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Leitsätze:
1) Zur Zulässigkeit von Überholmanövern.
2) Für einen Schubverband, bei dem der Kopf weit vor dem Ruderhaus liegt, ist - besonders bei schlechter Sicht - eine vermehrte Vorsicht am Platze, bevor er sich zum Überholen befugt erachtet.
Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
Urteil
vom 24. Juni 1970
(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort)
Zum Tatbestand:
Der der Beklagten zu 1 gehörende und vom Beklagten zu 2 geführte Schubverband, bestehend aus Schubboot P und 2 voreinander gekoppelten Schubleichtern, setzte am 31. 12. 1967 auf der Bergfahrt bei Schneetreiben und unsichtigem Wetter etwa bei km 850 die Überholflagge ungefähr 100 m hinter dem ca. 40 m vom linken Rheinufer ebenfalls zu Berg fahrenden, bei der Klägerin versicherten MS H, um es auf dessen Backbordseite zu überholen. Ungefähr 40-50 m hinter dem Motorschiff setzte der Schubverband zur Überholung auf dessen Steuerbordseite an, wobei er mit MS H auf Höhe des Ruderhauses zusammenstieß. Die Klägerin verlangt Ersatz des erstatteten Schadens von etwa 7700,- DM.
Die Klage gegen die Beklagten wurde vom Rheinschiffahrtsgericht dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt, gegen die Beklagte zu 1 nur im Rahmen der §§ 4 und 114 BSchG. Die Berufung der Beklagten wurde von der Berufungskammer der Rheinzentralkornmission als unbegründet zurückgewiesen.
Aus den Entscheidungsgründen:
Nach § 37 RhSchPVO ist das Überholen nur gestattet, wenn das Fahrwasser unter Berücksichtigung aller örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs unzweifelhaft hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt gewährt. § 42, Ziffer 1, bestimmt insbesondere, daß das Überholen nur gestattet ist, nachdem der Überholende sich vergewissert hat, daß dieses Manöver ohne Gefahr durchgeführt werden kann. Der Vorausfahrende soll das Oberholen soweit wie möglich erleichtern und erforderlichenfalls ausweichen (§ 42, Ziff. 1 und § 43 Ziff. 3). Der Überholende ist in der Wahl der Seite, auf der er überholen will, frei. Der Oberholende muß nicht nur rechtzeitig bei Tag die hellblaue Flagge nach § 43 Ziff. 1 (a) setzen, sondern erforderlichenfalls das Sichtzeichen durch Schallzeichen ergänzen, je nachdem er links oder rechts überholen will (§ 43 Ziff. 2). Wenn der Oberholende die Überholseite bekannt gegeben hat, hat der Vorausfahrende, wenn an der gewünschten Seite nicht, jedoch an der anderen Seite überholt werden kann, ein Zeichen nach § 43 Ziff. 3 zu geben, woraufhin der Oberholende nach § 43 Ziff. 4, wenn er noch überholen kann und will, die bestätigenden Zeichen nach dieser Vorschrift zu geben hat.
Es sprechen einige Umstände dafür, daß ein Verlegen des Kurses von MS H auf die linksrheinische Seite im Bereich des Möglichen war, da ein Talfahrer rechtsrheinisch herankam und aufdrehen wollte. Es ist aber nicht erwiesen, daß zuvor der Kurs von MS H zur Strommitte verlegt worden sei. Hierfür liegt nur die Behauptung des Kapitäns des Schubverbandes vor. Die Kursänderung Richtung Strommitte ist auch nicht zu vermuten, nachdem der Schubverband nach eigenen Aussagen seines Kapitäns zuerst auf Backbordseite des Motorschiffes überholen wollte.
Weder die Beteiligten noch die Zeugen geben an, wie weit MS H den Kurs gegen die Strommitte verlegt haben soll, so daß, selbst wenn man von einer solchen Annahme ausgehen würde, nicht gefolgert werden kann, daß auf der Steuerbordseite des Motorschiffes unzweifelhaft hinreichender Raum vorhanden war. Auf jeden Fall verbleiben größte Zweifel, die der Oberholende zu widerlegen hätte. Der Schubverband war auch unverantwortlich nahe aufgefahren (40-50 m), als er sich zur Änderung der Überholungsseite entschloß, so daß unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Fahrgeschwindigkeiten kaum mehr ein derartiger Kurswechsel von MS H zuerst nach links und dann nach rechts durchzuführen gewesen wäre, wie der Beklagte zu 2 behauptete. Wenn MS H durch Kursänderungen eine Unsicherheit beim Oberholenden hervorgerufen hätte, so wäre letzterer nach § 43 Ziff. 2 RhSchPVO verpflichtet gewesen, seine Absicht, auf weicher Seite er überholen will, durch ein ergänzendes Schallzeichen zu präzisieren. Da der Schubverband keine solchen ergänzenden Schallzeichen gegeben hat, erübrigt es sich zu prüfen, auch falls eine solche Unsicherheit bestand, ob MS H nach § 43 Ziff. 3 eine andere Weisung für das Überholen hätte geben müssen. Es kann ferner dahingestellt bleiben, ob für MS H die gewünschte Überholseite eindeutig erkennbar war, denn ein Ausweichen nach Backbord war zu vermeiden, da mit dem Talfahrer und dessen angekündigtem Aufdrehmanöver zu rechnen war. Man kann sich ernsthaft fragen, ob der Schubverband In Anbetracht der Verhältnisse das Überholsignal mit der blauen Flagge überhaupt rechtzeitig gegeben hat und ob er in Anbetracht der schlechten Sicht noch ergänzende Schallzeichen hätte geben müssen. Der Kapitän des überholenden Schubverbandes kann auch nicht einwenden, der Vorausfahrer hätte ihm das Sperrsignal nach § 42 Ziff. 2 der RhSchPVO geben müssen. Eine Pflicht hierzu besteht nur aus zwingenden Sicherheitsgründen, und sie befreit den Überholenden nicht, zu prüfen, ob unzweifelhaft hinreichender Raum für das Überholen vorhanden Ist, und sich zu vergewissern, daß das Manöver ohne Gefahr durchgeführt werden kann. Er darf diese Pflichten nicht vernachlässigen und sich darauf verlassen, daß ihm der Vorausfahrende gegebenenfalls ein Sperrsignal gibt, insbesondere dann nicht, wenn er, wie hier, die Situation überblicken konnte. Es besteht auch keine Pflicht zur Abgabe des Sperrsignals, wenn der Oberholende nur aufläuft.
Die Bestimmungen der §§ 37 Ziff. 1 und 42, Ziff. 1 der RhSchPVO enthalten Verhaltens- und Vorsichtsregeln für den Überholenden und richten sich an ihn und schreiben seine Fahrweise vor. Diese Vorschriften gelten für die ganze Dauer eines Überholmanövers. Der Wortlaut der beiden Bestimmungen ("Das Überholen ist nur gestattet, wenn,..." sowie „nachdem der Oberholende sich vergewissert hat".) besagt, daß der Überholende nachweisen muß, daß die Überholung statthaft war, indem er sich die erforderliche Gewißheit verschafft hat, daß er überholen durfte. Das heißt nicht, daß eine Beweislastumkehr vorgenommen oder der Oberholende allgemein die Gefahr des Überholens zu tragen hat, sondern, daß er nur überholen darf, wenn für ihn die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Wer entgegen den Vorschriften von §§ 37 und 42 ein Überholmanöver einleitet oder durchführt, handelt vorschriftswidrig und, wenn keine Schuldausschließungsgründe vorliegen, auch schuldhaft. Das Beweisergebnis zeigt, daß auf der Steuerbordseite von MS H unter Berücksichtigung von dessen Eigenbreite bis zu den linksrheinischen Krippen oder Tonnen kein hinreichender Raum zum Oberholen durch einen Schubverband vorhanden war. Die Beklagten selber sprechen nur von ca. 40 m bis zu den linksrheinischen Krippen. Auch bestand im vorliegenden Fall keine Gewißheit, daß unter den gegebenen Umständen und Sichtverhältnissen das Überholmanöver ohne Gefahr durchgeführt werden konnte. Eine Gefahr läßt sich auch nur vermeiden, wenn nicht zu nahe aufgefahren wird, bevor die Überholseite durch Kursänderung des überholenden Schiffes gewählt wird; denn dadurch wird dem Vorausfahrer nicht mehr Gelegenheit gegeben, seinen eigenen Kurs entsprechend einzurichten, und notfalls Signale zu geben oder auszuweichen. Für einen Schubverband, bei dem der Kopf weit vor dem Ruderhaus liegt, ist, besonders bei schlechter Sicht, eine vermehrte Vorsicht am Platze, bevor er sich zum Oberholen befugt erachtet. Daß die Fahrweise des Schubverbandes für die Kollision kausal war, bedarf keiner weiteren Erörterung. Zu Recht hat deshalb die Vorinstanz festgestellt, daß die Beklagten nicht bewiesen haben, daß für das Überholmanöver der unzweifelhaft hinreichende Raum vorhanden war und sich der Beklagte zu 2 vergewissert hat, daß das Manöver ohne Gefahr durchgeführt werden kann. In Übereinstimmung mit der Vorinstanz Ist deshalb davon auszugehen, daß ein unzulässiges Oberholmanöver stattgefunden hat, das in Anbetracht der Verletzung der §§ 37 und 42 RhSchPVO die Haftung des Beklagten zu 2 nach § 823 Abs.2 BGB und der Beklagten zu 1 nach § 92 BSchG in Verbindung mit §§ 735 und 3 im Rahmen von §§ 4 und 114 HGB nach sich zieht."