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Urteil
vom 23. Februar 2021
(ergangen auf Berufung gegen ein Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Straßburg vom 6. September 2019 - Nr. 173 630 00069)
Straf- und Zivilsache
Die Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt in Straßburg hat nach Beschlussfassung im schriftlichen Verfahren mit Zustimmung der Parteien gestützt auf die Artikel 37 und 45bis der Revidierten Rheinschifffahrtsakte vom 17. Oktober 1868 in der Fassung vom 20. November 1963 folgendes Urteil gefällt:
Es wurde Bezug genommen auf die gesamte Prozessakte, insbesondere:
- den Richterspruch vor der Rechtsprechung des Rheinschifffahrtsgerichts Straßburg vom 30. Oktober 2018;
- das Sachurteil des Rheinschifffahrtsgerichts Straßburg vom 6. September 2019;
- die Berufungserklärung der Staatsanwaltschaft vom 12. September 2019 und ihre Anträge vom 22. November 2019;
- die Berufungserklärung der Nebenklägerin vom 4. Oktober 2019 und ihre Anträge vom 31. Oktober 2019;
- die Anträge in der Rechtsmittelbeantwortung des Beschuldigten und Berufungsbeklagten vom 6. Oktober 2019 und vom 15. November 2020;
- die Anmerkungen der Nebenklägerin und Berufungsklägerin vom 27. Februar 2020;
- die Anmerkungen der Staatsanwaltschaft vom 7. Februar 2020 betreffend die Zulässigkeit der Berufung;
- die Schlussfolgerungen der Nebenklägerin und Berufungsklägerin vom 29. April 2020 ; die Rechtsmittelbeantwortung der Nebenklägerin und Berufungsklägerin vom 25. November 2020;
- die ordnungsgemäß übermittelten und die in der Verhandlung vorgelegten Unterlagen.
Sachverhalt und erstinstanzliches Verfahren:
Streitgegenstand ist ein Rheinschifffahrtsunfall, bei dem mutmaßlich am Abend des 10. März 2017 bei der Durchfahrt des von Herrn "V" geführten Verbands aus CONTARGO I und X die Inspektionsschienen der Eisenbahnbrücke Chalampé abgerissen wurden.
Die Staatsanwaltschaft hat die Vorladung von Herrn "V" angeordnet und ihm darin zur Last gelegt, unter Missachtung der Regeln für die allgemeine Sorgfaltspflicht ein Schiff geführt und dabei die Inspektionsschienen an der Brücke Chalampé angefahren und mithin einen Verstoß der 5. Klasse nach § 1.04 der Rheinschifffahrtspolizeiverordnung begangen zu haben, der nach Artikel 32 der Mannheimer Akte vom 17. Oktober 1868 zu ahnden ist.
Das Rheinschifffahrtsgericht Straßburg hat per Richterspruch vor der Rechtsprechung vom 30. Oktober 2018 die am Verfahren als Nebenklägerin beteiligte Gesellschaft "EDF" angewiesen, die von ihr nicht vorgelegten Lichtbilder, die im Gutachterbericht insbesondere auf Seite 12 Anlage 5.1 bezeichnet sind, vorzulegen.
Angesichts der Feststellung, dass der diesbezüglichen Aufforderung nicht entsprochen wurde, hat das Rheinschifffahrtsgericht in seinem Sachurteil vom 6. September 2019 Herrn "V" in Bezug auf die Strafverfolgung freigesprochen und die Anträge der Nebenklägerin vollumfänglich abgewiesen.
Berufungsverfahren:
A- Die Staatsanwaltschaft als Hauptberufungsklägerin, deren Berufung am 12. September 2019 ordnungsgemäß eingegangen ist, beantragt in ihren Berufungsanträgen am 22. November 2019 die Aufhebung des angefochtenen Urteils.
B- Die Nebenklägerin und Berufungsklägerin "EDF" beantragt in ihren Berufungsanträgen, Herrn "V" für die verursachten Schäden vollumfänglich für haftbar zu erklären und ihn zur Zahlung von 4.494,02 Euro zuzüglich Zinsen und von 3.000 Euro aufgrund von Artikel 475-1 der französischen Strafprozessordnung (code de procédure pénale) zu verurteilen.
C- Nach Aufforderung durch den berichterstattenden Richter zur Stellungnahme zur Zulässigkeit der Berufung im Hinblick auf die Bestimmungen von Artikel 37 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte vom 17. Oktober 1868 hat die Staatsanwaltschaft die Nichtzulässigkeit eingeräumt.
D- Der Beschuldigte und Berufungsbeklagte beantragt zum einen in Bezug auf die öffentliche Anklage, auf verspätete Einreichung der Anträge der Staatsanwaltschaft zu erkennen und Herrn "V" von der Anklage und den Beschuldigungen betreffend die Missachtung der Sorgfaltspflicht freizusprechen, da die Höhe des Verbands 7,30 m betrug und die maximale Durchfahrthöhe unter der Brücke Chalampé laut den Unterlagen der ZKR bei 7,46 m lag, und zum anderen in Bezug auf die Nebenklage, die Forderungen und Ansprüche von EDF abzuweisen, da die Haftung von Herrn "V" hinsichtlich der Schäden an der Brücke Chalampé in keiner Weise begründet ist.
Begründung:
A- In Bezug auf die Zulässigkeit der Berufungsklagen der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägerin:
Artikel 37 Absatz 3 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte vom 17. Oktober 1868 ist Folgendes festgelegt: „Innerhalb 30 Tage nach erfolgter Anmeldung hat der Appellant sodann die schriftliche Rechtfertigung der Appellation dem Gericht zu übergeben », das das erstinstanzliche Urteil erlassen hat. Im darauffolgenden Absatz 4 heißt es dann: « Werden von dem Appellanten die in diesem Artikel vorgeschriebenen Formen nicht beobachtet, so wird die Appellation für nicht angebracht erachtet.». Im Sinne dieser Bestimmungen gilt, wie auch in Artikel 12 der Verfahrensordnung der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt vom 23. November 2006 festgelegt, Folgendes : « In Strafsachen hat der öffentliche Ankläger die Stellung einer Partei ».
Auf die von der Staatsanwaltschaft ordnungsgemäß am 12. September 2019 eingelegte Berufung folgten am 22. November 2019, mithin mehr als 30 Tage nach Zustellung der Berufungserklärung, die Berufungsanträge. Sie wurden mithin verspätet eingereicht.
In Anbetracht der vBeerspäteten Übermittlung ist die Berufung der Staatsanwaltschaft für nichtig zu erklären.
Die Nebenklägerin legte am 4. Oktober 2019 ordnungsgemäß Berufung ein, die Zustellung der Berufungsanträge erfolgte am 30. Oktober 2019, sodass die Berufung der Nebenklägerin ordnungsgemäß und zulässig ist.
B- In Bezug auf die öffentliche Anklage:
Das angefochtene Urteil vom 6. September 2019, in dem der Beschuldigte in Bezug auf die Strafverfolgung freigesprochen wird, hat insofern Rechtskraft erlangt, als die Berufung der Staatsanwaltschaft nicht zulässig ist.
C- In Bezug auf die Nebenklage:
Der Freispruch des Beschuldigten steht der Prüfung des Antrags auf Schadensersatz der Nebenklägerin nicht entgegen; der Entscheidung sind hier die Bestimmungen von Artikel 1240 folgende des französischen Bürgerlichen Gesetzbuches (code civil français) dahingehend zugrunde zu legen, dass die Prüfung der Frage, inwiefern die fraglichen Tatbestände ein zivilrechtliches Verschulden darstellen, aufgrund dessen der Nebenklägerin ein Anspruch auf Wiedergutmachung entsteht, ausschließlich im Rahmen und in den Grenzen der Tatbestände zu erfolgen hat, die Gegenstand des ursprünglichen Strafverfahrens sind.
Es ist unstreitig, dass die für die Brücke in Chalampé gewährleistete Durchfahrtshöhe 7 m beträgt und dass darüber hinaus Schiffe die Brücke auf eigenes Risiko und Gefahr passieren.
Da die Ladung des Schiffs höher als 7 m war, war Herr "V" verpflichtet, alle Vorsichtsmaßregeln zu treffen, welche die allgemeine Sorgfaltspflicht und die Übung der Schifffahrt gebieten, um die Beschädigung der Regelungsbauwerke und von Anlagen zu vermeiden, und es war mithin seine Aufgabe, sich zu vergewissern, dass die Höhe des Verbands und die Durchfahrtshöhe vereinbar waren.
Die Ermittlungen ergaben, dass der Verband Contargo am 10. März nach 20 Uhr unter der Brücke Chalampé durchgefahren ist. Zu diesem Zeitpunkt betrug die Durchfahrtshöhe unter der Brücke weniger als 7,30 m. Deshalb war angesichts der Höhe der Ladung von rund 7,30 m mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass das Fahrzeug die Brücke anfährt. Herr "V" hat eingeräumt, dass er zum Zeitpunkt der Durchfahrt seines Verbands unter der Brücke einen Stoß gespürt hat, und erwähnt, dass nach der Durchfahrt zwei Metallteile herunterhingen. Er machte allerdings geltend, dass die beiden Metallträger schon vor der Durchfahrt des Schiffs herunterhingen und dass das Schiff nur diese, unter der Brücke herunterhängenden Teile angefahren hat. Er führte aus, dass wenn sein Schiff die eigentliche Brückenkonstruktion angefahren hätte, mehrere Container beschädigt worden wären, und nicht nur einer, wie es dem Sachverhalt entspricht.
Aus den vorgelegten Lichtbildern geht hervor, dass sich an der Brücke an den nicht abgerissenen Trägern Spuren der blauen Farbe des Containers befanden. Hieraus ist zu schließen, dass der Container auch mit diesen Trägern in Berührung gekommen ist.
Dies sind ausreichende Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Verband bei einer so geringen Durchfahrtshöhe unter der Brücke durchgefahren ist, dass eine minimale Wasserbewegung ausreichte, um zu bewirken, dass einer der Container die Schienen für den Korb für die Brückeninspektion anfuhr und einen Teil der Träger abriss, aus denen die Schiene besteht. Unter diesen Voraussetzungen ist es als bewiesen zu erachten, dass zwischen der Schädigung der Brücke und der Durchfahrt des Verbands ein kausaler Zusammenhang besteht.
Zudem geht aus der Akte hervor, dass keiner der Schiffsführer, die vor der Durchfahrt des Verbands unter der Brücke durchgefahren sind, herunterhängende Metallteile festgestellt hat.
Dass von Herrn "V" geltend gemacht wird, dass "EDF" Bilder nicht vorgelegt hat, die sich den Zustand der Brücke vor der Durchfahrt seines Verbands zeigen, entbehrt infolgedessen des Weiteren insofern jeden Sinns, als die Existenz entsprechender Lichtbilder, die seine Behauptung untermauern könnten, in keiner Weise erwiesen ist.
In vorliegendem Fall hat er die Vorsichtsmaßregeln nicht in ausreichender Weise ergriffen und dieses Versäumnis ist als ausschließliche Ursache des Unfalls anzusehen, weshalb die Nebenklägerin zurecht Schadensersatz geltend macht.
Aufgrund dessen ist nach Aufhebung des angefochtenen Urteils der Berufungsbeklagte in vollem Umfang für die Schäden haftbar zu erklären, die der Gesellschaft "EDF" entstanden sind, und gemäß Kostenaufstellung vom 10. November 2017, in der die Kosten für den Einsatz der Firma "S" mit 3.200 Euro sowie für Maßnahmen von "EDF" mit 994,02 und 300 Euro beziffert sind, zur Zahlung von insgesamt 4.494,02 Euro zuzüglich Zinsen in gesetzlicher Höhe ab dem heutigen Datum zu verurteilen.
Des Weiteren erscheint es angemessen, der Nebenklägerin 2.000 Euro für nicht erstattungsfähige Kosten zuzusprechen.
AUS DIESEN GRÜNDEN stellt das Gericht Folgendes fest:
In Bezug auf die Zulässigkeit der Berufung der Staatsanwaltschaft und die öffentliche Anklage:
Die Berufung der Staatsanwaltschaft ist wegen verspäteter Zustellung der Berufungsanträge unzulässig.
Das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Straßburg vom 6. September 2019 hat insofern Rechtskraft erlangt, als auf Freispruch des Beschuldigten erkannt wurde.
In Bezug auf die Zulässigkeit der Berufung der Nebenklägerin "EDF" und die Nebenklage:
Die Berufungsklage der Nebenklägerin ist ordnungsgemäß und zulässig.
Die Berufungsklage der Nebenklägerin wird für begründet erklärt.
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und es wird erneut entschieden.
Herr "V" wird als für die Schäden vollumfänglich haftbar erklärt.
Er wird zur Zahlung von Schadenersatz in folgender Höhe an die Nebenklägerin und Berufungsklägerin verurteilt:
- 4.494,02 Euro zuzüglich Zinsen in gesetzlicher Höhe ab dem heutigen Datum;
- 2.000 Euro aufgrund von Artikel 475-1 der französischen Strafprozessordnung (code de prcédure pénale) für nicht erstattungsfähige Kosten.
Die Gerichtskanzlerin: Der Vorsitzende: