem Erstüberholer erschwert oder unmöglich, sein Überholmanöver schnell auszuführen, um einer Behinderung des Verkehrs möglichst vorzubeugen. Der Zweck, den § 44 RhSchPVO verfolgt, wäre dann gerade nicht erreicht: Der Erstüberholer ist daher gegenüber dem 'Zweitüberholer bevorrechtigt. Dem Führer des MS R kann daher nicht vorgeworfen werden, er habe seine Geschwindigkeit nicht vermindert.

Nach alledem muß das angefochtene Urteil aufgehoben und die noch nicht entscheidungsreife Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden. Bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung wird sich das Berufungsgericht mit der Aussage des Schiffsführers G. auseinandersetzen müssen, der die Geschwindigkeit seines C-Schleppzuges mit ca. 10 km/h angegeben hat. Auch werden im Hinblick auf die Beweislast der Klägerin der Abstand und die Lage der beiden Schiffe zueinander im Zeitpunkt des Ausscherens zu überprüfen sein.