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Leitsatz:
Zu den Anforderungen an die beiderseitigen Sorgfaltspflichten, wenn auf dem Oberrhein im Nebel ein Radarfahrer einem zulässig ohne Radar zu Berg kommenden Fahrzeug begegnet.
Urteil des Bundesgerichtshofes
vom 20. September 1973
II ZR 119/72
(Rheinschiffahrtsgericht Mannheim; Rheinschiffahrtsobergericht Karlsruhe)
Zum Tatbestand:
Bei nebligem Wetter kollidierte auf dem Oberrhein bei km 305 das mit eingeschaltetem Radargerät zu Tal fahrende leere TMS H mit dem leeren zu Berg kommenden, dem Beklagten zu 1 gehörenden und vom Beklagten zu 2 geführten MS He. Beide Schiffe wurden beschädigt.
Die Klägerin verlangt aus abgetretenem Recht Ersatz des Kollisionsschadens von ca. 63 000 hfl. an TMS H, weil MS He - obwohl nicht mit Radargerät ausgerüstet - die Fahrt bei einer Sicht von nur 50-100 m fortgesetzt und außerdem kurz vor der Begegnung den Kurs vom rechten zum linken Ufer geändert habe, in dessen Nähe TMS H unter wiederholter Abgabe des Dreitonzeichens und des Schallzeichens „2 x kurz" gefahren sei.
Die Beklagten tragen vor, daß MS He bei ausreichender Sicht von 100-200 m den unterhalb km 305 üblichen Ubergang gemacht habe und auf Höhe dieses Kilometerpunktes wieder aufgestreckt gewesen sei. Seine durch Nichtzeigen der blauen Flagge gegebene Weisung zur Backbordbegegnung habe der Talfahrer nicht befolgt, sondern sei zum linken Ufer gefahren, wo die Kollision nicht mehr vermeidbar gewesen sei.
Das Rheinschiffahrtsgericht und das Rheinschiffahrtsobergericht haben die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Auf die Revision der Beklagten ist die Sache zur anderweiten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen worden.
Aus den Entscheidungsgründen:
Begegnungskollisionen beruhen dort, wo es keine festgelegten Begegnungskurse gibt, vielfach auf einem Mißverständnis darüber, an welcher Seite des Bergfahrers der Talfahrer vorbeifahren soll. Derartige Mißverständnisse können insbesondere dann entstehen, wenn die Wahrnehmbarkeit der Kursweisung des Bergfahrers, die durch Zeigen oder Nichtzeigen bestimmter Sichtzeichen gegeben wird (§ 38 Nr. 2 und 3 RheinSchPolVO 1954; 6.04 Nr. 2 und 3 RheinSchPolVO 1970), beeinträchtigt ist. Letzteres ist vor allem bei unsichtigem Wetter der Fall. Dichter Nebel kann außerdem die Hörbarkeit von Schallzeichen oder die Orientierung danach erschweren oder sogar beseitigen. Deshalb wird der Bergfahrt nahegelegt, bei schlechten Sichtverhältnissen einen möglichst breiten Weg für die Talfahrt freizumachen, damit die Seite, an der sie die Talfahrt passieren lassen will, dieser beim Insichtkommen eindeutig klar erscheint (Merkblatt der Rheinzentralkommission für die Fahrt bei unsichtigem Wetter [Guide-Radar], Ziff. 3). Ferner sind in solchen Fällen Berg- und Talfahrt grundsätzlich gehalten, gestreckte Kurse zu fahren (vgl. BGH VersR 1972, 852, 853, Urt. v. 5. Juni 1972 - II ZR 79/70*). Außerdem gewinnt bei unsichtigem Wetter die Einhaltung schiffahrtsüblicher Kurse für die Sicherheit des Verkehrs eine ihr bei sichtigem Wetter nicht zukommende (vgl. BGH LM Nr. 3 zu BinnSchStrO, Urt. v. 13, Januar 1964 - II ZR 103/62**]) Bedeutung. Das ist insbesondere der Fall, wenn die Fahrwasserverhältnisse - wie bei dem in zahlreichen Windungen zwischen Gründen verlaufenden Oberrhein - zu Uferwechseln nötigen und sich dadurch bestimmte Kurse für die Berg- und für die Talfahrt herausgebildet haben. Hier wird die Führung eines Fahrzeugs ihrer allgemeinen Sorgfaltspflicht und der beruflichen Übung (§ 4 RheinSchPolVO 1954; § 1.04 RheinSchPolVO 1970) nicht hinreichend gerecht, wenn sie bei unsichtigem Wetter einen Uferwechsel an einer Stelle vornimmt, wo ein solcher für einen Gegenkommer unerwartet und damit regelmäßig auch gefährlich ist. Das gilt selbst dann, wenn die tatsächlichen Sichtverhältnisse die Fahrt ohne Radar nur noch in einer Richtung erlauben.
Radarfahrer können Sichtzeichen anderer Fahrzeuge lediglich optisch wahrnehmen, da das Radargerät solche Zeichen nicht zeigen kann. Das kann vor allem dort, wo die tatsächlichen Sichtgegebenheiten allein eine Fortsetzung der Fahrt nicht mehr oder nur noch in einer Fahrtrichtung gestatten, zu erhöhten Gefahren bei Begegnungen zwischen Radarfahrern oder zwischen ihnen und Nichtradarfahrern führen. Insoweit ist allerdings auch zu beachten, daß alle Radarfahrzeuge seit 1. Oktober 1968 mit einer Sprechfunkanlage ausgerüstet sein müssen, die die Verständigung von Schiff zu Schiff gestattet und bei der Fahrt mit Radar ständig auf dem vorgeschriebenen Sprechweg auf Empfang geschaltet oder zum Senden von Mitteilungen benutzt werden muß, und außerdem die Radarbergfahrer grundsätzlich verpflichtet sind, den Gegenkommern über Sprechfunk Standort und Fahrtrichtung des eigenen Fahrzeugs mitzuteilen sowie anzusagen, ob sie die blaue Flagge oder das weiße Blink-(Funkel)-licht zeigen oder nicht, worauf die Radartalfahrer den Radarbergfahrern über Sprechfunk den ihnen gewiesenen Weg zu bestätigen haben (§ 1 Nr. IV der - nach § 102 Nr. 3 RheinSchPolVO 1954 erlassenen - Bekanntmachung für die Rheinschiffahrt über die Fahrt mit Radar und bei unsichtigem Wetter vom 16. Juli 1968, VkBI. 1968, 373; § 6.33 Nr. 1 b; § 6.35 Nr. 3 RheinSchPolVO 1970). Die Möglichkeit für eine solche Kursverständigung besteht aber vielfach nicht bei Begegnungen zwischen Radarfahrern und Nichtradarfahrern, weil die letzteren nicht mit einer Sprechfunkanlage ausgerüstet sein müssen. Immerhin sorgt hier für eine gewisse Sicherheit die Vorschrift, daß Radartalfahrer ein besonderes Schallzeichen, das Dreitonzeichen, geben müssen, und daß andere Fahrzeuge, die dieses Zeichens hören, gehalten sind, in Ufernähe zu bleiben, oder wenn sie sich nicht in der Nähe eines Ufers befinden, insbesondere wenn sie gerade von einem Ufer zum anderen wechseln, das Fahrwasser so weit wie möglich freizumachen haben (§ 1 Nr. II Ziff. 1 und 3 der Bek. v. 16. Juli 1968; § 6.35 Nr. 2, § 6.36 RheinSchPolVO 1970). Daraus ergibt sich eine Einschränkung der Kursweisungsbefugnis der Bergfahrt dahin, daß sie den Radartalfahrer an der Seite vorbeifahren lassen muß, wo sich die größere Seite des Fahrwassers befindet (vgl. auch Wassermeyer, Der Kollisionsprozeß in der Binnenschiffahrt 4. Aufl. S. 329, 330). Das entbindet aber die Radartalfahrt nicht von der Pflicht, auch ihrerseits alles zu tun, um Kollisionen mit Gegenkommern zu vermeiden. Sie muß daher die Geschwindigkeit vermindern und, falls nötig, Bug zu Tal anhalten oder aufdrehen, sobald Standort oder Kurs des Gegenkommers eine Gefahrenlage verursachen können (§ 1 Nr. II Ziff. 2 der Bek. v. 16. Juli 1968; § 6.35 Nr. 2 b RheinSchPolVO 1970). Dabei ist unter Kurs nicht lediglich die Lage und Fahrtrichtung des Gegenkommers bei seiner Wahrnehmung auf dem Radarschirm zu verstehen. Vielmehr ist auch zu beachten, welchen Weg dieser voraussichtlich nehmen wird. Deshalb kann der Radartalfahrer dort, wo die Bergfahrt wegen der Fahrwasserverhältnisse einen Übergang zu machen pflegt, erst dann sicher sein, daß ein Gegenkommer den Uferwechsel unterläßt, wenn es zwischen ihnen - sei es durch Schallzeichen oder auf andere Weise - zu einer Verständigung gekommen ist oder sich aus sonstigen Umständen eindeutig ergibt, daß der Gegenkommer auf der bisher eingehaltenen Seite bleiben wird. Stets muß der Radartalfahrer auch im Auge haben, daß Fahrzeuge, die sich nicht über Sprechfunk melden, möglicherweise ohne Radar fahren, und daß die Wahrnehmbarkeit des Dreitonzeichens im Nebel beeinträchtigt sein kann.
Beurteilt man den Streitfall anhand dieser Grundsätze, so ergibt sich folgendes:
Nach dem vom Berufungsgericht erwähnten Fahrthinweis im Rheinatlas fährt die Bergfahrt von Strom-km 305,6 langsam das linke Ufer an. Das bedeutet jedoch nicht, wie das Berufungsgericht anscheinend meint, daß die Bergfahrt bereits wenige hundert Meter oberhalb von diesem Punkt das linke Ufer oder zumindest die linke Seite des Fahrwassers erreichen muß. Vielmehr besagt der Fahrthinweis lediglich, daß sie ab Strom-km 305,6 den Kurs nach linksrheinisch auf einen etwa 1000m oberhalb (somit bei Strom-km 304,6) liegenden Uferpunkt richtet. Das folgt aus der Erklärung der Worte „langsam anfahren" im Rheinatlas (S. II linke Spalte). Danach bedeuten sie: „Auf einen etwa 10 Hektometer (= 1000 m) entfernten Punkt zufahren." Verhält sich aber ein Fahrzeug ab Strom-km 305,6 in dieser Weise, so bleibt es etwa bis zum Scheitelpunkt des Diersheimer Grundes in dessen Nähe, da sich der Grund von seinem unteren Ende bei Strom-km 305,6 bis zu dem noch oberhalb von Strom-km 305,0 befindlichen Scheitelpunkt stetig vom (rechten) Ufer bis etwa zur Strommitte hin verbreitert. Zugleich nutzt es damit den Stromschatten des Grundes, was im allgemeinen die Bergfahrt ohnehin so lange wie möglich versucht, weil dort die Strömung am schwächsten ist (vgl. Rheinatlas, S. XIII rechte Spalte). Wenn sich daher MS „Heike" erst im Bereich von Strom-km 305,0 von dem Diersheimer Grund löste und nunmehr wegen des Nebels rasch auf die linke Fahrwasserseite hinüberging, so vollzog es damit kein für einen Gegenkommer unerwartetes Manöver. Wegen dieser Fahrweise kann ihm daher - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts - kein Vorwurf gemacht werden.
Anders verhält es sich hingegen insoweit, als MS He nach dem Hören eines Dreitonzeichens den Obergang zum linken Ufer fortgesetzt hat. Das Schiff hatte in diesem Augenblick die linke Fahrwasserseite noch nicht erreicht. Es hätte deshalb, wie das Berufungsgericht mit Recht angenommen hat, den Uferwechsel abbrechen und durch ein erneutes Beigehen an den rechtsrheinischen Grund das steuerbordseitige Fahrwasser so weit wie möglich freimachen müssen. Das wäre um so mehr geboten gewesen, als das dem Dreitonzeichen unmittelbar nachfolgende Schallzeichen „2 x kurz" anzeigte, daß der Radartalfahrer den „Kurs nach Backbord richtet" (§ 24 Nr. 1 c RheinSchPolVO 1954), sich demnach im linken Teil des etwa 90 m breiten Fahrwassers hielt.
Da die Führung des TMS H nach der Fahrweise des Gegenkommers nicht sicher sein konnte, daß dieser auch über den Bereich von Strom-km 305,0 hinaus rechtsrheinisch bleiben werde, hätte sie die Fahrt nur dann fortsetzen dürfen, wenn sich hierfür auf Grund anderer Umstände ein sicherer Anhalt ergeben hätte. Das ist nicht der Fall. So konnte sich die Führung des TMS H nicht etwa darauf verlassen, daß der Gegenkommer mit Radar fahre, weil der Nebel aus ihrer Sicht (nach den Angaben der Besatzung des TMS H lag die tatsächliche Sichtweite zwischen 50 und 100 m) die Fahrt ohne Radar nicht erlaubte. Denn der Gegenkommer meldete sich nicht, wie es ein Radarfahrzeug hätte tun müssen, über Sprechfunk. Ferner konnte sie wegen des dichten Nebels nicht darauf vertrauen, daß der Gegenkommer die Schallzeichen ihres Fahrzeuges hörte (und sich sodann danach richtete), zumal sie selbst Erwiderungszeichen bis unmittelbar vor der Kollision nicht vernahm. Deshalb konnte sie nicht, wie das Berufungsgericht meint, erwarten, daß die Begegnung glatt vonstatten gehen werde. Vielmehr hätte sie, die durch ihr Radargerät einen guten Überblick über das Revier hatte, TMS H ständig machen müssen, sobald feststand, daß eine rechtzeitige Kursverständigung mit dem Gegenkommer nicht möglich war. Das unterlassen zu haben, gereicht ihr zum Vorwurf.
Danach hängt die Entscheidung über die Klageforderung von der Schwere des beiderseits obwaltenden Verschuldens ab (§ 92 BinnSchG in der bis zum 5. September 1972 geltenden Fassung in Verbindung mit § 736 Abs. 1 HGB). Hierzu bedarf es weiterer Prüfung durch das Berufungsgericht, da es - von seinem Standpunkt aus zu Recht - die Frage offen gelassen hat, welche Sicht MS He tatsächlich hatte und ob es mit Rücksicht darauf die Fahrt nicht mehr hätte fortsetzen dürfen.