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II ZR 123/69 - Bundesgerichtshof (-)
Entscheidungsdatum: 28.06.1971
Aktenzeichen: II ZR 123/69
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: -

Leitsatz:

Zur Frage, welche Pflichten den Fahrzeugen obliegen, die auf einer durchgehenden Schifffahrtstraße die unübersichtliche Einmündung einer anderen Schifffahrtstraße passieren oder die aus dieser Einmündung in die durchgehende Schifffahrtstraße ausfahren wollen.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 28. Juni 1971

(Schifffahrtsobergericht Hamm; Schifffahrtsgericht Dortmund)

Zum Tatbestand:

Die Klägerin ist führender Versicherer des MS „A". Sie nimmt die Beklagten als Eigner des MS „D", den Beklagten zu 3 außerdem als verantwortlichen Führer dieses Schiffes wegen eines Zusammenstoßes in Anspruch, der sich zwischen beiden Fahrzeugen im Bereich der Einmündung des Datteln-Hamm-Kanals in den Dortmund-Ems-Kanal ereignet hat. MS „D" kam auf dem Dortmund-Ems-Kanal zu Berg (in Richtung Dortmund). Dieser verläuft an der Unfallstelle annähernd von Süden nach Norden und ist nördlich der Einmündung 42 m breit. Hier fuhr MS „D" in unmittelbarer Nähe des Ostufers des Kanals, das von einer den Wasserspiegel etwa 3 m überragenden Spundwand gebildet wird, welche in einer stumpfwinkligen Ecke in den Datteln-Hamm-Kanal hineingezogen ist. Während der Vorbeifahrt an der Einmündung des Datteln-Hamm-Kanals, die von Osten kommend rechtwinklig in den Dortmund-Ems-Kanal führt und deren Mündungstrichter zuletzt mehr als 200 m breit ist, stieß MS „D" mit dem Steuerbordvorschiff gegen das Steuerbordvorschiff des MS „A". Dieses Schiff war gerade im Begriff, aus dem Datteln-Hamm-Kanal zu einer Talfahrt in den Dortmund-Ems-Kanal einzubiegen. Durch den Zusammenstoß wurden beide Fahrzeuge beschädigt.
Die Klägerin wirft dem Beklagten zu 3 vor, er sei - wie unstreitig ist - mit MS „D" bis zur Einmündung des Datteln-Hamm-Kanals hart backbord an der Spundwand entlang gefahren. Das sei nautisch falsch gewesen, weil die Spundwand die Sicht aus dem Dortmund-Ems-Kanal in den Datteln-Hamm-Kanal und umgekehrt versperre. Außerdem habe der Beklagte zu 3 zum Unfallzeitpunkt kein Schifferpatent besessen und einen Blutalkoholgehalt von mindestens 1,44 Promille gehabt. Auch das ist unstreitig.
Die Klägerin verlangt von den Beklagten als Gesamtschuldnern Schadenersatz in Höhe von etwa 9300,- DM.
Die Beklagten haben Klageabweisung beantragt. Nach ihrem Vorbringen mußte MS „D" in unmittelbarer Nähe der Spundwand fahren, weil das Schiff - trotz Sperrsignal - an seiner Steuerbordseite von MS „E 13" überholt worden sei. Außerdem trifft nach ihren weiteren Darlegungen die Führung des MS „A" zumindest ein Mitverschulden an dem Zusammenstoß. Dieses Fahrzeug habe keine Schallzeichen gegeben; ferner sei es mit zu hoher Geschwindigkeit gefahren; auch habe es das Ausfahrtmanöver falsch durchgeführt. Fürsorglich rechnen die Beklagten gegen die Klageforderung mit einer Gegenforderung von ca. 8600,- DM auf. Dieser Betrag entspreche der Höhe ihres Unfallschadens.
Schifffahrts- und Schifffahrtsobergericht haben der Klage stattgegeben. Auf die Revision der Beklagten ist das Urteil des Schifffahrtsobergerichts aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht verwiesen worden.

Aus den Entscheidungsgründen:

Nach § 49 BinSchStrO in der zur Unfallzeit geltenden Fassung vom 19. Dezember 1954 hatten an der Einmündung einer Schifffahrtstraße in eine andere die Fahrzeuge auf der durchgehenden Schifffahrtstraße die Vorfahrt. Diese Berechtigung umfasste bei dem hier interessierenden Dortmund-Ems-Kanal die gesamte Breite der Schifffahrtstraße. Das folgt bereits daraus, dass das Rechtsfahren auf den westdeutschen Kanälen, zu denen der Dortmund-Ems-Kanal gehört (§ 1 -WK- BinSchStrO), jedenfalls vor der Neufassung der Binnenschifffahrtsstraßenordnung im Jahre 1971 nicht vorgeschrieben war und, wie dem Zusammenhang des angefochtenen Urteils zu entnehmen ist, auch keine verbindliche Übung der Schifffahrttreibenden dahin bestand. Das Vorfahrtsrecht der Fahrzeuge auf einer durchgehenden Schifffahrtstraße befreit diese jedoch nicht von der sich aus § 50 Nr. 3 Satz 1 (jetzt: § 6.16 Nr. 3) BinSchStrO ergebenden Pflicht, den Ausfahrenden durch eine Änderung des Kurses oder der Geschwindigkeit zu unterstützen. Des weiteren gilt auch für sie der allgemeine, in § 4 (jetzt: § 1.04) BinSchStrO ausgesprochene Grundsatz, dass die Schiffsführer über die Bestimmungen dieser Polizeiverordnung hinaus alle Vorsichtsmaßregeln zu treffen haben, welche die allgemeine Sorgfaltspflicht und die berufliche Übung gebieten, um gegenseitige Beschädigungen der Fahrzeuge oder Behinderungen der Schifffahrt zu vermeiden. Das bedeutet aber, dass sie in Fällen, in denen der Ausfahrende vor dem Passieren der Mündungslinie wegen der örtlichen Gegebenheiten keine oder nur eine beschränkte Sicht auf die durchgehende Schifffahrtstraße hat, verpflichtet sind, denjenigen Teil der durchgehenden Schifffahrtstraße freizuhalten, den der Ausfahrende benötigt, um volle Sicht zu erlangen, oder diesen Teil erst dann zu befahren, nachdem sie sich zuvor vergewissert haben, dass sie hierdurch ein ausfahrendes Schiff weder behindern noch gefährden. Sonst wäre es in derartigen Fällen einem ausfahrenden Schiff - jedenfalls in zumutbarer Weise - nicht oder nur schwer möglich, sich ohne eigene Gefährdung oder die Gefährdung anderer Fahrzeuge uneingeschränkte Sicht auf die durchgehende Schifffahrtstraße zu verschaffen.
Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts betrug der Abstand des MS „D" zu der das Ostufer des Dortmund-Ems-Kanals bildenden Spundwand und ersichtlich auch zu der sich an die Spundwand anschließenden Mündungslinie „nicht wesentlich mehr als einen Meter". Dass diese Feststellung, wie die Revision rügt, auf einem Verfahrensverstoß beruhen oder nicht hinreichend klar sein soll, ist nicht erkennbar. Ein solcher Abstand zur Mündungslinie ermöglicht es aber einem Fahrzeug, das den Datteln-Hamm-Kanal verlassen will, nicht, ungefährdet volle Sicht auf den Dortmund-Ems-Kanal zu gewinnen. Deshalb hat der Beklagte zu 3, dem die Sichtbehinderung der aus dem Datteln-Hamm-Kanal ausfahrenden Fahrzeuge bekannt war, § 4 BinSchStrO verletzt.
Das Berufungsgericht verneint jedes Mitverschulden der Führung des MS „A". Es meint - in Übereinstimmung mit den gutachtlichen Äußerungen des Sachverständigen D. - MS „A" habe kein zweites Schallzeichen geben müssen; auch sei die Durchführung der Ausfahrt nicht zu beanstanden. Damit verkennt das Berufungsgericht die Pflichten, die MS „A" zu beachten hatte.

a) Nähert sich ein Fahrzeug, das aus dem Datteln-Hamm-Kanal ausfahren will, der Mündungslinie mit einer Geschwindigkeit von 2-2,5 km/Std. (so MS „A" nach den Angaben seines Schiffsführers), so legt es in einer Minute zwischen 33,3 und 41,6 m zurück. Gibt es, wie hier, das Schallzeichen nach § 50 Nr. 3 Satz 2 (jetzt: § 6.16 Nr. 2) BinSchStrO 100 m vor der Mündungslinie, so benötigt es noch 3 bzw. 21/2   Minuten bis zu deren Passieren. In dieser Zeitspanne legt aber ein Schiff, das den Dortmund-Ems-Kanal mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 9 km/Std. (vgl. § 18 -WK- BinSchStrO) befährt, 450 bzw. 375 m zurück. Nimmt man hierzu in Betracht, dass die Hörbarkeit von Schallzeichen im Bereich der Einmündung durch die hohe Spundwand beeinträchtigt sein kann, so ist zu verlangen, dass das ausfahrende Fahrzeug das Schallzeichen in einer wesentlich geringeren Entfernung zur Mündungslinie wiederholt. Hierzu war die Führung des MS „A" aber auch deshalb verpflichtet, weil sie die Ausfahrt in riskanter Weise durchführen wollte (vgl. nachfolgend b). Schon deshalb trifft sie ein Mitverschulden an der Kollision.

b) Der Senat vermag auch nicht die Auffassung des Berufungsgerichts zu teilen, MS „A" habe das Ausfahrtmanöver nautisch einwandfrei durchgeführt. Zwar durfte die Führung des MS „A" darauf vertrauen, dass die Bergfahrt auf dem Dortmund-Ems-Kanal ihrem Fahrzeug denjenigen Teil des Fahrwassers überlassen werde, den MS „A" zur vollen Sicht in den Dortmund-Ems-Kanal benötigte. Das entband sie jedoch nicht von der Pflicht, ihrerseits alles zu unternehmen, um jede Gefährdung oder jede über den Rahmen des § 50 Nr. 3 Satz 1 BinSchStrO hinausgehende Behinderung der Fahrzeuge auf dem Dortmund-Ems-Kanal zu vermeiden.
Hierzu gehörte aber nicht nur, dass sie einen Ausguck aufstellte und sich mit langsamster Fahrt der Mündungslinie näherte. Vielmehr musste sie für die Ausfahrt einen Kurs wählen, der ihr möglichst früh Sicht auf den Teil des Dortmund-Ems-Kanals gestattete, den sie befahren wollte. Ferner muss sie die mit der Ausfahrt verbundenen Manöver so durchführen, dass ihr Fahrzeug zunächst nicht weiter in den Dortmund-Ems-Kanal geriet, als für den Einblick in diesen erforderlich war.
Danach war es aber falsch, wenn das 66 m lange MS „A" in Schrägfahrt die stumpfwinklige Ecke der Spundwand hart anhielt, anstatt sich noch innerhalb des Mündungstrichters aufzustrecken und die Ausfahrt möglichst in der Mitte der zuletzt mehr als 200 m breiten Einmündung vorzunehmen. Wenn das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang im Anschluss die gutachtlichen Äußerungen des Sachverständigen D. ausführt, das harte Anhalten der Ecke der Spundwand durch MS „A" sei wegen des einschwenkenden Achterschiffes sachgemäß gewesen, zumal die Führung dieses Schiffes auch damit habe rechnen müssen, dass auf dem Dortmund-Ems-Kanal zu Berg kommende Fahrzeuge in den Datteln-Hamm-Kanal einbiegen wollten, so beachtet es weder hinreichend die große Breite des Mündungstrichters noch genügend den Umstand, dass ein in den Datteln-Hamm-Kanal einfahrendes Fahrzeug gegenüber dem ausfahrenden MS „A" nicht bevorrechtigt war und die Einfahrt unter anderem erst dann vornehmen durfte, wenn es volle Sicht auf die Einmündung hatte.