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II ZR 105/74 - Bundesgerichtshof (-)
Entscheidungsdatum: 01.04.1976
Aktenzeichen: II ZR 105/74
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Bundesgerichtshof Karlsruhe
Abteilung: -

Leitsätze:

1) Zur Frage der Vereinbarkeit der Vorschriften des 3. Abschnitts des Binnenschiffsverkehrsgesetzes über die Frachtenbildung mit übergeordnetem Recht der Europäischen Gemeinschaften.

2) Zu den Voraussetzungen des Anspruchs des Bundes auf Zahlung des Unterschiedsbetrages im Falle einer Frachtunterschreitung.

3) Die Zahlung des Unterschiedsbetrages gemäß § 31 Abs. 3 BSchVG kann nur von dem verlangt werden, der einen Vorteil erlangt hat. Eine doppelte Geltendmachung des gleichen Differenzbetrages sowohl gegen den Absender als auch gegen den Hauptfrachtführer, wenn dessen Tarifunterschreitung im Vertrag mit einem Unterfrachtführer nicht höher ist als ein Frachtvertrag mit dem Absender, ist nicht zulässig.

Urteil des Bundesgerichtshofes

vom 1. April 1976

II ZR 105/74

(Landgericht Hamburg; Oberlandesgericht Hamburg)

Zum Tatbestand:

Die Beklagte zu 1 handelt mit Brennstoffen. Sie hatte mit 3 Reedereien, u. a. mit der Beklagten zu 2 einen Kontrakt über den Transport von 30 000 t Koksgrus von H. nach L. abgeschlossen. Im Rahmen dieses Transportvertrages wurden auch verschiedene Transporte von Koks IV durchgeführt, die zu dem niedrigen Sondertarif für Koksgrus, und zwar um 2,54 DM/t billiger als nach der Tariffracht für Kohle, abgerechnet wurden. Die Beklagte zu 2 gab 4 Kokstransporte an Partikuliere als Unterfrachtführer weiter und bezahlte auch diesen die Fracht nach dem Sondertarif für Koksgrus.
Die Klägerin verlangt Zahlung der Unterschiedsbeträge gemäß § 31 Abs. 3 BSchVG wegen vorsätzlicher Unterschreitung der Tariffracht durch alle Beteiligten. Wenn auch der gesamte Unterschiedsbetrag von der Beklagten zu 1 zu zahlen sei, könne der auf den Beklagten zu 2 entfallende Teilbetrag nochmals gefordert werden, da Hauptfrachtvertrag und Unterfrachtvertrag rechtlich selbständige Vereinbarungen seien.
Die Beklagten halten die Frachtenbildungsvorschriften des Binnenschiffsverkehrsgesetzes für grundgesetzwidrig. Im übrigen liege kein vorsätzlicher oder fahrlässiger Verstoß vor.
Das Landgericht hat der Klage voll, das Oberlandesgericht nur teilweise stattgegeben. Unter Zurückweisung der Revision des Beklagten zu 1 wurde die Klage gegen den Beklagten zu 2 auf dessen Revision in vollem Umfang abgewiesen

Aus den Entscheidungsgründen:

„...
Der Klägerin steht gegen die Beklagte zu 2 kein Anspruch auf Zahlung des Unterschiedsbetrages gemäß § 31 Abs. 3 BSchVG zu. Nach der - allerdings erst nach Verkündung des Berufungsurteils ergangenen - Entscheidung des Senats in BGHZ 64, 159 setzt der Anspruch des Bundes nach § 31 Abs. 3 BSchVG voraus, daß derjenige, von dem die Zahlung des Unterschiedsbetrages verlangt wird, durch den Tarifverstoß tatsächlich einen Vorteil erlangt hat. Dies ist bei einem Hauptfrachtführer dann nicht der Fall, wenn die unzulässige Tarifunterschreitung im Vertrag mit dem Unterfrachtführer nicht höher ist als im Frachtvertrag mit dem Absender. Nach diesen Grundsätzen haftet die Beklagte zu 2 selbst dann nicht, wenn unterstellt wird, daß die sonstigen Voraussetzungen von § 31 Abs. 3 BSchVG vorliegen. Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß sich von der gegen die Beklagte zu 1 als Absenderin noch geltend gemachten Forderung ein Teilbetrag von 655,32 DM (258 t x 2,54 DM) auf denselben Transport vom 22. April 1969 bezieht, für den die Klägerin von der Beklagten zu 2 den Unterschiedsbetrag von 597,60 DM verlangt. Die Klägerin fordert demnach diesen Betrag doppelt.
Dies entspricht nach der Rechtsprechung des Senats nicht dem Sinn und Zweck des § 31 Abs. 3 BSchVG. Aus der Frachtunterschreitung hat vielmehr nur die Beklagte zu 1 tatsächlich einen Vorteil erlangt. Deshalb ist auch nur sie und nicht die Beklagte zu 2 zum Tarifausgleich verpflichtet.
Die Revision meint, das Frachtenbildungsverfahren des Binnenschiffsverkehrsgesetzes stehe im Widerspruch zu den Pflichten, die die Bundesrepublik Deutschland in dem Vertrage zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (BGBI. 1957 II 766 EWGV) übernommen habe. Die Vorschriften des Binnenschiffsverkehrsgesetzes über die Frachtenbildung verletzten den Grundsatz der Freizügigkeit im Dienstleistungsverkehr (Art 59ff. EWGV), weil die Mitglieder der Frachtenausschüsse auf Vorschlag von Verbänden berufen würden, die ausschließlich die Interessen der inländischen Gewerbetreibenden wahrnähmen. Uberdies sieht die Revision auch eine Verletzung von Art. 79 EWGV in Verbindung mit der Verordnung Nr. 11 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Beseitigung von Diskriminierungen auf dem Gebiet der Frachten- und Beförderungsbedingungen gemäß Ar. 79 Abs. 3 EWGV (BGBI. 1960 II 2209). Aus diesen Gründen, so meint die Revision, sei der Rechtsstreit auszusetzen und dem Europäischen Gerichtshof zu einer Vorabentscheidung darüber vorzulegen, ob das Binnenschiffsverkehrsgesetz mit der gebotenen Auslegung des EWG-Vertrages vereinbar „ist".
Die Prüfung und Entscheidung der Frage, ob nationales Recht mit Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren ist, obliegt allein den nationalen Gerichten (ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, vgl. z. B. EuGH Rs 100/63 Rspr. X 1230; Rs 6/64 Rspr. X 1268; ebenso BVerfGE 31, 145). Eine Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof besteht nur, soweit dies in den Europäischen Verträgen ausdrücklich vorgsehen ist. Daran fehlt es hier.
Im vorliegenden Fall kommt - was die Revision übersehen hat - in erster Linie das Recht der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) in Betracht, weil die umstrittenen Frachtverträge den Transport sogenannter Montangüter zum Gegenstand hatten (vgl. Anl. 1 zum Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, BGBI. 1952 II 467 und Art. 70 EGKSV) und der EWG-Vertrag die Bestimmungen über die Gründung der EGKS nicht geändert hat (Art. 232 EWGV).

Das Recht der EGKS enthält keine Vorschriften, mit denen das Frachtenbildungsverfahren des Binnenschiffsverkehrsgesetzes nicht zu vereinbaren wäre. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl enthält in Art. 70 Vorschriften für Transporttarife und das Verbot der Diskriminierung. In den Absätzen 1, 2 und 4 dieser Bestimmung sind die materiellen Grundsätze niedergelegt, die bei der Aufstellung der Transporttarife von den Vertragsstaaten zu beachten sind und denen die festgesetzten Tarife zu entsprechen haben. Vorschriften darüber, wie diese Tarife aufgestellt werden, enthält der Vertrag hingegen nicht. Nach Art. 70 Abs. 5 bleibt vielmehr „vorbehaltlich der Bestimmungen dieses Artikels sowie der anderen Vertragsbestimmungen (die sich mit der Frachtenbildung nicht befassen) die Verkehrspolitik, insbesondere die Aufstellung oder Änderung von Tarifen und Beförderungsleistungen jeder Art ... den gesetzlichen Vorschriften und Durchführungsbestimmungen eines jeden Mitgliedstaates unterworfen". Danach sind die Mitgliedstaaten bei der gesetzlichen Regelung des Frachtenbildungsverfahrens frei und schon deshalb nicht gezwungen, Ausländer an der Aufstellung der Frachten mitwirken zu lassen.

Daran ändert sich selbst dann nichts, wenn man - ohne diese Frage zu entscheiden - die Zulässigkeit einer ergänzenden Anwendung von EWG-Bestimmungen auf den EGKS-Vertrag unterstellt (vgl. hierzu Petersmann in Groeben-Boeckh, Handbuch für Europäische Wirtschaft, Bd. 10, Kommentar zu Art. 232 EGWV, S. 240, 241) und insoweit Art. 177 EWGV heranzieht, der (im Gegensatz zu Art. 41 EGKSV) auch die Auslegung von Gemeinschaftsrecht dem Europäischen Gerichtshof vorbehält.

Über die Tarifpolitik bestimmt das Verkehrsrecht des EWGV lediglich, daß Frachtendiskriminierungen (Art. 79) und Unterstützungstarife (Art. 80) verboten sind (vgl. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 48/36). Es handelt sich dabei um materielle Bedingungen, denen die festgesetzten Frachten entsprechen müssen. Eine Regelung über das Verfahren zur Frachtenbildung ist auch hier im Vertrage nicht getroffen.

Insbesondere enthält die Verordnung Nr. 11 keine einschlägigen Vorschriften. Dem entspricht es, daß die Kommission der Europäischen Gemeinschaften in der Empfehlung vom 31. Januar 1968 (ABI. Nr. L 218 v. 4. 9. 1968 S. 10) an die Bundesrepublik Deutschland zu den Gesetzentwürfen des sogenannten Leber-Planes (BTDs. V/2494) in Nr. 25 ausgeführt hat: „Gegen die in Art. 1 Nr. 2-12 des Entwurfs (des Gesetzes zur Änderung des Binnenschiffsverkehrsgesetzes) vorgesehenen Änderungen der gesetzlichen Vorschriften über die Preisbildung bestehen keine Bedenken. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, daß sich die Rechtslage wieder ändern könnte, wenn der Rat den Vorschlag der Kommission vom 27. Oktober 1965 angenommen hat." Die Nrn. 2 bis 12 des Art. 1 des Entwurfs befassen sich ausschließlich mit den Frachtenausschüssen und der Frachtenbildung.

Die Revision hält das Frachtensystem des Binnenschiffsverkehrsgesetzes gemäß Art. 12 GG für verfassungswidrig, weil es keine Bestimmungen über die Festsetzung von allgemeinen Beförderungsbedingungen enthalte, deshalb der Umgehung der Tarife Tür und Tor öffne und daher unwirksam sei. Einen Verstoß gegen das Ubermaßverbot des Art. 12 GG sieht die Revision ferner darin, daß im Binnenschiffsverkehrsgesetz kein Verfahren über eine einstweilige Frachtfestsetzung bis zum Abschluß des umständlichen und langwierigen Festsetzungsverfahrens vorgesehen ist. Dem kann nicht beigetreten werden.

Der Senat hat im Urteil vom 20. März 1975 - II ZR 87/73 (ZfB 1975, 208 = VersR 1975, 710) - gegen das Verfassungsbeschwerde eingelegt, aber durch Beschluß des Bundesverfassungsgerichts v. 27. August 1975 - 1 BvR 196/75 nicht angenommen worden ist - dargelegt, daß das Frachtenbildungsverfahren des Binnenschiffsverkehrsgesetzes mit Art. 12 GG vereinbar ist. Daran ist festzuhalten.
Das Fehlen der Möglichkeit, die Tarife den jeweiligen Marktverhältnissen alsbald durch einstweilige Festsetzung anzupassen, verletzt Art. 12 GG nicht. Der Gesetzgeber durfte, da es sich vorliegend um eine Berufsausübungsregelung handelt, im Rahmen der ihm zuzubilligenden Zweckmäßigkeitserwägungen auf die Einrichtung eines solchen Verfahrens verzichten.
Das Berufungsgericht stellt aufgrund der Beweisaufnahme fest, daß nach der Verkehrsanschauung der beteiligten Kreise stets zwischen Koks I-IV oder Koks 1-111 und Feinkoks IV einerseits und Koksgrus unterschieden werde. Dem Fachhandel sei es geläufig, daß Körnungen von über 10 mm nicht mehr als Koksgrus bezeichnet werden könnten. Die von der Revision gegen diese Feststellungen erhobene Verfahrensrüge hat der Senat geprüft, aber nicht für durchgreifend erachtet (§ 565a ZPO).
Bei der Erörterung der subjektiven Voraussetzungen geht das Berufungsgericht zutreffend davon aus, daß die Klage nur begründet ist, wenn beide Vertragspartner den Tarifverstoß vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeiführen.
Die Kenntnis der Tarifverstöße auf seiten der an den Frachtverträgen beteiligten Reedereien leitet das Berufungsgericht aus dem Schreiben vom 25. März 1969 an den Frachtenausschuß her. Es führt aus, daraus gehe hervor, daß die Reedereien spätestens seit diesem Schreiben gewußt hätten, daß es sich nicht um Koksgrus gehandelt habe, wenn die Beklagte zu 1 ihnen „Koksgrus 12/25 mm" angedient habe; es sei ihnen danach auch bekannt gewesen, daß sie zum privilegierten Tarif Güter befördern sollten, für die eine erheblich höhere Fracht festgesetzt gewesen sei.
...“