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524 Z - 2/21 - Berufungskammer der Zentralkommission (-)
Entscheidungsdatum: 23.02.2021
Aktenzeichen: 524 Z - 2/21
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Berufungskammer der Zentralkommission Straßburg
Abteilung: -

Urteil

vom 23. Februar 2021

(auf Berufung gegen das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts St. Goar vom 5. März 2020 - 4 C 9/17 BSchRh -)

 

Im Rechtsstreit hat die Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt in Straßburg mit Zustimmung der Parteien ohne mündliche Verhandlung am 27. Januar 2021, gestützt auf Art. 37 und 45bis der Revidierten Rheinschifffahrtsakte vom 17.10.1868 in der Fassung vom 20.11.1963 sowie des Art. III ihres Zusatzprotokolls Nr. 3 vom 17.10.1979, folgendes Urteil gefällt:

 

Es wird Bezug genommen auf:

1.      das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts St. Goar vom 5. März 2020, das den Klägerinnen am 24. März 2020 und den Beklagten am 30. März 2020 zugestellt worden ist;

2.      die Berufungsschrift der Klägerinnen vom 30. März 2020, eingegangen bei Gericht am 31. März 2020;

3.      die Berufungsbegründungsschrift der Klägerinnen vom 24. April 2020, eingegangen bei Gericht am 24. April 2020;

4.      die Berufungsschrift der Beklagten vom 24. April 2020, eingegangen bei Gericht am 27. April 2020;

5.      die Berufungsbegründungsschrift der Beklagten vom 19. Mai 2020, eingegangen bei Gericht am 22. Mai 2020;

6.      die Berufungserwiderungsschrift der Beklagten vom 28. Mai 2020, eingegangen bei Gericht am 2. Juni 2020;

7.      die Berufungserwiderungsschrift der Klägerinnen vom 24. Juni 2020, eingegangen bei Gericht am 25. Juni 2020;

8.      die Akten 4 C 9/17 BSchRh des Rheinschifffahrtsgerichts St. Goar;

9.      die Ordnungswidrigkeitenakte 229/17 der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt Mainz

Die genannten Akten haben der Berufungskammer vorgelegen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten über die Verantwortlichkeit für einen Schiffsunfall, der sich am 8. Dezember 2016 gegen 5:20 Uhr bei Rheinkilometer 621,6 ereignet hat. An dem Unfall beteiligt war zum einen der Koppelverband bestehend aus dem Motorschiff „JS“ (Länge 108,20 m, Breite 11,44 m, Tragfähigkeit 1.900 t, Maschinenleistung 1251 kW) und dem an der Backbordseite festgemachten Schubleichter SL (Länge 76,43m, Breite 11,00 m, Tragfähigkeit 1.626 t, im Folgenden: KV „JS“). Die Klägerin zu 1 ist Eignerin, die Klägerin zu 2 Ausrüsterin des Koppelverbands, der, beladen mit insgesamt 2.300 t Sonnenblumenkernen, auf der Reise von Budapest nach Amsterdam war.

Am Abend des 7. Dezember 2016 machte KV „JS“ am rechten Rheinufer auf der Höhe von Rheinbrohl bei Rheinkilometer 621,4 steuerbordseitig Kopf zu Tal an den Dalben der Firma "SI" fest, um dort zu übernachten. Zum damaligen Zeitpunkt herrschte Niedrigwasser, der Pegel Andernach lag bei 121 cm.

Die Beklagte zu 1 ist Eignerin des Schubverbands bestehend aus dem Motorschiff „E1“ (Länge 110,00 m, Breite 11,45 m, Tragfähigkeit 3.269 t, Maschinenleistung 2x1.120 kW) und dem Schubleichter „E2“ (Länge 76,43 m, Breite 11,45 m, Tragfähigkeit 2.474 t, im Folgenden: SV „Estate“). Der Beklagte zu 2 war zum Unfallzeitpunkt Schiffsführer und Rudergänger des Schubverbands, der mit einigen Containern abgeladen auf 1,40 m (MS „E“) und 1,20 m (SL „E2“) den Rhein zu Berg befuhr.

Am 8. Dezember 2016 gegen 5:13 Uhr passierte SV „“ den stillliegenden KV „JS“. Kurze Zeit später riss der Koppelverband sich los, drehte sich um die eigene Achse und trieb zu Tal. Bevor es der Besatzung gelang, die Antriebsmaschine des Motorschiffs zu starten, kollidierte KV „JS“ zwischen Rheinkilometer 621,5 und 621,6 mit dem rechtrheinisch zu Berg fahrenden TMS „V“, dem es nicht mehr gelang, dem treibenden KV „JS“ auszuweichen. Bei der Kollision wurden MS „JS“ an der Steuerbordseite und TMS „V“ am Backbordbug erheblich beschädigt.

Die Kosten der Reparatur des MS „JS“ sind in Höhe von 34.511 € bei einer Reparaturdauer von 14 Tagen kontradiktorisch festgestellt. Dasselbe gilt für die Kosten der Reparatur des TMS „V“ in Höhe von 34.943,54 € und den Nutzungsausfall für neun Kalendertage Reparaturzeit in Höhe von 4.812,50 €; diese Schäden hat die Klägerin zu 1 gegen finale Quittung mit einer Zahlung von pauschal 40.000 € reguliert. Die Taxierungskosten des Expertenbüros Gielisch belaufen sich auf 3.608 €. Die Klägerinnen begehren Schadensersatz teils aus eigenem, teils aus abgetretenem Recht. Sie beziffern ihre Gesamtforderung gegen die Beklagten auf 96.333,42 €.

Die Klägerinnen haben vorgetragen:

Die Beklagten seien für das streitgegenständliche Unfallereignis verantwortlich. Die Tatsache, dass KV „JS“ unmittelbar nach der Vorbeifahrt des SV „E“ abgerissen sei und 96 Sekunden nach der Vorbeifahrt begonnen habe, zu Tal zu treiben, begründe einen Anscheinsbeweis für ein Verschulden des vorbeifahrenden Schiffs. SV „E“ sei in zu geringem Abstand und mit zu hoher Geschwindigkeit an dem ordnungsgemäß festgemachten und beleuchteten KV „JS“ vorbeigefahren.

Die Klägerinnen haben beantragt,

1.     die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 1 96.333,42 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 59.920,40 € für die Zeit vom 10. Oktober 2017 bis 7. November 2017 und aus 96.333,42 € seit 8. November 2017 zu zahlen, die Beklagte zu 1 zusätzlich dinglich haftend mit einem am 8. Dezember 2016 an MS „E“ entstandenen Schiffsgläubigerrecht,

2.     festzustellen, dass die Beklagten die Klägerinnen von allen Schadensersatzansprüchen Dritter, die durch den Abriss des KV „JS“ von den Dalben bei Rheinkilometer 621,8 am 8. Dezember 2016 verursacht sind, freizustellen, insbesondere von Schäden an dem unteren (talwärts gelegenen) Dalben, der im Eigentum der Firma Solvay Infra, Bad Hönningen, stehen solle, die Beklagte zu 1 auch für diese Forderung zusätzlich dinglich haftend mit einem am 8. Dezember 2016 an MS „E“ entstandenen Schiffsgläubigerrecht, und

3.     die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin vorprozessuale Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 1.973,90 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Klagezustellung zu zahlen.

Die Beklagten haben beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie haben bestritten, dass das Abreißen des KV „JS“ durch die Vorbeifahrt des SV „E“ verursacht worden sei, und dazu unter Vorlage mehrerer Privatgutachten im Wesentlichen vorgetragen:

KV „JS“ habe an einer nicht geeigneten Stelle festgemacht. Bei den Dalben der ehemaligen Verladestation der Firma "S" handele es sich nicht um einen ausgewiesenen und geeigneten Liegeplatz. Die Dalben hätten sich nicht mehr in einem ordnungsgemäßen Zustand befunden und seien deshalb zum Festmachen ungeeignet gewesen. Es müsse auch bezweifelt werden, dass die zum Festmachen verwendeten Drähte wegen ihres Alters und ihrer Stärke für das Festmachen geeignet gewesen seien. Zur angemessenen Befestigung des KV „JS“ hätte zudem der Achteranker gesetzt werden müssen, der selbst bei einem Drahtbruch das Abtreiben des Verbands verhindert hätte. Dies gelte umso mehr, als bei einem Koppelverband bestehend aus zwei abgeladenen Schiffen in zwei Breiten in Talrichtung der durch die Strömung verursachte Druck auf die Achterschiffe erheblich größer sei als bei einem Heck auf Bug gekoppelten Verband. Es sei auch nicht erwiesen, dass SV „E“ zu dicht am Ufer und zu schnell an KV „JS“ vorbeigefahren sei. Schließlich habe die Schiffsführung des KV „JS“ auf den Drahtbruch nicht unverzüglich reagiert. Die Schadenshöhe und die Aktivlegitimation der Klägerinnen für die Geltendmachung der Schäden an TMS „V“ werde bestritten.

Das Rheinschifffahrtsgericht hat die Ermittlungsakte der Wasserschutzpolizei Andernach (Ordnungswidrigkeitenakte 229/17 der Wasserstraßen- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes, Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt Mainz) beigezogen und Beweis erhoben durch Vernehmung von Zeugen, Einholung eines Sachverständigengutachtens und mündliche Erläuterung desselben sowie durch Anhörung des Beklagten zu 2.

Mit Urteil vom 5. März 2020 hat das Rheinschifffahrtsgericht der Klage zum ganz überwiegenden Teil stattgegeben und lediglich die Zahlungsklage zur Hauptsache in Höhe eines Teilbetrags von 3.197,54 € abgewiesen.

Zur Begründung seiner Entscheidung hat es im Wesentlichen ausgeführt:

Die Klägerin zu 1 könne als Eignerin des KV „JS“ gemäß §§ 2, 3, 92b BinSchG, § 823 BGB von den Beklagten als Eignerin und Schiffsführer des SV „E“ Schadenersatz in der zuerkannten Höhe verlangen.

Unter Berücksichtigung des vorgetragenen Sach- und Streitstands, der Auswertung der beigezogenen Ermittlungsakte und des Ergebnisses der Beweisaufnehme stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Beklagte zu 2 als Schiffsführer am Morgen des 8. Dezember 2016 gegen 5:12 Uhr mit SV „E“ zu dicht und zu schnell an dem stillliegenden KV „JS“ vorbeigefahren sei. Den ECDIS-Auswertungen der GPS-Navigationsdaten von TMS „V“ sei zu entnehmen, dass SV „E“ das einzige größere Schiff sei, das zwischen 5:11 Uhr und 5:14 Uhr an dem stillliegenden KV „JS“ so dicht und mit einer derart hohen Geschwindigkeit vorbeigefahren sei. Eine Beeinflussung des stillliegenden Koppelverbands könne folglich nur durch den zu Berg fahrenden SV „E“ stattgefunden haben, der ausweislich der aufgezeichneten GPS-Navigationsdaten den stillliegenden Koppelverband mit einer Geschwindigkeit von 12,6 km/h in einem seitlichen Abstand von ca. 40 m passiert habe. KV „JS“ habe sich knapp drei Minuten nach der Vorbeifahrt des Talfahrers MS „R“, aber bereits 90 Sekunden nach der Vorbeifahrt des SV „E“ in Bewegung gesetzt. Berücksichtige man ferner, dass SV „E“ sehr viel näher an dem Stilllieger vorbeigefahren sei als der Talfahrer MS „R“ und dass der Sog und Wellenschlag eines Bergfahrers mit einer Geschwindigkeit von 12,6 km/h wesentlich größer sei als der eines Talfahrers, der mit einer Geschwindigkeit von 16,7 km/h in der Mitte der Fahrrinne fahre, so bleibe kein vernünftiger Zweifel daran, dass ursächlich für den Abriss des KV „JS“ nur der zu Berg fahrende SV „E“ gewesen sein könne. Dies alles begründe einen Anscheinsbeweis für ein Verschulden des vorbeifahrenden Schiffs, für den zusätzlich spreche, dass KV „JS“ etwa 8,5 Stunden an der Ladestation der Firma "S" in Ufernähe unbeeinträchtigt stillgelegen habe, obwohl wie an jedem Werktag gerichtsbekannt auch nachts auf dem Rhein reger Schiffsverkehr geherrscht habe.

Dem könnten die Beklagten nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass die Klägerinnen den Abriss wegen überwiegenden Eigenverschuldens selbst zu vertreten hätten.

Die Beklagten könnten nicht mit Erfolg geltend machen, KV „JS“ sei in der Dunkelheit nicht zu erkennen gewesen. Nach den glaubhaften Aussagen der Zeugen "AR" und "ST" sei die Nachtbeleuchtung sowohl auf dem Motorschiff als auch auf dem Schubleichter eingeschaltet gewesen, auf dem Schubleichter dazu die zum Wasser hin leuchtende Gangbordbeleuchtung. Unstreitig sei auf KV „JS“ zudem das AIS-System eingeschaltet gewesen, so dass der Schiffsführer des SV „E“, der nach eigenen Angaben mit eingeschaltetem AIS und Radar unterwegs gewesen sei, den stillliegenden KV „JS“ auch auf AIS und/oder Radar hätte erkennen müssen, wenn er diese Instrumente aufmerksam beobachtet hätte.

Den Klägerinnen könne auch nicht vorgehalten werden, KV „JS“ habe an einer ungeeigneten Liegestelle festgemacht. Das Festmachen an den Dalben der Firma Solvay sei nicht verboten gewesen. Die Dalben seien zum Festmachen des KV „JS“ auch geeignet gewesen und hätten den Abriss des KV „JS“ bis auf den Abriss eines Stahlstreifens mit einem aufgesetzten Poller am untersten Dalben ohne Deformation überstanden. Die Liegeposition des KV „JS“ sei auch unter Berücksichtigung des zur Unfallzeit herrschenden Niedrigwassers nach der Einschätzung des Sachverständigen Landwehr nicht ungeeignet gewesen; KV „JS“ habe noch etwa 1,5 m Wasser unter dem Kiel gehabt.

KV „JS“ sei nach den glaubhaften Aussagen der Zeugen "R", "S" und "N" mit drei Drahtseilen und einem Kunststofftau, die neu und unbeschädigt gewesen seien, an dem stromoberen und dem stromunteren der drei Dalben festgemacht gewesen. Diese Art der Befestigung habe der Sachverständige Landwehr für zutreffend gehalten. Die Bruchfestigkeit der verwendeten Drahtseile mit einer Stärke von mindestens 18 mm habe mit 210 kN die im Schiffsattest des KV „JS“ geforderte Bruchkraft von 181 kN übertroffen. Nach den übereinstimmenden Angaben der Zeugen "R", "S" und "N" seien die Drahtseile jeweils in doppelter Bucht um die Dalben herumgelegt und mit Winden festgezogen worden. Diese Art der Festmachung sei nach der Einschätzung des Sachverständigen Landwehr nicht zu beanstanden. Die Behauptung der Beklagten, die verwendeten Drähte und Seile seien aufgrund des Anzugs mit den Winden überlastet worden und aus diesem Grund gebrochen, sei spekulativ, weil die Kraft, mit der die Seile strammgezogen worden seien, nicht bekannt sei; so sehe das auch der Sachverständige Landwehr.

Nach der Beurteilung des Sachverständigen Landwehr sei es nicht erforderlich, zusätzlich einen Heckanker zu setzen, weil KV „JS“ an den Dalben ordnungsgemäß festgemacht gewesen sei und ein Heckanker bei Niedrigwasser nichts bringe. Da KV „JS“ sich bei dem Abriss um die eigene Achse gedreht habe und schließlich Heck zu Tal stromabwärts getrieben sei, sei es auch unwahrscheinlich, dass der Heckanker gegriffen hätte.

Schließlich könne der Besatzung des KV „JS“ auch nicht vorgeworfen werden, sie habe zu träge und langsam reagiert, nachdem sie den Abriss des Koppelverbands bemerkt habe. Bis zur Kollision mit TMS „V“ seien nur 3 Minuten und 14 Sekunden vergangen.

Die Gesamtforderung der Klägerinnen belaufe sich auf nur 93.135,88 €. Der mit einem Betrag von 18.214,42 € geltend gemachte Nutzungsausfallschaden bestehe bei Zugrundelegung des von den Klägerinnen nicht bestrittenen Tagessatzes von 1.090,06 € (statt 1.301,03 €) nur in Höhe von 15.260,84 €. Unbegründet sei ferner der Differenzbetrag von 243,96 € zwischen dem insoweit kontradiktorisch festgestellten Schaden von 39.756,04 € und dem von der Klägerin zu 1 an die Interessenten des TMS „V“ gezahlten Pauschalbetrags von 40.000 €.

Gegen dieses Urteil haben beide Parteien form- und fristgerecht Berufung mit dem Antrag auf Entscheidung der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt eingelegt und die Rechtsmittel jeweils form- und fristgerecht begründet.

Die Klägerinnen wenden sich allein gegen die Abweisung des Differenzbetrags von 243,96 € zwischen dem insoweit kontradiktorisch festgestellten Schaden von 39.756,04 € und dem von der Klägerin zu 1 an die Interessenten des TMS „V“ gezahlten Pauschalbetrag von 40.000 €. Zur Begründung machen sie geltend, dass der Pauschalbetrag, auf den man sich verglichen habe, neben dem kontradiktorisch festgestellten Schaden auch Zinsen und Kosten abdecke, die zusammengenommen mit dem kontradiktorisch festgestellten Schaden die Vergleichssumme überstiegen.

Die Klägerinnen beantragen unter Wiederholung der Klageanträge zu 2 und 3,

die Beklagten unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin zu 1  93.379,84 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 59.920,40 € für die Zeit vom 10. Oktober 2017 bis 7. November 2017 und aus 93.379,84 € seit 8. November 2017 zu zahlen, die Beklagte zu 1 zusätzlich dinglich haftend mit einem am 8. Dezember 2016 an MS „E“ entstandenen Schiffsgläubigerrecht.

Die Beklagten beantragen,

die Berufung der Klägerinnen zurückzuweisen und die Klage unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils abzuweisen.

Zur Begründung tragen sie unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens im Wesentlichen vor:

Das Rheinschifffahrtsgericht habe zu Unrecht zu Lasten der Beklagten eine prima-facie-Beweislage angenommen. Ein Anscheinsbeweis komme bei der Vorbeifahrt an einem Stilllieger zu Lasten des vorbeifahrenden Schiffs allenfalls dann in Betracht, wenn der Geschädigte den Nachweis erbringe, dass der Stilllieger an ordnungsgemäßer Stelle mit ordnungsgemäß beschaffenen Drähten in ordnungsgemäßer Weise an ordnungsgemäßen Dalben befestigt gewesen sei und eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür spreche, dass von dem vorbeifahrenden Schiff eine schädliche Sogwirkung auf den Stilllieger ausgeübt worden sein könne. Diesen Nachweis hätten die Klägerinnen nicht erbracht und könnten ihn auch nicht erbringen, weil KV „JS“ an verbotener Stelle gelegen habe, an dafür ungeeigneten Dalben festgemacht habe, mit nicht ordnungsgemäß beschaffenen und nicht ordnungsgemäß gesetzten Drähten befestigt gewesen sei, schifffahrtsunüblich keinen Heckanker ausgebracht habe, nicht ordnungsgemäß beleuchtet gewesen sei und weil vor allem von dem an dem Stilllieger vorbeifahrenden SV „E“ aufgrund der hydrodynamischen Gegebenheiten keine schädliche Sogwirkung auf den stillliegenden Koppelverband ausgeübt worden sei. Daraus folge, dass das Reißen der Drähte auf dem Koppelverband der Schiffsführung des KV „JS“ anzulasten sei, die in mehrfacher Hinsicht gegen die Vorschrift des § 7.01 Abs. 4 RheinSchPV verstoßen habe.

Die Klägerinnen beantragen,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Sie verteidigen das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts, soweit der Klage stattgegeben wurde.

Entscheidungsgründe:

Die Berufungen beider Parteien sind zulässig. Die Berufung der Klägerinnen ist begründet, die der Beklagten ist unbegründet.

Das Rheinschifffahrtsgericht hat die Beklagten zu Recht gemäß §§ 2, 3, 92 Abs. 2, 92b BinSchG, § 823 BGB zum Ersatz der Schäden verurteilt, die durch das Abreißen des stillliegenden KV „JS“ und dessen Kollision mit TMS „V“ entstanden sind, und der Klage auf Freistellung von Schadensersatzansprüchen Dritter, die durch den Abriss des KV „JS“ von den Dalben bei Rheinkilometer 621,4 am 8. Dezember 2016 verursacht sind, stattgegeben.

Zu Recht hat das Rheinschifffahrtsgericht einen schuldhaften Verstoß des Beklagten zu 2 als Schiffsführer des SV „E“ gegen § 6.20 Nr. 1 lit. c RheinSchPV als erwiesen angesehen.

Wie aus der ECDIS-Auswertung der auf TMS „V“ aufgezeichneten GPS-Daten durch die Wasserschutzpolizei hervorgeht, passierte SV „Estate“ in der Bergfahrt den an der ehemaligen Verladestation bei Rheinkilometer 621,4 stillliegenden KV „JS“ am rechtsrheinischen Rand der Fahrrinne mit einer Geschwindigkeit von 12,6 km/h. Der seitliche Abstand der Fahrzeuge bei der Vorbeifahrt betrug nach den Feststellungen des Sachverständigen Landwehr 40 m. 90 Sekunden später setzte KV „JS“ sich mit 2,2 km/h in Richtung auf die Fahrrinne in Bewegung. SV „E“ hatte sich zu diesem Zeitpunkt ca. 350 m stromaufwärts fortbewegt.

Gut eine Minute vor SV „E“ hatte MS „R“ den stillliegende Koppelverband in der Mitte des Fahrwassers mit 16,7 km/h zu Tal fahrend passiert. Beim Losreißen des KV „JS“ knapp drei Minuten nach der Vorbeifahrt hatte MS „R“ sich ca. 750 m zu Tal fortbewegt.

Angesichts dieser Umstände hat auch die Berufungskammer keinen Zweifel, dass für das Abreißen des KV „JS“ allein die Vorbeifahrt des SV „E“ ursächlich gewesen sein kann. MS „R“ hatte den stillliegenden Koppelverband in einem weit größeren seitlichen Abstand als SV „E“ passiert und war zum Zeitpunkt des Abreißens des Koppelverbands schon gut doppelt so weit von dessen Liegeplatz entfernt wie SV „E“. Einziges weiteres Schiff in räumlicher Nähe war zu diesem Zeitpunkt MS „P“, das kurz zuvor im linksrheinischen Fahrwasser gestartet war und mit 9,3 km/h in der Mitte der Fahrrinne zu Berg fuhr, KV „JS“ aber noch nicht passiert hatte, als dieser abriss. Für die Ursächlichkeit der Vorbeifahrt des SV „E“ spricht unter diesen Umständen der Beweis des ersten Anscheins.

Fährt ein Schiff unter Verstoß gegen die Schutzvorschrift des § 54 Nr. 1 c RhSchPVO (jetzt § 6.20 Nr. 1 lit. c RheinSchPV) an einem ordnungsgemäß gesicherten Stillieger vorbei und kommt es innerhalb eines räumlichen oder zeitlichen Zusammenhangs mit der Vorbeifahrt zu einem Brechen der Drähte des Stilliegers, so spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass das Verhalten des Vorbeifahrers ursächlich für das Brechen der Drähte war (BGH, Urteil vom 18. September 1969 – II ZR 180/67, VersR 1969, 1090).

So verhält es sich hier. KV „JS“ war nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme mit mindestens drei Drahtseilen und einem Kunststofftau, die jeweils eine ausreichende Bruchfestigkeit aufwiesen, an den beiden äußeren Dalben der ehemaligen Verladestation der Firma Solvay festgemacht. Nach der Beurteilung des gerichtlich bestellten Gutachters Landwehr war diese Art der Befestigung ordnungsgemäß. SV „E“ hat den stillliegenden KV „JS“ 90 Sekunden vor dem Abreißen mit einem seitlichen Abstand von 40 m und unverminderter Geschwindigkeit von 12,6 km/h passiert. Innerhalb dieses nahen räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs mit der Vorbeifahrt kam es zum Bruch der Drähte des Stillliegers, der zuvor mehr als acht Stunden unbeeinträchtigt an gleicher Stelle gelegen hatte.

Die hiergegen vorgebrachten Einwände der Beklagten sind unbegründet. Es trifft nicht zu, dass KV „JS“ an verbotener Stelle gelegen habe, an dafür ungeeigneten Dalben festgemacht habe, und mit nicht ordnungsgemäß beschaffenen und nicht ordnungsgemäß gesetzten Drähten befestigt gewesen sei. Die Dalben einer (ehemaligen) Verladestation sind zu nichts anderem als zum Festmachen von Schiffen bestimmt und somit grundsätzlich ein geeigneter Liegeplatz. Dass das Festmachen an den Dalben der ehemaligen Verladestation der Firma Solvay verboten gewesen wäre, ist eine unbewiesene Behauptung der Beklagten. Die Begutachtung der Dalben durch den Gutachter Landwehr hat auch nichts dafür ergeben, dass die Dalben alters- oder korrosionsbedingt zum Festmachen des KV „JS“ ungeeignet gewesen wären. Ursächlich für das Abreißen des KV „JS“ war im Übrigen nicht ein Nachgeben der Dalben, sondern der Bruch der daran befestigten Seile. Die behauptete Ungeeignetheit der Dalben lässt sich auch nicht mit dem Umstand begründen, dass an dem stromunteren Dalben ein Eisenspan mit aufgesetztem Poller herausgerissen wurde. Denn dies ist, wie das Rheinschifffahrtsgericht aufgrund der Angaben des Schiffsführers Vargyas gegenüber der Wasserschutzpolizei und der Aussage der Zeugin Koopmans zu Recht festgestellt hat, darauf zurückzuführen, dass KV „JS“ zuerst mit dem Achterschiff abriss, sich dann um die eigene Achse drehte, so dass er schließlich mit der Strömung zu Tal treibend nur noch an dem Poller des stromunteren Dalbens festhing, der dieser Beanspruchung alleine nicht gewachsen war.

Ihre Behauptung, KV „JS“ sei mit nicht ordnungsgemäß beschaffenen und nicht ordnungsgemäß gesetzten Drähten befestigt gewesen, haben die Beklagten, die dafür die Beweislast tragen (BGH, Urteil vom 2. April 1990 – II ZR 131/89, juris), nicht beweisen können. Der gerichtlich bestellte Gutachter Landwehr hat vielmehr ermittelt, dass die auf KV „JS“ vorhandenen Drahtseile den Anforderungen des für KV „JS“ ausgestellten Schiffsattests entsprachen, die dort festgelegten Bruchlastwerte überstiegen und allesamt nicht älter als ein Jahr waren. Ebenso hat er bestätigt, dass die Art der Befestigung des Koppelverbands an den Dalben ordnungsgemäß war.

Auch die weitere Behauptung der Beklagten, zum ordnungsgemäßen Festmachen hätte KV „JS“ zusätzlich den Heckanker setzen müssen, ist durch die Beweisaufnahme nicht bestätigt worden. Nach der Beurteilung des Gutachters Landwehr war das Setzen eines Heckankers unter den gegebenen Umständen nicht schifffahrtsüblich und nicht erforderlich, weil es bei dem zur Unfallzeit herrschenden Niedrigwasser „nichts bringt“. Angesichts dessen kann ein Mitverschulden der Klägerseite an der Kollision mit TMS „V“ auch nicht mit der Erwägung begründet werden, das Setzen des Heckankers hätte KV „JS“ auch nach dem Reißen der Drähte auf der Stelle gehalten und das Verfallen zu Tal verhindert.

Unbewiesen ist schließlich die Behauptung der Beklagten, KV „JS“ sei zur Unfallzeit nicht ordnungsgemäß beleuchtet gewesen. Nach den Zeugenaussagen der Besatzungsmitglieder des KV „JS“, die das Rheinschifffahrtsgericht für glaubhaft gehalten hat und gegen deren Glaubhaftigkeit die Beklagten nichts vorgebracht haben, waren sowohl auf dem Motorschiff als auch auf dem Schubleichter weiße Ankerlichter gesetzt und auf der dem Fahrwasser zugewandten Seite des Schubleichters zusätzlich die Gangbordbeleuchtung eingeschaltet. Der vom Rheinschifffahrtsgericht angehörte Beklagte zu 2 hat angegeben, dass er den KV „JS“ nicht gesehen habe und daher auch nichts über den Beleuchtungszustand sagen könne. Es ist zudem unstreitig, dass auf KV „JS“ das AIS-System eingeschaltet war, so dass der Koppelverband für den Schiffsführer des SV „E“, der mit eingeschalteten AIS-System unterwegs war, auch auf dem elektronischen Instrument sichtbar war.

Mit dem von den Beklagten angetretenen Sachverständigenbeweis für die Behauptung, von SV „E“ sei keine schädliche Sogwirkung auf KV „JS“ ausgegangen, kann der Anscheinsbeweis für das Gegenteil nicht entkräftet werden. Um den Beweis des ersten Anscheins zu entkräften, muss der Beweisgegner Tatsachen vortragen und beweisen, die die Möglichkeit eines anderen Geschehensverlaufs ernsthaft in Betracht kommen lassen (BGH, Urteil vom 14. Dezember 1993 – VI ZR 271/92, VersR 1994,324). Daran fehlt es im vorliegenden Fall.

Die von den Klägerinnen bestrittene Behauptung, das Abreißen des KV „JS“ sei darauf zurückzuführen, dass beim Festmachen des Koppelverbands die über die Winden gespannten Drahtseile so fest angezogen worden seien, dass die Zugkräfte die Bruchfestigkeitswerte der Seile überschritten hätten, können die Beklagten nicht beweisen, weil nicht feststellbar ist, mit welcher Zugkraft die Seile gespannt wurden. Gegen die ernsthafte Möglichkeit eines solchen alternativen Geschehensablaufs spricht zudem die Tatsache, dass KV „JS“ vor der Vorbeifahrt des SV „E“ mehr als acht Stunden an den Dalben festgemacht war, ohne dass die Drahtseile rissen.

Auch mit der – auf ein in zweiter Instanz vorgelegtes weiteres Privatgutachten gestützten – Behauptung der Beklagten, die von der Besatzung des KV „JS“ zum Festmachen benutzten Pfahlkörper der Dalben erfüllten wegen ihres achteckigen Querschnitts nicht die Anforderungen an eine sichere Drahtseilführung, ist ein ernsthaft in Betracht kommender alternativer Geschehensablauf nicht dargetan. Dass alle um die Dalben gelegten Drahtseile, die nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht mehr als ein Jahr alt und unbeschädigt waren, infolge des achteckigen Querschnitts der Pfahlkörper so stark beschädigt worden sein könnten, dass sie nach 8,5 Stunden brachen, hält die Berufungskammer für ausgeschlossen.

Somit bewendet es bei dem Anscheinsbeweis dafür, dass für das Abreißen des KV „JS“ die Vorbeifahrt des SV „E“ ursächlich war.

Der Beklagte zu 2 hat als Schiffsführer und Rudergänger des SV „E“ durch die Art und Weise der Vorbeifahrt an dem stillliegenden KV „JS“ schuldhaft gegen § 6.20 Nr. 1 lit. c RheinSchPV verstoßen. Nach dieser Vorschrift müssen Fahrzeuge ihre Geschwindigkeit in der Nähe von Fahrzeugen, die auf üblichen Liegestellen stillliegen, so einrichten, dass Wellenschlag oder Sogwirkung, die Schäden an stillliegenden Fahrzeugen verursachen können, vermieden werden; sie müssen ihre Geschwindigkeit rechtzeitig vermindern, jedoch nicht unter das Maß, das zu ihrer sicheren Steuerung notwendig ist. Gegen dieses Gebot hat der Beklagte zu 2 verstoßen, indem er am geografisch rechten Rand der Fahrrinne an dem stillliegenden Koppelverband mit unverminderter Geschwindigkeit von 12,6 km/h vorbeigefahren ist. Dass diese Geschwindigkeit zur Aufrechterhaltung der Steuerfähigkeit des Schubverbands erforderlich gewesen wäre, haben die Beklagten nicht behauptet. Dass der Beklagte zu 2 den Stilllieger nicht gesehen und folglich subjektiv keine Veranlassung gehabt hat, seine Geschwindigkeit in dem nach § 6.20 Nr. 1 lit. c RheinSchPV erforderlichen Maß zu verringern, vermag ihn nicht zu entlasten. Denn wie bereits ausgeführt wurde, war der Koppelverband nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme beleuchtet, folglich optisch und unstreitig zusätzlich elektronisch sichtbar, so dass der Beklagte zu 2 ihn bei Aufwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte wahrnehmen müssen. Dies begründet den Vorwurf der Fahrlässigkeit.

Ein Mitverschulden an der Kollision mit TMS „V“ wegen verspäteter Reaktion auf das Abreißen des Koppelverbands ist der Klägerseite nicht anzulasten. Ausweislich der von der Wasserschutzpolizei ausgewerteten GPS-Daten ist die Kollision wenig mehr als drei Minuten nach dem Abreißen des KV „JS“ erfolgt. Dass es der Besatzung des Koppelverbands bis dahin nicht gelungen war, den zu Tal treibenden Verband mit Maschinenkraft aufzustrecken, kann ihr nicht als schuldhafte Sorgfaltspflichtverletzung angelastet werden.

Die von den Beklagten zu ersetzenden Schäden sind in dem vom Rheinschifffahrtsgericht zuerkannten Umfang unstreitig. Umstritten ist allein noch der vom Rheinschifffahrtsgericht abgewiesene Differenzbetrag von 243,96 € zwischen dem kontradiktorisch festgestellten Schaden der Interessenten des TMS „V“ und dem von der Klägerin zu 1 an diese gezahlten Pauschalbetrag von 40.000 €. Auch diesen Differenzbetrag kann die Klägerin zu 1 ersetzt verlangen. Nach ihrem unbestrittenen Vorbringen ist er zur pauschalen Abgeltung von Zinsen und Kosten gezahlt worden, welche die Interessenten des TMS „V“ zusätzlich zu den kontradiktorisch festgestellten Schadenspositionen beanspruchen konnten.

Aus den dargelegten Gründen wird daher für Recht erkannt:

Auf die Berufung der Klägerinnen wird das Urteil des Amtsgerichts – Rheinschifffahrtsgerichts – St. Goar vom 5. März 2020 – 4 C 9/17 BSchRh – teilweise geändert. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin zu 1 über den ihr zuerkannten Betrag von 93.135,88 € hinaus weitere 243,96 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 8. November 2017 zu zahlen, die Beklagte zu 1 zusätzlich dinglich haftend mit einem am 8. Dezember 2016 an MS „E“ entstandenen Schiffsgläubigerrecht.

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Amtsgerichts – Rheinschifffahrtsgerichts – St. Goar vom 5. März 2020 – 4 C 9/17 BSchRh – wird zurückgewiesen.

Die Beklagten haben als Gesamtschuldner die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.

Die Gerichtskanzlerin:                                                                              Der Vorsitzende: