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Leitsätze:
1) Zu einer Kollision zwischen einem Seeschiff und einem Binnenschiff auf dem Nord-Ostsee-Kanal.
2) Wird infolge nicht voller Abladung und eines dadurch bewirkten geringeren Tiefgangs das Wirksamwerden des Rückwärtsmanövers eines mit Kortdüse ausgerüsteten Binnenschiffs erheblich verzögert, so hat dessen Schiffsführer seinen Lotsen vor Antritt der Fahrt über diese negative Manövriereigenschaft des Schiffes zu unterrichten.
3) Das Seeamt kann bei Havarien zwischen Seeschiff und Binnenschiff auch den Binnenschiffsführer als Beteiligten im Seeamtsverfahren ansehen und Schuldvorwürfe gegen ihn erheben.
Spruch des Seeamtes Flensburg
vom 16. August 1982
(Gegen den Spruch wurde Berufung eingelegt)
Zum Tatbestand:
Bei starkem Nebel (10 m Sicht) kollidierten auf dem Nord-Ostsee-Kanal im Brunsbütteler Binnenhafen das der Reederei K. gehörende, unter der Führung des Schiffsführers L. und unter Beratung des Seelotsen W. stehende Binnenmotorschiff „E" mit dem der Reederei S. gehörenden, unter Führung des Kapitäns R. und unter Beratung des Seelotsen M. stehenden MS „S" (Seeschiff). Beide Schiffe befanden sich auf Ostkurs und waren beladen, MS „E" nur etwa zur Hälfte. MS „S" war im Begriff eines Anlegemanövers an der BP-Bunkerstation in Brunsbüttel nach Anzeige des Bunkersignals und dessen Durchgabe an alle Schiffe über UKW, als im Radar ein achteraus zügig aufkommendes Echo erkannt war, die „S" aber schon wenig später an ihrer Backbordseite am Heck hart getroffen wurde. Auf dem Radarschirm der „E" hatte man in Höhe der BP-Station gleichfalls ein Objekt erkannt, das vermutlich im Begriff des Ablegens war. Das sofort eingeleitete Manöver „Maschine Stopp" und „ZV" reichte nicht aus, um die Kollision zu vermeiden. „S" erlitt erhebliche, „E" nur leichtere Schäden; nur letzteres Schiff konnte die Reise fortsetzen.
Im Verfahren vor dem Seeamt hielt der Bundesbeauftragte ein Verschulden sowohl des Schiffsführer L. als auch des Seelotsen W. des MS „E" als gegeben. Das Seeamt hat jedoch lediglich auf ein Verschulden des Schiffsführers L. erkannt.
Aus den Entscheidungsgründen:
„...
Ursächlich für den Zusammenstoß der „E" mit „S" war zunächst der sehr dichte Nebel, der ein rechtzeitiges optisches Erkennen des jeweiligen Kollisionsgegners ausschloss.
Die weiteren Ursachen des Unfalls konnten nicht vollständig aufgeklärt werden. Zunächst steht fest, dass auf beiden Schiffen zum Unfallzeitpunkt etwa Kanalkurs anlag. Für „E" steht dies außer Zweifel. Dass auch „S" etwa kanalrecht lag, ergibt sich zum einen aus der Bekundung des Seelotsen M., der angegeben hat, beim Unfall sei ein Kurs von 49 Grad abgelesen worden, zum anderen wird diese Aussage bestätigt durch die - auch von den in Augenschein genommenen Lichtbildern gestützte - Tatsache, dass „E" die „S" fast genau von hinten kommend gerammt hat. Insoweit ist der Aussage des Seelotsen W., „S" habe schräg im Fahrwasser gelegen, nicht zu folgen; seine Angaben sind insoweit als widerlegt anzu¬sehen.
Weiter geht das Seeamt davon aus, dass beide Schiffe in Übereinstimmung mit § 22 Seeschifffahrtsstraßenordnung sich ordnungsgemäß auf der rechten Fahrwasserseite aufgehalten haben.
...
Es liegt die Vermutung nahe, dass auf „E" mit einem vor dem Binnenschiff befindlichen anderen Fahrzeug auf der rechten Fahrwasserseite nicht gerechnet worden ist, weil man alle aus der Neuen Nordschleuse kommenden Schiffe hatte passieren lassen und der Abstand zum letzten dieser Fahrzeuge, der „L", nach den unwiderlegten Angaben von Seelotse W. und Schiffsführer L. sich immer mehr vergrößert hatte. Auch mag „S" zunächst im Radargerät der „E" nicht als Fahrzeug erkannt worden sein, weil die Echos der Bunkerbrücke, der „EH" und der „S" so miteinander verschwommen gewesen sein können, dass ein frühzeitiges Erkennen der sehr langsam laufenden oder gar gestoppt liegenden „S" erschwert war.
Mit ursächlich für den Unfall ist allerdings, dass „E" nicht rechtzeitig aufgestoppt werden konnte, nachdem in ihrer Kurslinie ein Echo bemerkt worden war, dies wiederum hat seine Mitursache darin, dass durch den geringen Tiefgang der - nicht voll abgeladenen - „E" deren Rückwärtsmanöver nicht voll wirksam wurde. Seelotse M. hat angegeben, nach seinen Beobachtungen seien auf „E" drei kurze Töne abgegeben worden, als sich das Binnenschiff noch etwa eine viertel Seemeile von „S" entfernt befand. Nach den Bekundungen des Seelotsen W. wurde auf „E" die Maschine gestoppt und auf RV umgesteuert, als der spätere Kollisionsgegner noch etwa 400 m entfernt war. Es ergibt sich somit, dass die beiden Unfallfahrzeuge noch einen erheblichen Abstand voneinander hatten, als auf „E" die Maschine auf Rückwärts umgesteuert wurde. Unter normalen Umständen hätte dieser Abstand ausreichen müssen, um das Binnenschiff rechtzeitig aufzustoppen. Dass dies nicht der Fall war, ist in Übereinstimmung mit den Angaben und der Auffassung des sein Schiff kennenden Schiffsführers L. darauf zurückzuführen, dass „E" nicht voll abgeladen war, dadurch einen relativ geringen Tiefgang hatte, was dazu führte, dass sich das Wirksamwerden des Rückwärtsmanövers auf dem mit einer Kortdüsenanlage ausgerüsteten Binnenschiff erheblich verzögerte.
Unter den gegebenen Umständen konnte ein Verschulden des Kapitäns und des Lotsenr des MS „S" an der Entstehung des Unfalls am 20. Dezember 1981 nicht festgestellt werden.
...
Entgegen dem Antrag des Bundesbeauftragten konnte auch ein Verschulden des beratenden Seelotsen des Binnenschiffes nicht mit der hierfür erforderlichen Sicherheit festgestellt werden. Seelotse W. hat unwiderlegt angegeben, er habe angenommen, der Vordermann wolle zur Nordseite hinübergehen. Unter diesen Umständen erscheint es verständlich, dass nicht versucht wurde, „S" zu überholen, sondern das Binnenschiff lediglich hinter dem voraus festgestellten Objekt aufzustoppen. Unter normalen Umständen wäre auch der Abstand zur „S" ausreichend gewesen, um die Fahrt rechtzeitig aus dem Binnenschiff zu nehmen. Dass dies offenbar nicht gelang, hat das Seeamt dem Lotsen der „E" nicht im Sinne eines Verschuldens angelastet. Seelotse W. war nicht bekannt, dass „E" in dem gegebenen Beladungszustand eine erheblich längere Zeit brauchte, um aufgestoppt zu werden, als wenn das Schiff voll abgeladen oder in Ballast gelaufen wäre. Entgegen der Vorschrift des § 10 Abs. 1 der Allgemeinen Lotsenordnung hat der Schiffsführer den Lotsen über diese besondere Eigenschaft seines Fahrzeugs nicht unterrichtet. Es ist dem Beteiligten W. daher kein Vorwurf darauf zu machen, dass er die Verzögerung, mit der beim Aufstopp-manöver zu rechnen war, nicht gekannt und damit nicht berücksichtigt hat. Aus eigener Kenntnis brauchte er mit dem besonderen Fahrverhalten der „E" nicht zu rechnen.
Zugunsten des Lotsen ist vielmehr davon auszugehen, dass „E" unter normalen Tiefgangsverhältnissen rechtzeitig hätte hinter der „S" aufgestoppt werden können und dass der Beteiligte W. von diesen normalen Verhältnissen ausging.
Dem Schiffsführer der „E" allerdings ist der Vorwurf schuldhaften Verhaltens im Sinne einer Mitverursachung des Unfalls zu machen, weil er in Kenntnis der geringen Rückwärtsleistung seines Schiffes das erforderliche Rückwärtsmanöver nicht eher eingeleitet und den Lotsen nicht über die eingeschränkte Rückwärtsleistung informiert hat.
In formeller Hinsicht konnte das Seeamt Schiffsführer L. als beteiligten Zeugen ansehen und einen Schuldvorwurf gegen ihn erheben, obwohl er kein See-, sondern ein Binnenschiff führte und nicht Inhaber einer deutschen Gewerbebefugnis als Kapitän, Seeschiffer oder Offizier ist. Dies entspricht ständiger Spruchpraxis des Seeamts Flensburg. Der Unfall vom 20. Dezember 1981 stellt sich zunächst als Seeunfall im Sinne von § 1 SUG dar, weil eines der beteiligten Fahrzeuge („S") ein Seeschiff ist. Unter diesen Umständen entspricht es allein den heutigen Vorstellungen rechtsstaatlichen Behördenhandelns, wenn auch der nicht im Besitze einer Gewerbebefugnis befindliche Führer des Binnenschiffes beteiligter Zeuge ist. Zunächst ist dem Seeunfalluntersuchungsgesetz die seeamtliche Untersuchung von Unfällen, die Binnenschiffe erlitten haben, nicht fremd (vgl. § 2 Abs. 2 SUG). Wenn das SUG unter bestimmten Voraussetzungen schon Unfälle von Binnenschiffen zu untersuchen hat, so erscheint es angemessen und erforderlich, dass in erweiterter Auslegung von § 12 SUG auch der Führer des beteiligten Binnenschiffes die Stellung eines Beteiligten hat. Anderenfalls würde er sich gegen Ausführungen im Seeamtsspruch, die sich kritisch mit seinem Verhalten auseinandersetzen und Vorwürfe schuldhaften Verhaltens beinhalten, nicht so zur Wehr setzen können, wie das SUG dies für den Beteiligten vorsieht (vgl. §§ 12 Abs, 2, 23-27, 34, 36, 38, 39 SUG).
Schiffsführer L. war bekannt, dass bei dem Beladungszustand und dem Tiefgang der „E", wie sie am Unfalltage vorlagen, sich die Maschinenleistung auf Rückwärts nicht vollständig auswirkte, so dass bei Aufstoppmanövern mit einer Verzögerung bei der Fahrtreduzierung zu rechnen war.
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Es ist davon auszugehen, dass der Lotse bei Kenntnis des langen Aufstoppwegs der „E" früher ein Umsteuern der Maschine auf Rückwärts angeraten hätte. Als Schiffsführer L. - der am Ruder stehend das ihm vertraute, in seiner unmittelbaren Nähe angebrachte Radargerät beobachtete - in einem Abstand von 400 m in der Kurslinie der „E" sich ein Objekt von der Bunkerbrücke lösen sah, hätte er die Maschine nicht erst stoppen dürfen, sondern sie in Anbetracht der verringerten Rückwärtsleistung sofort auf RV umsteuern müssen. Der Umstand, dass er dies nicht tat, ist ihm als Verschulden anzulasten.
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