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- Berufungskammer der Zentralkommission (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Entscheidungsdatum: 24.06.1970
Aktenzeichen:
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Berufungskammer der Zentralkommission Straßburg
Abteilung: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsätze:

1) Zur Frage des Kausalzusammenhangs.

2) Eine Begebenheit ist nur dann adäquate Bedingung eines Erfolges, wenn sie die objektive Möglichkeit eines Erfolges von der Art des eingetretenen generell in nicht unerheblicher Weise erhöht hat.

3) Zur Rechtswirksamkeit von fernmündlichen „Anordnungen vorübergehender Art" im Sinne des § 102 RhSchPVO.

Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt

vom 24. Juni 1970

(Rheinschiffahrtsgericht Mannheim)

Zum Tatbestand:

Zwischen dem der Klägerin gehörenden zu Tal fahrenden Schubverband, bestehend aus dem Schubboot S und 2 Schubleichtern, und dem dem Beklagten zu 1 gehörenden, vom Beklagten zu 2 geführten zu Berg fahrenden Tankmotorschiff M kam es bei einem Mainzer Pegel von 3,78 m in der Kleinen Gies zum Zusammenstoß. Zu der Unfallzeit betrug die Sichtweite nur 200-300 m. Es wurde auf allen noch in Fahrt befindlichen Schiffen nur nach Radar gefahren. Durch Bekanntmachung Nr. 130/64 T der WSD Mainz vom 24. 6. 1964 war bestimmt worden, daß bei Wasserständen über 1,70 m Mainzer Pegel einzeln fahrende leere Motorgüterschiffe und Fahrgastschiffe ohne Fahrgäste zwischen Rhein-km 512,00 und 517,50 auf der Talfahrt das linke Fahrwasser (die Große Gies) benutzen mußten und dasselbe bei Wasserständen am Pegel Mainz über 2,00 m auch für alle anderen leeren Selbstfahrer und für leere Schleppzüge galt, jedoch mit Ausnahme derjenigen Talfahrer, die das rechte Fahrwasser (Kleine Gies) aus zwingenden Gründen, z. B. zwecks Anlegens, befahren mußten. Das Rheinschiffahrtsgericht hat der Klage auf Ersatz des an einem Leichter entstandenen Unfallschadens in Höhe von 19 000,- DM dem Grunde nach stattgegeben. Die Berufung der Beklagten an die Berufungskammer der Rheinzentralkommission blieb erfolglos.

Aus den Entscheidungsgründen:

Für die Beurteilung der Berufung muß gemäß der nicht angefochtenen Feststellung des Rheinschiffahrtsgerichts davon ausgegangen werden, daß der Berufungskläger zu 2 aufgrund der Art und Weise, wie er mit dem MTS M in der Kleinen Gies fuhr, eine Schuld an dem Unfall trägt. Im Berufungsverfahren ist weiterhin die Tatsache zu berücksichtigen, daß das Schubboot S in der Kleinen Gies vorschriftsmäßig fuhr. In erster Instanz hatten die Berufungskläger zwar geltend gemacht, der Schiffsführer hätte dadurch, daß er mit dem Schubverband in die Kleine Gies einfuhr, gegen Nr. II, Ziff. 2 der Bekanntmachung der Wasser- und Schiffahrtsdirektionen Duisburg, Mainz und Freiburg verstoßen, die vorschreibt, daß Talfahrer ihre Geschwindigkeit herabsetzen müssen und, falls nötig, Bug zu Tal anhalten oder aufdrehen müssen. In ihrer Berufungsbegründung haben sie dieses Argument jedoch nicht beibehalten, nachdem durch das Zwischenurteil festgestellt worden war, daß der Schubverband in der Kleinen Gies, in der Mitte der Fahrrinne langsam fuhr, zwei Ausguckposten aufgestellt hatte und die in Nr. II Ziff. 1 der Bekanntmachung vorgeschriebenen Radarzeichen vorschriftsmäßig abgab, und ferner festgestellt worden war, daß für den Schubverband kein zwingender Grund vorlag, Bug zu Tal anzuhalten oder aufzudrehen. Zwar haben die Berufungskläger in der Berufung Beweis dafür angeboten, daß die Strömung in der Kleinen Gies stärker ist als in der Großen Gies und daß infolgedessen leere Talfahrer darin schwieriger zu steuern sind. Für die Erhebung dieses Beweises besteht jedoch keine Veranlassung, da die Berufungskläger keine konkreten Tatsachen dafür angeführt haben, daß der Schubverband in der Kleinen Gies nicht hinreichend sicher gesteuert werden konnte, wodurch es zum Unfall gekommen sei. Außerdem zieht die Berufungskammer in Zweifel, daß der leer zu Tal fahrende Schubverband in der Kleinen Gies nur unzureichend sicher gesteuert werden konnte, da sich Schubverbände auch unter den schwierigsten Umständen, dank der Besonderheiten ihrer Bauweise (insbesondere was das Steuer, die Schiffsschrauben und die Antriebsstärke betrifft), besonders leicht manövrieren lassen. Das Argument der Berufungskläger, in erster Instanz sei befunden worden, daß das Schubboot S nicht in die Kleine Gies hätte einfahren dürfen, da keine zwingenden Gründe im Sinne der Bekanntmachung 130/64 T vom 24. Juni 1964 vorlagen, ist tatsächlich nicht begründet. Das Rheinschiffahrtsgericht hat eine solche Entscheidung nicht gefällt, sondern ausdrücklich festgestellt, es könne dahingestellt bleiben, ob ein zwingender Grund vorlag oder nicht, da nach Auffassung des Rheinschiffahrtsgerichts zwischen der Einfahrt des Schubverbands in die Kleine Gies und der Kollision kein Kausalzusammenhang bestand, denn wäre der Schubverband beladen gewesen, so hätte er, wie der Erstrichter feststellte, die Kleine Gies auch nach dieser Bekanntmachung ohne weiteres benutzen dürfen. Der wichtigste Einwand der Berufungskläger gegen das Zwischenurteil richtet sich gegen die letztgenannte Auffassung des Rheinschiffahrtsgerichts. Sie vertreten den Standpunkt, daß zwischen der Benutzung der Kleinen Gies durch das Schubboot S und dem Unfall ein Kausalzusammenhang besteht; denn wäre der Schubverband durch die Große anstatt durch die Kleine Gies gefahren, so hätte sich der Unfall nicht ereignet. Die Berufungskammer ist zu diesem Punkt folgender Auffassung: Nach deutschem Privatrecht, das im vorliegenden Fall anzuwenden ist, reicht es für das Vorhandensein eines Kausalzusammenhangs zwischen zwei Begebenheiten nicht aus, daß die eine dieser beiden Begebenheiten nur die conditio sine qua non für die andere gewesen ist. Eine Begebenheit ist nur dann adäquate Bedingung eines Erfolges, wenn sie die objektive Möglichkeit eines Erfolges von der Art des eingetretenen generell in nicht unerheblicher Weise erhöht hat. Bei der dahin zielenden Würdigung sind lediglich zu berücksichtigen: a) alle zur Zeit des Eintritts der Begebenheit dem optimalen Beobachter erkennbaren Umstände, b) die dem Urheber der Bedingung noch darüber hinaus bekannten Umstände. Diese Prüfung ist unter Heranziehung des gesamten im Zeitpunkt der Beurteilung zur Verfügung stehenden Erfahrungswissens vorzunehmen. Dieser Grundsatz führt, auf den vorliegenden Fall angewandt, zu der Schlußfolgerung, daß die Tatsache allein, daß der Unfall nicht stattgefunden hätte, wenn der Schubverband nicht die Kleine sondern die Große Gies benutzt hätte, nicht ausreicht, um die Benutzung der Kleinen Gies durch den Schubverband zur adäquaten Ursache des Unfalls werden zu lassen. Um auf die Frage nach der Kausalität eine Antwort zu finden, muß vielmehr geprüft werden, ob ein optimaler Beobachter im Augenblick der Einfahrt des Schubverbandes in die Kleine Gies mit der im Prozeß festgestellten Fahrweise des MTS M normalerweise hätte rechnen können. Wenn dies nicht der Fall war, stellt sich die Frage, ob etwa sonstige dem Schiffsführer bekannten Umstände zu einer anderen Schlußfolgerung hätten führen müssen. Nach Auffassung der Berufungskammer brauchte unter den gegebenen Umständen weder ein optimaler Beobachter noch der Schiffsführer des Schubverbandes im Augenblick der Einfahrt des Schubverbandes in die Kleine Gies die Tatsache, daß ein in der Kleinen Gies zu Berg fahrendes Schiff so manövrieren würde, wie das MTS M es getan hat, derart in Rechnung zustellen, daß daraus der Schluß gezogen werden könnte, die Einfahrt des Schubverbandes in die Kleine Gies hätte die objektive Möglichkeit einer Kollision in nicht unerheblicher Weise erhöht. Die vorgenannten Erwägungen führen zu der Schlußfolgerung, daß das Rheinschiffahrtsgericht zu Recht entschieden hat, daß zwischen der Benutzung der Kleinen Gies durch den Schubverband und dem Unfall kein Kausalzusammenhang besteht. Demzufolge ist es für die Entscheidung über die Frage der Haftung für die Folgen des Unfalls unerheblich, ob der Schiffsführer des Schubbootes S, indem er in die Kleine anstatt in die Große Gies einfuhr, gegen die Vorschriften der Bekanntmachung 130/64 T der Wasser- und Schiffahrtsdirektion Mainz vom 24. Juni 1964 verstoßen hat. Diese Frage kann daher auch in der Berufung dahingestellt bleiben. Obwohl nicht erforderlich, glaubt die Berufungskammer, mit Bezug auf die letztgenannte Bekanntmachung 136/64 T, noch folgende Bemerkungen machen zu sollen:

Es bestehen ernsthafte Zweifel, ob die in der Bekanntmachung getroffene Vorschrift im Augenblick des Unfalls rechtsverbindlich war. Diese Vorschrift ist offenbar als „Anordnung vorübergehender Art" im Sinne von § 102 RheinSchPVO, von dem sie ihre Rechtsgültigkeit ableitet, zu verstehen. Nach den Informationen, die die Berufungskammer von der Zentralkommission erhalten hat, war die Vorschrift, die erst durch die Bekanntmachung 332/66 T vom 17. Oktober 1966 aufgehoben worden ist, - also nach dem Zeitpunkt des Unfalls -, nie in schriftlicher Form bekannt gegeben worden, sondern nur fernmündlich, und ist seit 1964 6mal erneuert worden, und zwar stets ebenfalls durch fernmündliche Bekanntmachung; die letzte Bekanntmachung trägt die Nr. 312/69 T und stammt vom 7. Oktober 1969. Wenn die Bekanntgabe einer Anordnung vorübergehender Art aufgrund gewisser unvorhersehbarer Umstände im Interesse der Sicherheit und Ordnung der Schiffahrt innerhalb kürzester Frist erforderlich wird, ist es recht und billig, daß die in § 102 Nr. 1 RheinSchPVO vorgesehene behördliche Bekanntmachung zunächst einmal fernmündlich vorgenommen werden kann. Wenn es sich jedoch, wie es hier offensichtlich der Fall ist, um eine Anordnung handelt, für die von vornherein eine längere Gültigkeitsdauer vorgesehen ist, so ist nach Auffassung der Berufungskammer der Verpflichtung zur behördlichen Bekanntmachung nach § 102 Nr. 1 RheinSchPVO nicht vollends Genüge getan, wenn diese Bekanntmachung ausschließlich fernmündlich stattgefunden hat und nicht in einem Amtsblatt abgedruckt wurde, das von den in § 102 Nr. 1 RheinSchPVO genannten Personen ohne zu große Schwierigkeiten zur Kenntnis genommen werden kann. Weiterhin äußert die Berufungskammer ernsthafte Zweifel ob die obengenannte Bekanntmachung zum fraglichen Zeitpunkt auch für Schubverbände galt, da in der Bekanntmachung nur von „einzeln fahrenden leeren Motorgüterschiffen und Fahrgastschiffen ohne Fahrgäste" sowie von „allen anderen leeren Selbstfahrern und ... leeren Schleppzügen" die Rede ist, während in der bereits genannten Bekanntmachung der Wasser- und Schiffahrtsdirektionen Duisburg, Mainz und Freiburg über die Fahrt mit Radar und bei unsichtigem Wetter (57/1964 vom 3. November 1964) ausdrücklich von „Schubverbänden" und daneben von „Schleppzügen" die Rede ist. Da die Bekanntmachung 130/64 T in diesem Punkt so unklar ist, daß sich sogar innerhalb der Berufungskammer Zweifel über ihre Bestimmung erheben, kann von Schiffsführern von Schubverbänden kaum erwartet werden, daß sie ihren Sinn besser erfassen."