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Leitsätze:
Die Regel über den sicheren Zugang zu einem Fahrgastschiff in § 7.01 Ziffer 5 BinSchStrO bezieht sich nicht auf die Sicherheit des Schiffes oder seiner Ausrüstung und ist deshalb kein Mangel im Sinne des § 537 Nr. 6 HGB. Der Unfall eines Passagiers beim Einsteigen ist deshalb kein Schifffahrtsereignis im Sinne des § 537 Nr. 5 HGB, so dass die Verschuldensvermutung des § 538 Abs. 1 Satz 2 HGB nicht greift, der Geschädigte trägt die volle Beweislast für Verschulden.
Ein Spalt und ein Höhenabstand zwischen Schiff und Anlegern von etwa 20 cm ist eine nichtabhilfebedürftige Gefahr, weil bei einem Einstieg vom Anleger direkt in das Schiff ohne Vorhandensein eines Landstegs von vornherein eine erhöhte Aufmerksamkeit und Vorsicht des Fahrgastes geboten ist, worauf die verkehrsicherungspflichtige Betreiberin des Schiffes vertrauen darf. Sind zwei Mitarbeiter bei der Einschiffung abgestellt, die den Zugang der Fahrgäste überwachen, ist dies ein gleichwertiger Ersatz für die Verwendung eines Laufstegs.
Hinweisbeschluss des Oberlandesgerichts Celle
vom 21. Januar 2021
Az.: 8 U 181/20
(Landgericht Hannover, Az.: 5 O 26/20)
Aus den Gründen:
Das Landgericht hat im Ergebnis zutreffend einen Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz und Schmerzensgeld verneint.
1. Ein Anspruch ergibt sich nicht aus § 77 BinSchG i. v. m. § 538 Abs. 1 Satz 1 HGB. Danach haftet der Beförderer für den Schaden, der durch den Tod oder die Körperverletzung eines Fahrgasts entsteht, wenn das den Schaden verursachende Ereignis während der Beförderung eingetreten ist und auf einem Verschulden des Beförderers beruht. Ein Verschulden der Beklagten hat die Klägerin nicht schlüssig dargelegt.
a. Das Verschulden der Beklagten ist nicht gemäß § 538 Abs. 1 Satz 2 HGB zu vermuten oder nach § 538 Abs. 2 Satz 1 HGB entbehrlich, weil der Schaden nicht durch ein Schifffahrtsereignis verursacht wurde. Danach wird das Verschulden vermutet bzw. haftet der Beförderer ohne Verschulden, wenn das den Schaden verursachende Ereignis ein Schifffahrtsereignis ist. Ein Schifffahrtsereignis ist nach § 537 Nr. 5 HGB ein Schiffbruch, ein Kentern, ein Zusammenstoß oder eine Strandung des Schiffes, eine Explosion oder ein Feuer im Schiff oder ein Mangel des Schiffes. Die Klägerin hat nicht dargelegt, dass eines dieser Ereignisse eingetreten ist, insbesondere, dass ein Mangel des Schiffes als Schifffahrtsereignis vorlag. Ein Mangel nach § 537 Nr. 6 HGB liegt nicht vor. Danach ist ein Mangel des Schiffes unter anderem eine Nichteinhaltung von anwendbaren Sicherheitsvorschriften in Bezug auf einen Teil des Schiffes oder seiner Ausrüstung, wenn dieser Teil oder diese Ausrüstung verwendet wird für die Ein- und Ausschiffung der Fahrgäste. Es ist bereits nicht dargelegt, dass die Beklagte anwendbare Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten hat.
aa. Als Sicherheitsvorschrift in diesem Sinne kommt § 7.01 Nr. 5 Satz 3 BinSch- StrO nicht in Betracht …
Abgesehen davon stellt ein Verstoß gegen § 7.01 Nr. 5 Satz 3 BinSchStrO nicht einen Mangel des Schiffes im Sinne von § 537 Nr. 6 Buchst. a HGB dar. Dem Wortlaut nach muss sich die Sicherheitsvorschrift auf einen Teil des Schiffes oder seiner Ausrüstung beziehen (»in Bezug auf«). Bei § 7.01 Nr. 5 Satz 3 BinSchStrO handelt es sich nicht um eine Sicherheitsvorschrift »in Bezug auf« den Landsteg, d. h. sie regelt nicht die Sicherheit des Landstegs als solchen. Vielmehr ist der Landsteg lediglich das Mittel der Sicherheitsvorschrift »in Bezug auf« die Einund Ausschiffung der Fahrgäste. § 7.01 Nr. 5 Satz 3 BinSchStrO stellt lediglich eine Sicherheitsvorschrift »in Bezug auf« die Ein- und Ausschiffung der Fahrgäste dar. Dies ergibt sich auch daraus, dass das Merkmal der »Ein- und Ausschiffung der Fahrgäste« lediglich Zweckbestimmung des Teils des Schiffes oder seiner Ausrüstung sein muss (»wenn [...] verwendet
wird«). Regelungsgegenstand der Sicherheitsvorschrift sind jedoch nur die Teile des Schiffes und die Ausrüstung. Für diese Auslegung spricht auch die Genese des § 537 Nr. 6 Buchst. a HGB. Die darin enthaltene Definition entspricht Artikel 3 Abs. 5 Buchst. c des Athener Übereinkommens 2002 (BT-Drs. 17/10309, S. 108). Diese Regelung lautet:
»›defect in the ship‹ means any malfunction, failure or non-compliance with applicable safety regulations in respect of any part of the ship or its equipment when used for the escape, evacuation, embarkation and disembarkation of passengers, or when used for the propulsion, steering, safe navigation, mooring, anchoring, arriving at or leaving berth or anchorage, or damage control after flooding; or when used for the launching of life saving appliances;«
Hieraus ergibt sich ebenfalls, dass sich die Sicherheitsvorschriften auf einen Teil des Schiffes oder seiner Ausrüstung beziehen müssen. Nicht erforderlich ist, dass es sich um eine Sicherheitsvorschrift handelt, die sich auf die Ein- und Ausschiffung der Fahrgäste bezieht. Diese Wortlauslegung entspricht auch dem Sinn und Zweck, dass ein Mangel des Schiffes auch durch die Nichteinhaltung von Sicherheitsvorschriften, die der Gewährleistung der Funktions- und Einsatzfähigkeit der Geräte und Ausrüstung dienen, hervorgerufen werden kann. Eine so weite Auslegung, dass auch die fehlerhafte oder unterlassene Benutzung von – funktionstüchtigen – Teilen des Schiffes oder Ausrüstung durch die Besatzung einen Mangel »des Schiffes« darstellt, lässt sich dem Wortlaut nicht entnehmen …
Auch ist nicht schlüssig dargelegt, dass die Beklagte sich nicht davon überzeugt hat, dass der Zu- und Abgang der Fahr- gäste ohne Gefahr möglich war. Die Klä- gerin behauptet insoweit, der Höhenunterschied zwischen Schiff und Anleger sei mindestens »zwei Handbreiten« gewesen und der Abstand zwischen Schiff und Anleger habe mindestens 20 cm betragen. Bei einem solchen Höhenunterschied und Abstand zum Anleger lag zwar eine objektive Gefahr vor. Unter solchen Übergangsbedingungen besteht die Möglichkeit, dass ein Fahrgast in den Zwischenraum tritt, keinen Halt findet, deshalb stürzt und sich dabei verletzt (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 15. Juni 1999 – 9 U 249/98 -, Rn. 13, juris).
Jedoch war diese Gefahr nicht abhilfebedürftig. Es ist allgemein bekannt, dass zwischen Anleger und Schiff notwendigerweise immer ein gewisser Spalt vorhanden ist. Dies ist schon deshalb erforderlich, weil es ansonsten bei einem Kontakt zwischen Anleger und Schiff zu Schäden kommen würde. Bei einem ersichtlichen Einstieg vom Anleger direkt in das Schiff ohne Vorhanden- sein eines Landstegs ist von vornherein eine erhöhte Aufmerksamkeit und Vor- sicht geboten, zumal die offensichtlichen Abstände aufgrund einer, wenn auch geringen, wasserbedingten Bewegung sich ständig ändern können. Die sich daraus ergebenden Unsicherheiten muss der Fahrgast in der konkreten Situation durch gesteigerte Aufmerksamkeit auf eben diese Gefahren kompensieren; darauf darf auch die Beklagte als sicherungspflichtige Betreiberin des Schiffes vertrauen (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 15. Juni 1999 – 9 U 249/98 -, Rn. 16, juris) …
Zurückweisungsbeschluss des Oberlandesgerichts Celle
vom 21. Januar 2021
Az.: 8 U 181/20
(Landgericht Hannover, Az.: 5 O 26/20)
Aus den Gründen:
a. Soweit die Klägerin eine Funktionsstörung oder ein Versagen eines Teils des Schiffes oder seiner Ausrüstung im Sinne von § 537 Nr. 6 HGB darin sieht, dass der Landsteg von den Mitarbeitern der Beklagten nicht verwendet wurde, schließt sich der Senat dieser über den Wortlaut hinausgehenden Auslegung der Tatbestandsmerkmale nicht an. Sowohl eine Funktionsstörung als auch ein Versagen der Ausrüstung – hier: des Landstegs – setzt einen in dem Landsteg liegenden Defekt voraus, der dazu führt, dass der Landsteg aufgrund dieses Defekts nicht verwendet werden konnte oder bei Verwendung versagte. Anhaltspunkte hierfür hat die Klägerin weder vorgetragen, noch sind solche ersichtlich.
b. Soweit die Klägerin ausführt, sie habe nicht mit einem Abstand zwischen Anle ger und Schiff rechnen müssen, weil sowohl riesige Containerschiffe als auch Freizeitschiffe auf dem Maschsee in Hannover aufgrund einer Magnettechnik spaltfrei anlegen würden, ändert dies nichts an der Frage der Abhilfebedürftigkeit. Selbst wenn es zwischenzeitlich eine spaltfreie Magnettechnik für das Anlegen von Schiffen gäbe, würde es sich hierbei um eine spezielle, insbesondere im Be- reich der Freizeitschifffahrt, nicht übliche Technik handeln. Jedenfalls wäre eine solche Technik im Allgemeinen nicht von einer Selbstverständlichkeit geprägt, die nach den allgemeinen Sicherheitserwartungen einen Spalt zwischen Schiff und Anleger als unüblich darstellen lassen könnte.
c. Soweit die Klägerin das Abstellen von zwei Mitarbeitern bei der Einschiffung als nicht gleichwertigen Ersatz für die Ver- wendung des Laufstegs ansieht, verkennt die Klägerin den Sorgfaltspflichtmaßstab. Es gibt keine 100 %ige Sicherheit und eine solche wird weder vom Gesetz noch von der Rechtsprechung gefordert. Fraglich ist, ob die bestehende Gefahrenlage abhilfebedürftig war und durch die Be- klagte hinreichend gesichert wurde. Un- ter Berücksichtigung der Größe des Spaltes, den damit verbundenen allgemeinen Sicherheitserwartungen und den die Ein- schiffung beaufsichtigenden Mitarbeitern war die Verwendung eines Landstegs nicht zwingend.
d. Entgegen der Auffassung der Klägerin ergeben sich auch aus sonstigen Vorschriften keine im Hinblick auf die Einschiffung »anwendbaren Sicherheitsvorschriften« im Sinne von § 537 Nr. 6 HGB. Dies gilt im Hinblick auf Artikel 8 Abs. 1 der Richtlinie 2009/45/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über Sicherheitsvorschriften und -normen für Fahrgastschiffe
aa. Soweit diese Regelungen in nationales Recht umgesetzt wurden, wurde jedenfalls keine die Verwendung des Landstegs berührende Regelung getroffen …
bb. Eine konkrete Sicherheitsvorschrift zur Einschiffung bei Binnen-Fahrgastschiffen enthalten das Schiffssicherheits- gesetz und die Schiffssicherheitsverord- nung nicht. Soweit § 6 des Schiffssicherheitsgesetzes auf die Anlage 1a des Schiffssicherheitsgesetzes verweist, wonach gemäß Nr. 3.1 Teil 1 der Anlage 1a die Richtlinie 2009/45/EG entsprechend anzuwenden ist, liegt jedenfalls ein Verstoß nicht vor. Insoweit enthält die Richtlinie 2009/45/EG keine Vorgaben zur Ver- wendung von Landstegen. Artikel 8 i. V. m. der Nr. 1 der Anlage III (»Leitlinien für Sicherheitsanforderungen für Fahrgastschiffe und Fahrgast-Hochgeschwindigkeitsfahrzeuge in Bezug auf Personen mit eingeschränkter Mobilität«) sieht le- diglich vor, dass die Schiffe so gebaut und ausgestattet sein sollen, dass eine Person mit eingeschränkter Mobilität ohne fremde Hilfe oder mit Hilfe von Rampen oder Aufzügen problemlos und sicher an und von Bord gehen kann und ihr der Zugang zu den verschiedenen Decks möglich ist. Es wurde weder vorgetragen noch ist ersichtlich, dass das Fahrgastschiff der Beklagten als solches nicht diesen baulichen Vorgaben entsprochen hat. Vielmehr ist unstreitig, dass das Schiff über einen Landsteg verfügt hat. Dass dieser nicht verwendet wurde und durch andere, nach Auffassung des Senats geeignete, Maßnahmen der Zugang auch für ältere Menschen sichergestellt wurde, ist nicht Gegenstand dieser Regelung.
e. Der Senat hat bereits in seinem Hinweisbeschluss ausgeführt, dass unter Berücksichtigung der vorhandenen Spalte und der Bereitstellung von zwei Mitarbeitern die Beklagte alles Erforderliche getan hat, um ihrer Verkehrssicherungspflicht nachzukommen. Dass der Einstieg für ältere Menschen ohne fremde Hilfe nicht möglich gewesen sei, wurde weder vorgetragen noch festgestellt. Auch sonst ist nicht ersichtlich, dass der Zugang für die Klägerin ohne fremde Hilfe nicht möglich gewesen ist. Der Senat hat ausgeführt, weshalb die Gefahr nicht abhilfebedürftig war, mithin der Einstieg auch für ältere Menschen ohne fremde Hilfe möglich war. Es war lediglich im Hinblick auf die bestehende Ge- fahr zusätzlich zu berücksichtigen, dass durch das Bereitstellen von zwei Mitarbeitern jedenfalls alles Erforderliche durch die Beklagte für das – auch ohne fremde Hilfe – mögliche Einsteigen gewährleistet wurde.
f. Der Senat verbleibt bei seiner Auffassung, dass allein in dem Ansprechen von einsteigenden – älteren – Personen kei-ne Schaffung oder Erhöhung einer Gefahrenlage besteht. Die Klägerin verkennt, dass es sich hierbei nicht um eine Frage des Mitverschuldens handelt, wenn bereits die Schaffung oder Erhöhung einer Gefahrenlage deswegen verneint wird, weil in dem Ansprechen eine gewöhnliche, von jedem zu bewältigende Handlung liegt, durch die eine Gefahr bereits im Ansatz nicht geschaffen oder erhöht werden kann …
Ebenfalls abrufbar unter ZfB 2022 - Nr. 8 (Sammlung Seite 2773 f.); ZfB 2022, 2773 f.