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6 U 15/69 - Oberlandesgericht (Rheinschiffahrtsobergericht)
Entscheidungsdatum: 22.05.1969
Aktenzeichen: 6 U 15/69
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Oberlandesgericht Hamburg
Abteilung: Rheinschiffahrtsobergericht

Leitsatz:

Der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Schiffers wird dadurch entkräftet, dass der volle Beweis für einen Sachverhalt erbracht wird, der die ernsthafte Möglichkeit eines anderen, nicht auf Verschulden der Schiffsbesatzung beruhenden Geschehensablauf ergibt.

Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts - Schifffahrtsobergericht

vom 22. Mai 1969

Zum Tatbestand:

Auf der Hunte fuhren talwärts das der Klägerin gehörende MS „E“ und etwa 60-70 m vor ihm der der beklagten Wasser- und Schifffahrtsverwaltung gehörende und mit je 1 Schottelantrieb an der Steuerbord- und der Backbordseite ausgerüstete Schwimmgreifer „SG 5". Bei km 3.95 drehte der Schwimmgreifer gegen die linke Uferböschung, um dort anzulegen. MS „E“ machte langsam und hielt sich auf der rechten Fahrwasserseite. Beim Passieren des Schwimmgreifers bewegte sich dieser plötzlich rückwärts, scherte zur Fahrwassermitte aus und berührte mit seinem Achterschiff die Backbordseite von MS „„E“".
Die Klägerin verlangt Ersatz des Schadens von insgesamt über 2800,- DM, weil die Schiffsführung von „SG 5" schuldhaft gehandelt habe.
Die Beklagte bestreitet dies. Wenn der Schwimmgreifer zeitweise aus dem Ruder gelaufen sei, begründe dies keinen Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Schiffsführers. Dieser habe bei km 3.95 den Backbordanker fallen lassen und mit dem Steuerbordantrieb mit langsamer Fahrt voraus das Schiff gegen die linke Uferböschung gedreht, um mit der Steuerbordseite des Schwimmgreifers dort anzulegen. Um das Vorschiff von der Böschung zu halten, habe er den Steuerbordantrieb langsam weiter laufen lassen. Mit dem Backbordantrieb habe er dann einen Schlag rückwärts gegeben, um dem Express-Motor noch mehr Raum zu geben. Nach einem harten Schlag im Backbordantrieb sei dem Schiffsführer das Steuerrad aus der Hand gekommen, wobei der Daumen seiner linken Hand eingeklemmt und er selbst mit dem Kopf gegen die linke Ruderhauswand geschlagen sei. Gleichzeitig habe sich der Steuerbordantrieb unbemerkt auf Rückwärtsfahrt gedreht. Darauf sei „SG 5" von der Böschung losgekommen und - ohne die Möglichkeit von Gegenmanövern - zur Fahrwassermitte verfallen. Das Versagen der Steuerung habe auf einem Materialfehler beruht. Nach den Feststellungen der Werft habe die Bremsfeder des Steuerbordantriebs versagt. Die Feder habe, wie erst nachträglich bekannt geworden sei, aus einer fehlerhaften Fertigungsserie gestammt. Anlässlich der vorherigen Übernahme des „SG 5" sei auf einer Probefahrt der Schottelantrieb gründlich erprobt worden, ohne dass sich Anstände ergeben hätten.
Das Schifffahrtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung blieb erfolglos.

Aus den Entscheidungsgründen:

Es kann zugunsten der Klägerin unterstellt werden, dass „SG 5", als er entgegen dem beabsichtigten Anlegemanöver rückwärts in Richtung Fahrwassermitte Fahrt aufnahm, auf die für ihn falsche, nämlich die von „„E“" aus rechte Fahrwasserseite geriet. Damit würde der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden der Schiffsführung von „SG 5" an dem Zusammenstoß sprechen, weil das Schiff aus dem Ruder lief und seine Führung objektiv gegen eine Verkehrsvorschrift verstieß (vgl. BGH Hansa 67, 17) und zwar gegen § 35 SSchSO.
Der somit geschaffene Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Schiffers ist aber entkräftet worden dadurch, dass die Beklagte den vollen Beweis für einen Sachverhalt erbracht hat, der die ernsthafte Möglichkeit eines anderen, nicht auf Verschulden der Schiffsbesatzung beruhenden Geschehens¬ablaufs ergibt (vgl. BGHZ 6, 169, 171; 8, 239, 240; JR 69, 104). Daraus, dass der Schiffsführer ohne Rücksicht auf das ihm folgende „E“ bei km 3.95 nach Backbord drehte, um mit seiner Steuerbordseite am linken Flussufer anzulegen, kann die Klägerin nichts der Beklagten Nachteiliges herleiten.
Mit dem Aufsetzen des Schwimmgreifers auf die Böschung war bei normalem Geschehensablauf die mit dem Drehen stets verbundene Gefahr für den durchgehenden Verkehr beendet, zumal unstreitig Entgegenkommer nicht in Sicht waren. Die unvermutete Rückwärtsfahrt infolge des Versagens der Bremsfeder des Steuerbordantriebs leitete danach einen neuen Geschehensablauf ein.
Es ist bewiesen, dass die unvermutete Rückwärtsfahrt bis über die Fahrwassermitte allein auf das technische Versagen des Schottel-Antriebs zurückgeht und dem Zeugen B. als Schiffer in diesem Zusammenhang kein Schuldvorwurf zu machen ist. Das Versagen selbst, nämlich der Ausfall der im Steuerbordantrieb eingebauten Bremsfeder und das dadurch bewirkte Drehen dieses Antriebs auf Rückwärtsfahrt, ist bewiesen durch die insoweit glaubhafte Aussage des Zeugen B. und wird von der Klägerin auch nicht mehr bestritten. Ein Verschulden an dem Ausfall der Bremsfeder trifft möglicherweise die Werft oder den Hersteller, nicht aber eine Person der Schiffsbesatzung von „SG 5".
Zutreffend hat das Schifffahrtsgericht festgestellt, dass die vom Schiffer ausgeführten Anlegemanöver nicht zu beanstanden sind. Wäre nicht die Bremsfeder des Steuerbordantriebs ausgefallen, hätte er die eingeleiteten Manöver ohne Behinderung des MS „E“ beenden können. Es erscheint sachgerecht, dass B., wie er als Zeuge glaubhaft geschildert hat, das Drehmanöver nach dem Fallenlassen des Backbordankers bei gestoppter Backbord-Maschine mit langsam vorauslaufender Steuerbord-Maschine einleitete und, als der Schwimmgreifer mit dem Kopf an der Böschung lag, mit der Backbord-Maschine einen Schlag zurückgab, um das Fahrzeug vollends mit der Steuerbordkante an die Böschung zu legen. Damit, dass ihm - schon als Folge des sich drehenden Steuerbordantriebs - durch einen plötzlichen harten Schlag das Rad aus der Hand flog, sein Daumen nach außen gebogen und er für einige Augenblicke handlungsunfähig gemacht wurde, brauchte es ebenso wenig zu rechnen wie damit, dass die Bremsfeder versagte und das Fahrzeug durch das Drehen des Steuerbordantriebs Rückwärtsfahrt aufnahm. B. hatte, wie seine insoweit auch von der Klägerin nicht angegriffene Aussage ergibt, bereits an der Übernahmefahrt von der Werft in Bodenwerder nach Hemelingen und an der Abnahmefahrt auf der Strecke von Mittelsbüren nach Vegesack teilgenommen. Auf beiden Fahrten wurden alle möglichen Manöver probiert. B. befand sich sodann mit „SG 5" in Arbeitseinsatz ab 2. Januar 1967. Während der genannten Fahrten bemerkten die Besatzung und die Mitfahrer nichts Auffälliges an der Schottel-Anlage.
Aus dem Vorstehenden folgt, dass die Klägerin auch nicht nach den §§ 823, 89, 31 oder 831 BGB von der Beklagten mit Erfolg Schadensersatz verlangen kann mit der Begründung, diese habe „SG 5" ohne gehörige Erprobung und insbesondere Prüfung des Antriebs in Dienst gestellt oder einem nicht geeigneten, weil mangelhaft unterwiesenen Schiffsführer anvertraut."