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Leitsätze:
1) Zur Frage, ob Bordpumpen von Tankschiffen als Bestandteil einer genehmigungsbedürftigen Anlage eines Tanklagers im Sinne des Bundesimmissionsschutzgesetzes anzusehen sind, wenn die Eigner des Tanklagers und der bei ihm löschenden Tankschiffe nicht identisch sind.
2) Liegt im Sinne dieses Gesetzes eine Anlage im Grenzbereich verschiedener Nutzungsarten (z. B. Wohn- und Industriegebiet) vor, so darf sich die Ermessensentscheidung über die Schutzwürdigkeit nicht ausschließlich nach dem Gebietscharakter des einen Gebietes (Wohngebiet) orientieren, sondern muss mit Hilfe einer Art von „Mittelwert" im Rahmen gegenseitiger Rücksichtnahme auch die gegenteiligen Interessen der betroffenen Bereiche berücksichtigen.
Verwaltungsgerichts Koblenz
Urteil
vom 19. April 1979
Zum Tatbestand:
Aufgrund jahrelanger Beschwerden einiger Bewohner von Wohnhäusern an der Mosel, besonders eines Bewohners X in der Y-Straße Nr. Z, über zu starke Geräusche aus dem Bereich eines von der Klägerin betriebenen Tanklagers auf dem gegenüberliegenden Moselufer hatte das staatliche Gewerbeaufsichtsamt in K. angeordnet, dass in der Zeit von 22.00 Uhr bis 7.00 Uhr keine Tankschiffe und in der Zeit von 7.00 Uhr bis 22.00 Uhr Tankschiffe nur so gelöscht werden dürften, dass der Immissionsrichtwert von 55 dB (A) am Wohnhaus von X auf der gegenüberliegenden Seite nicht überschritten würde. Die Anordnung wurde damit begründet, dass die nach der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA-Lärm) zulässigen Immissionsrichtwerte von tagsüber 55 dB (A) und nachts 40 dB (A) durch die bei Schallpegelmessungen ermittelten Werte zwischen 53 dB (A) und 62 dB (A) anlässlich des mit Bordpumpen erfolgenden Löschens von Tankschiffen bei weitem überschritten würden. Auf Widerspruch der Klägerin hat das Landesgewerbeaufsichtsamt die Anordnung insofern abgeändert, als der beim Löschen von Schiffen ausgehende Arbeitslärm so zu begrenzen sei, dass der am Wohnhaus des X auf der anderen Seite der Mosel auftretende Immissionswert in der Zeit von 22.00 Uhr bis 7.00 Uhr 40 dB (A) und zwischen 7.00 Uhr bis 22.00 Uhr 55 dB (A) nicht übersteige.
In der gegen das beklagte Land angestrengten Klage auf Aufhebung des Widerspruchsbescheides bestreitet die Klägerin u. a. die behaupteten Geräuschimmissionen, die von ihr nicht gehörenden und ihr nicht unterstehenden Schiffen ausgingen. Es handele sich bei dem gegenüberliegenden Mosel¬ufer auch nicht um ein Wohn-, sondern um ein Gewerbegebiet, wofür tagsüber ein Richtwert von 60 dB (A) vorgesehen sei. Allenfalls dürften Verfügungen nur gegen einzelne Schiffe, von denen Belästigungen ausgingen, erlassen werden.
Das beklagte Land ist der Auffassung, dass dem Tanklager der Klägerin alles anzurechnen sei, was durch seine Funktion bedingt werde, demnach auch der Löschvorgang zum Zwecke der Versorgung des Tanklagers mit Mineralöl. Der fragliche Einwirkungsbereich sei nach dem baulichen Charakter und dem vorliegenden Flächennutzungsplan als Wohngebiet einzustufen.
Das Verwaltungsgericht hat den Widerspruchsbescheid in der vom Landesgewerbeaufsichtsamt geänderten Fassung aufgehoben und die Verfahrenskosten dem Land auferlegt (rechtskräftig).
Aus den Entscheidungsgründen:
„...
Ermächtigungsgrundlage für den Erlass nachträglicher Anordnungen der hier streitbefangenen Art ist § 17 Abs. 1 des Gesetzes zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge (Bundesimmissionsschutzgesetz - BImSchG -) vom 15. März 1974 (BGBI. 1 S. 721).
...
Voraussetzungen für den Erlass einer nachträglichen Anordnung sind vor allem, dass es sich bei der betroffenen Anlage um eine nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz genehmigte (§ 17 Abs. 1 BlmSchG „nach Erteilung der Genehmigung") oder um eine nach § 67 Abs. 2 BlmSchG oder nach § 16 Abs. 4 der Gewerbeordnung - GewO - in der Fassung vom 26. Juli 1900 (RGBI. S. 871) anzuzeigende Anlage handelt, positiv ein Verstoß gegen § 5 BImSchG oder gegen eine Rechtsverordnung nach § 7 BlmSchG festgestellt wurde und die zuständige Behörde ihr Ermessen sachgerecht ausgeübt hat.
Diese Voraussetzungen, die zusammen vorliegen müssen, sind hier nicht gegeben.
Keinem Zweifel unterliegt, dass das von der Klägerin betriebene Tanklager, das ersichtlich vor Inkrafttreten des Bundesimmissionsschutzgesetzes errichtet, unter der Geltung der Gewerbeordnung nach § 16 GewO nicht genehmigungsbedürftig war und deshalb nicht genehmigt ist, nach § 67 Abs. 2 BImSchG anzuzeigen war. Nach dieser Vorschrift ist eine genehmigungsbedürftige Anlage, die bei Inkrafttreten der Verordnung nach § 4 Abs. 1 Satz 3 BlmSchG (Vierte Verordnung zur Durchführung des Bundesimmissionsschutzgesetzes [Verordnung über genehmigungsbedürftige Anlagen - 4. BImSchV - vom 14. Februar 1975]) errichtet ist, anzuzeigen. So liegt es hier.
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Gleichwohl erscheint es dem Gericht nicht ganz unzweifelhaft, ob hier überhaupt gegen die Klägerin als Betreiberin des genehmigungsbedürftigen Tanklagers im Hinblick auf Geräuschimmissionen, die von den Bordpumpen der anlandenden Schiffe ausgingen, eine nachträgliche Anordnung ergehen konnte. Diese Bedenken gründen sich darauf, dass eine nachträgliche Anordnung nur dann erlassen werden kann, wenn von der genehmigungsbedürftigen Anlage selbst schädliche Umwelteinwirkungen ausgehen und die Bordpumpen der anlandenden Schiffe nicht ohne weiteres als Bestandteil der genehmigungsbedürftigen Anlage „Tanklager" angesehen werden können.
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Selbst wenn man den Begriff der Anlage aus Gründen des effektiven Umweltschutzes extensiv auslegt und hierunter auch Einzelanlagen, die organisatorisch, wirtschaftlich und räumlich eine Einheit bilden, fasst, erscheint es nicht selbstverständlich, dass Bordpumpen, die auf Schiffen installiert sind, unter diesen erweiterten Begriff fallen und somit als Einzelanlage des Tanklagers anzusehen sind. Dabei ist zu beachten, dass sich die Schiffe auf einer öffentlichen Wasserstraße, der Mosel, befinden und der Eigentümer der Schiffe nicht identisch mit der Klägerin ist. Auf der anderen Seite verkennt das Gericht nicht, dass diese Schiffe bei der Entladetätigkeit in einem Funktionszusammenhang mit dem Tanklager stehen.
Diesen aufgezeigten Bedenken nachzugehen, besteht indessen im vorliegenden Fall kein Anlass.
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Wie bereits dargelegt, schreibt § 17 Abs. 1 Satz 2 BImSchG bei Vorliegen schädlicher Umwelteinwirkungen den Erlass einer nachträglichen Anordnung nicht zwingend vor. Die Vorschrift stellt dies vielmehr in das pflichtgemäße Ermessen der zuständigen Behörden.
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Behördliche Ermessensentscheidungen unterliegen der gerichtlichen Nachprüfung gemäß § 114 VwGO darauf, ob sie sich innerhalb der gesetzlichen Grenzen des Ermessens gehalten haben und auf sachgerechten Erwägungen beruhen. Das ist im Hinblick auf die Festsetzung der Immissionsrichtwerte von 55 dB (A) in der Zeit von 7.00-22.00 Uhr und von 40 dB (A) in der Zeit von 22.00 bis 7.00 Uhr, gemessen nach der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA-Lärm), für das Wohnhaus des X in der Y-Straße nicht der Fall.
Wie sich aus der Begründung der angefochtenen Anordnung und des Widerspruchsbescheides ergibt, sind die Behörden bei der Festsetzung der Immissionsrichtwerte davon ausgegangen, dass das Wohnhaus Y-Straße in dem Umfang schutzwürdig ist wie ein Gebäude, das in einem Gebiet liegt, in dem vorwiegend Wohnungen untergebracht sind (Ziffer 2.321 TA-Lärm), d. h. einem allgemeinen Wohngebiet im Sinne des § 4 der Verordnung über die bauliche Nutzung der Grundstücke (Baunutzungsverordnung - BauNVO -) in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. September 1977 (BGBI. 1 S. 1763).
Eine derartige Betrachtungsweise ist jedoch nicht angängig. Allerdings ist die Kammer nach Durchführung der Ortsbesichtigung und Würdigung der Pläne der Auffassung, dass das Gebiet, in dem das Wohnhaus Y-Straße, Nr. Z, liegt, nach seiner tatsächlichen Nutzung einem allgemeinen Wohngebiet im Sinne von § 4 BauNVO entspricht. In der näheren Umgebung des Wohnhauses Y-Straße, Nr. Z, stehen nämlich vorwiegend Wohngebäude. Auch die ansonsten vorhandenen baulichen Anlagen stehen im Einklang mit dem Gebietscharakter eines allgemeinen Wohngebietes.
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Gleichwohl ist es nicht sachgerecht, für die Frage der Schutzwürdigkeit dieses allgemeinen Wohngebietes auf die für allgemeine Wohngebiete im Allgemeinen geltenden Immissionsrichtwerte abzustellen. Eine derartige Betrachtungsweise, wie sie ihren Niederschlag in den angefochtenen Bescheiden gefunden hat, berücksichtigt nämlich in nicht ausreichendem Maße die Interessen der Klägerin an dem Betrieb des Tanklagers, sondern ordnet diese - schematisch - denjenigen der Bewohner der Straße Y unter. Dies ist jedoch - im Übrigen ohne nähere Darlegung von Gründen in den angefochtenen Bescheiden - nicht sachgerecht.
In eine solche Ermessensentscheidung ist nämlich nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 1975, BVBI. 1976, S. 214 = DOV 1976, S. 387 = GewArch 1976, S. 99, Beschluss vom 27. Juni 1972, Feldhaus: Bundesimmissionsschutzrecht-Entscheidungssammlung-Loseblattausgabe, Wiesbaden 1978, § 25 Nr. 9 GewO, Urteil vom 16. April 1971, Buchholz 406.11 § 19 BBauG Nr. 26), der sich die erkennende Kammer anschließt, die besondere Situation einzubeziehen, in der eine schädliche Umwelteinwirkungen verursachende Anlage betrieben wird. Wie in den genannten Entscheidungen zum Ausdruck gekommen ist, kann nämlich im vorliegenden Fall nicht übersehen werden, dass die anlandenden Schiffe und das Tanklager der Klägerin am Rande eines Gebietes betrieben werden, das nach dem Flächennutzungsplan der Stadt K. und nach der tatsächlichen Nutzung einem Industriegebiet im Sinne von § 9 BauNVO und einem Gebiet nach Ziffer 2.321 Buchstabe a der TA-Lärm entspricht, d. h. einem solchen, in dem nur gewerbliche oder industrielle Anlagen und Wohnungen für Inhaber und Leiter der Betriebe sowie für Aufsichts- und Bereitschaftspersonal unter-gebracht sind. Diese konkrete Situation, d.h. die Lage der Anlage im Grenzbereich verschiedener Nutzungsarten, verlangt die Bildung einer Art von „Mittelwert", der Ausfluss der gegenseitigen Rücksichtnahme der verschiedenen Nutzungsarten ist. Keinesfalls rechtfertigt jedoch diese besondere Situation die in den angefochtenen Bescheiden zutage tretende Annahme, dass die Anlage der Klägerin im Grenzbereich zweier stark divergierender Nutzungsarten kumulativ die Anforderungen beider Nutzungsarten und somit die umweltfreundlichste (die Anforderung für das allgemeine Wohngebiet) erfüllen muss. Wie dieser „Mittelwert" letztlich festzulegen ist, bedarf im Rahmen dieses Verfahrens keiner weiteren Erörterung. Für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits genügt es festzustellen, dass mit der Festsetzung eines Immissionsrichtwertes für die Straße Y, der sich ausschließlich an dem Gebietscharakter dieses Gebietet orientiert, die Interessen der Klägerin an dem Betrieb der Bordpumpen in nicht ausreichendem Maße bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen eingestellt wurden und die in den Bescheiden getroffene Ermessensentscheidung nicht sachgerecht ist.