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II ZR 137/68 - Bundesgerichtshof (Berufungsinstanz Schiffahrt)
Entscheidungsdatum: 10.12.1970
Aktenzeichen: II ZR 137/68
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Norm: § 5 Binnenschiffahrtstraßen-Ordnung
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: Berufungsinstanz Schiffahrt

Leitsätze:

1) Ein regelwidriges Verhalten ist nach § 5 Binnenschiffahrtstraßen-Ordnung nur dann zulässig (und geboten), wenn die Notwendigkeit hierzu völlig klar ist.

2) Zur Festlegung des Begegnungskurses ist keine Kursverständigung zwischen den begegnenden Fahrzeugen erforderlich, da der Bergfahrer das Kursweisungsrecht und der Talfahrer die unbedingte Pflicht zur Befolgung der Kursweisung hat.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 10. Dezember 1970

II ZR 137/68

(Schiffahrtsgericht Mannheim; Schifffahrtsobergericht Karlsruhe)

Zum Tatbestand:

Das bei der Klägerin versicherte, beladene MS J (38 m lang) stieß auf der Talfahrt in der Nähe des rechten Ufers einer starken Linksbiegung des Neckar bei km 52,8 mit dem dem Beklagten gehörenden und von ihm geführten, zu Berg fahrenden Schubverband F, beladen mit 520 t Kies, zusammen. MS J und der vordere Schubleichter wurden beschädigt.

Die Klägerin verlangt Ersatz des an MS J entstandenen und erstatteten Schadens von ca. 28 000,- DM mit der Begründung, daß die Kollision darauf beruhe, daß der Schubverband dem Talfahrer nicht die Grube des Fahrwassers überlassen, aber auch nicht erkennbar den Weg für eine Steuerbordbegegnung gewiesen habe.

Der Beklagte behauptet, daß er die blaue Seitenflagge gezeigt und mehrfach Schallzeichen gegeben, MS J jedoch die Steuerbordweisung mißachtet habe.

Schiffahrtsgericht und Schiffahrtsobergericht haben die Klage abgewiesen. Auf die Revision der Klägerin ist das Berufungsurteil aufgehoben, und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Schiffahrtsobergericht zurückverwiesen worden.

Aus den Entscheidungsgründen:

Bergfahrer, die Talfahrer an Steuerbord vorbeifahren lassen wollen, müssen bei Tag rechtzeitig nach Steuerbord eine hellblaue Flagge zeigen, und zwar am Ende einer Stange, die so lang ist, daß die Flagge von vorn und möglichst auch von hinten deutlich sichtbar ist (§ 38 Nr. 3 a BSchSO). Diese Vorschrift hat die Führung des Schubverbandes nicht verletzt, wie das Berufungsgericht an Hand mehrerer fotografischer Aufnahmen, die den Schubverband mit gesetzter blauer Seitenflagge zeigen, ohne Rechtsfehler dargelegt hat.
Bei der Beurteilung der Frage, ob die von einem Bergfahrer gezeigte blaue Seitenflagge ordnungsgemäß gesetzt ist, kann nicht, wie die Revision anscheinend meint, darauf abgestellt werden, ob die Flagge für einen Talfahrer in einer bestimmten Lage gut, schwer oder überhaupt nicht zu sehen ist. Das würde nicht nur zu einer erheblichen Unsicherheit für den Verkehr führen, sondern auch der Vorschrift des § 38 Nr. 3 a BSchSO zuwiderlaufen. Die genannte Vorschrift geht erkennbar davon aus, daß bei der Beurteilung der vorerwähnten Frage von der Sicht solcher Fahrzeuge auszugehen ist, die einen ungehinderten Blick auf den Bergfahrer haben, und sie will sicherstellen, daß in einem derartigen Falle die Erkennbarkeit der blauen Seitenflagge des Bergfahrers nicht (oder möglichst nicht) durch dessen Aufbauten oder hochragende Teile seiner Ladung beeinträchtigt wird.
Ebenso ins Leere geht die weitere, von der Revision auch in diesem Zusammenhang erhobene Rüge, das Berufungsgericht habe sich mit den Ausführungen im Bericht der Wasserschutzpolizei vom 2. Juli 1964 befassen müssen, wonach f r den Talfahrer die blaue Seitenflagge des Schubverbandes nicht erkennbar gewesen sei, weil das hohe, stark bewachsene rechte Flußufer einen dunklen Hintergrund gebildet und dadurch die Sicht auf den Schubverband beeinträchtigt habe, und weil außerdem die ruhig hängende blaue Seitenflagge infolge der Krümmung des Flusses zunächst lediglich mit ihrer Schmalseite zu dem Talfahrer gezeigt habe.
Eine andere Frage ist es hingegen, ob im Falle einer Behinderung der Sicht des Talfahrers auf die blaue Seitenflagge die Führung des Schubverbandes nach §§ 4, 38 Nr. 4 BSchSO gehalten war, durch einen klaren Backbordkurs oder durch die Abgabe des Schallzeichens 2 x kurz den Talfahrer auf die Kursweisung aufmerksam zu machen. Da nach den Feststellungen des Berufungsgerichts der Schubverband nach dem Zeigen der blauen Seitenflagge den Kurs in die rechte Fahrwasserhälfte gerichtet und mehrmals das Schallzeichen 2 x kurz gegeben hat, liegt insoweit ein nautisches Fehlverhalten der Führung des Schubverbandes nicht vor.

Nach § 37 Nr. 3 BSchSO dürfen Fahrzeuge beim Begegnen ihren Kurs nicht ändern, nachdem dieser nach den §§ 38 bis 40 festgelegt ist. Die Festlegung des Kurses erfolgt, sieht man von den hier nicht interessierenden Sonderfällen des § 40 BSchSO ab, durch die Kursweisung des Bergfahrers. Hingegen ist zur Festlegung des Begegnungskurses keine Kursverständigung zwischen den begegnenden Fahrzeugen erforderlich. Dies folgt eindeutig aus dem Kursweisungsrecht des Bergfahrers (§ 38 Nr. 1 Satz 1 BSchSO) und der unbedingten Pflicht des Talfahrers, die Weisung des Bergfahrers zu befolgen (§ 39 Nr. 1 BSchSO). Der Revision kann deshalb nicht zugestimmt werden, wenn sie meint, im Streitfall habe keine Klarheit für den Begegnungskurs vorgelegen, weil es an einer Bestätigung der Kursweisung des Schubverbandes durch den Talfahrer gefehlt habe.
Der Revision kann auch insoweit nicht gefolgt werden, als sie ausführt, ein Abweichen des Schubverbandes von dem festgelegten Begegnungskurs sei jedenfalls nach § 5 BSchSO geboten gewesen.

Bei der genannten Vorschrift handelt es sich um eine Ausnahmebestimmung, die im Interesse der Verkehrssicherheit eng auszulegen ist und nur in außergewöhnlichen Fällen ein Abgehen von den Verkehrsregeln der Binnenschiffahrtstraßen-Ordnung gestattet (Kählitz, Das Recht der Binnenschiffahrt Bd. II Anm. III 1 zu § 5 BSchSO). Ihre Anwendung kann daher nur dann in Betracht kommen, wenn ein regelwidriges Verhalten zur Abwendung einer unmittelbar drohenden Gefahr erforderlich und die Notwendigkeit hierzu völlig klar ist (vgl. auch Wassermeyer, Der Kollisionsprozeß 3. Aufl. S. 167).. Bestehen hingegen hinsichtlich der Erforderlichkeit eines regelwidrigen Verhaltens zur Abwendung einer unmittelbar drohenden Gefahr Bedenken und seien diese auch noch so gering, so Ist ein derartiges Verhalten nach § 5 BSchSO nicht zulässig, geschweige geboten.
Wendet man diese Grundsätze im Streitfall an, so ist es nicht zweifelhaft, daß ein Abgehen des Schubverbandes von dem festgelegten Begegnungskurs rechtswidrig gewesen wäre:

Der Schubverband hat nach ordnungsgemäßer Kursweisung seinen Kurs in die rechte Fahrwasserseite verlegt und mehrmals das Schallzeichen 2 x kurz gegeben.
Zumindest im Hinblick auf diese Maßnahmen durfte seine Führung erwarten, daß der Talfahrer, auch wenn seine Sicht auf die blaue Seitenflagge des Schubverbandes beeinträchtigt sein sollte, die Kursweisung erkennen und rechtzeitig befolgen werde. Daran änderte auch nichts der Umstand, daß der Talfahrer, wie dem angefochtenen Urteil zu entnehmen ist, eines oder mehrere (auf dem Schubverband allerdings nicht gehörte) Steuerbordschallzeichen gegeben hat. Denn in diesem Zusammenhang fällt - ebenso wie bei der Beurteilung der Bedeutung des von dem Talfahrer in der rechten Fahrwasserseite beibehaltenen Kurses - zunächst ins Gewicht, daß der Talfahrer nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts auf Grund seiner Länge von lediglich 38,6 m und seiner nur teilweisen Abladung wendig war und deshalb seine Fahrweise verhältnismäßig kurzfristig der Kursweisung des Schubverbandes anpassen konnte. Hinzu kommt, daß bei der Breite des Talfahrers (5,07 m) und den Annäherungskursen (Kopf auf Kopf) bereits eine kleinere Kursänderung des MS J nach Backbord genügte, um gefahrlos an der Steuerbordseite des Schubverbandes vorbeizufahren. Die Führung des Schubverbandes mußte daher bei ihren Entschlüssen im Auge haben, daß der Talfahrer ihre Kursweisung noch verhältnismäßig kurz vor der Vorbeifahrt befolgen konnte und werde. Sie hatte außerdem nach den rechtlich einwandfreien Ausführungen des Berufungsgerichts zu beachten, daß jeder schnelle Kurswechsel bei dem in Ufernähe verlaufenden Kurs des Schubverbandes praktisch unmöglich war und eine hierdurch mögliche Steuerbord-Schräglage des Verbandes erst recht zu einer Kollision führen mußte. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ist es augenscheinlich, daß eine Abweichung des Schubverbandes von dem festgelegten Begegnungskurs nautisch falsch und ein derartiges Manöver nicht durch § 5 BSchSO gedeckt gewesen wäre.
Die Frage, ob der Schubverband die Geschwindigkeit hätte herabsetzen oder gegebenenfalls anhalten müssen und dadurch den Zusammenstoß hätte verhindern können, ist nicht, wie das Berufungsgericht irrtümlich meint, nach § 5, sondern nach § 4 BSchSO zu beurteilen. Insoweit geht es nicht um die Abweichung von einer Bestimmung der Binnenschiffahrtstraßen-Ordnung. Das Berufungsgericht hätte deshalb in diesem Zusammenhang nicht erörtern dürfen, in welchem Zeitpunkt die Führung des Schubverbandes mit Sicherheit habe erkennen müssen, daß der Talfahrer ihre Kursweisung nicht befolgen werde. Vielmehr hätte es prüfen müssen, von wann ab die Führung des Schubverbandes vernünftigerweise Zweifel daran haben mußte, ob der Talfahrer ihre Kursweisung bemerkt habe. Denn die nach § 4 BSchSO zu beachtende allgemeine Sorgfaltspflicht und die berufliche Übung gebieten einem Schiffsführer, sofern möglich, die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs bereits dann herabzusetzen oder gegebenenfalls anzuhalten, wenn eine unklare Lage im Revier besteht. Diese Prüfung wird das Berufungsgericht nunmehr nachzuholen haben, wobei neben den in den Vorinstanzen bisher nicht erörterten Annäherungsgeschwindigkeiten Insbesondere die Frage bedeutsam sein kann, welche Maschinenmanöver die Führung des Schubverbandes während des Durchfahrens der starken Krümmung überhaupt vornehmen konnte, ohne den Verband zu gefährden."