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Leitsätze:
1) Die Verhaltensregeln des §§ 6.32 RhSchPV sind abschließend, solange keine besonderen Umstände über diesen Pflichtenkatalog hinaus zum Beispiel eine Pflicht zum Aufdrehen und Verlassen der Fahrrinne begründen. Eine bevorstehende Begegnung zweier Schiffe auf dem Rhein ist generell auch bei unsichtigem Wetter und Radarfahrt keine Gefahrensituation, die nach allgemeiner Sorgfaltspflicht ein Verlassen der Fahrrinne gebieten könnte.
2) Eine Kursänderung des Bergfahrers ist zulässig, solange ein geeigneter Talweg freigehalten wird. Der Talfahrer trägt die Beweislast für die Behauptung, eine Kursweisung sei über Funk zu spät angesagt worden, um den gewiesenen Weg zu nehmen.
3) Will das Berufungsgericht, die Bekundungen eines Zeugen anders verstehen oder würdigen als die Vorinstanz, ist die Zeugenvernehmung zu wiederholen. Die Verfahrensordnung der Berufungskammer der Rheinzentralkommission erlaubt es, in einem solchen Fall die Sache an das Gericht erster Instanz zur neuen Entscheidung zurückzuverweisen.
Urteil
der Berufungskammer der Zentralkommission
für die Rheinschifffahrt vom 31. Oktober 2019,
Az.: 519 Z – 3/19
(Rheinschiffahrtsgericht St. Goar, Az.: 4 C 2/17 BSchRh)
Aus dem Tatbestand:
Die Parteien streiten über die die Verantwortlichkeit für eine Schiffskollision, die sich am 23. November 2016 kurz nach 7 Uhr bei Rheinkilometer 608,7 ereignete.
Beteiligte waren das TMS »Renate« (110 m lang, 9,50 m breit, Tragfähigkeit 2149 t, Maschinenleistung 1280 PS), das von Schiffsführer H geführt wurde und sich leer mit einem Tiefgang von 1,23 m auf der Talfahrt nach Rotterdam befand, und das MS »Dundee« (110 m lang, 10,45 m breit, Tragfähigkeit 2595 t, Maschinenleistung 1115 PS), das von Schiffsführer Y geführt wurde und beladen mit 1300 t Kunstdünger und einem Tiefgang von ca. 2,5 m auf der Fahrt von Antwerpen nach Kehl war.
Die Klägerin ist der Schiffsversicherer des TMS »Renate«. Sie hat dessen Ausrüster L wegen des streitgegenständlichen Unfalls Deckung gewährt und den Schaden reguliert. Mit der Klage nimmt sie die Beklagte zu 1 als Ausrüsterin und den Beklagten zu 2 – Schiffsführer Y – aus übergegangenem und abgetretenem Recht auf vollen Ersatz des entstandenen Schadens, den sie mit 184.377,57 € beziffert, in Anspruch.
Zum Unfallzeitpunkt herrschte Dunkelheit und Nebel mit Sichtweiten um 100 bis 150 m. Beide Fahrzeuge fuhren mit Radar ...
TMS »Renate« wollte in Weißenthurm anlegen und fuhr aus diesem Grund mit zunächst geringer Geschwindigkeit am linksrheinischen Fahrrinnenrand zu Tal. Weil alle Anlegestellen belegt waren ent- schloss Schiffsführer H sich, rechtsrheinisch im Neuwieder Stromarm vor Anker zu gehen. Er fuhr deshalb weiter am grünen Tonnenstrich talwärts, um unterhalb des Weißenthurmer Werthes über Steu- erbord aufzudrehen.
Beim Passieren der Straßenbrücke Weißenthurm-Neuwied (Rheinkilometer 607,7) bemerkte Schiffsführer H auf dem Tresco-Bildschirm in ca. 1.500 m Entfernung einen Bergfahrer (MS »Dundee«), den er in der Folgezeit über Funk ansprach und um eine Begegnung Steuerbord an Steuerbord bat, weil er unterhalb des Weißenthurmer Werthes aufdrehen wolle. Wie oft Schiffsführer H den Bergfahrer ansprach und wann und wie dieser reagierte, ist streitig ...
TMS »Renate« fuhr weiter am grünen Tonnenstrich zu Tal. MS »Dundee«, das bis dahin etwa in der Strommitte gefahren war, verlegte seinen Kurs nach Steuerbord, als die Fahrzeuge sich auf etwa 300 m Kopf zu Kopf genähert hatten. Gleichzeitig steuerte Schiffsführer H über den grünen Tonnenstrich hinaus nach Backbord um MS ‚Dundee« auszuweichen Bei Rheinkilometer 608,7 kollidierten die Schiffe dergestalt, dass MS »Dundee« in einem Winkel von ca. 60° mit dem Bug gegen die Steuerbordseite des TMS »Renate« stieß ...
Mit Urteil vom 25. Oktober 2018 hat das Rheinschifffahrtsgericht der Klage im Wesentlichen zu 2/3 stattgegeben ...
Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: ...
Der Bergfahrer habe entgegen § 6.32 Nr.2 RheinSchPV keine rechtzeitige Absprache über Funk getroffen, weil er auf mehrfaches Anrufen der Talfahrt nicht reagiert habe. Dies ergebe sich zur Überzeugung des Gerichts aus der Zeugenvernehmung im Verklarungsverfahren. Sowohl Schiffsführer H als auch die drei weiteren Besatzungsmitglieder des TMS »Renate« hätten übereinstimmend und glaubhaft bekundet, dass Schiffsfürrer Y erst auf die vierte Funkansprache Schiffsführer Hs reagiert und dann eine Begegnung Backbord an Backbord verlangt habe, obwohl es dafür bereits viel zu knapp gewesen sei ...
Den vierten Funkspruch habe Schiffsführer H abgesetzt als er die Kursänderung des Bergfahrers nach Steuerbord bemerkt habe. Die Entfernung der Schiffe Bug zu Bug habe hier maximal noch 300 m betragen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen sei diese Situation für eine gefahrlose Begegnung Steuerbord an Steuerbord schon kritisch gewesen, weil der Bergfahrer eine Steuerbordruderlage eingenommen gehabt habe und aus dieser Position einige Zeit benötigt hätte, um in eine Backbordposition zu fahren.
Jedenfalls belegten diese Überlegungen, dass es bei der vierten Ansprache durch Schiffsführer H, auf die Schiffsführer Y erstmals reagiert habe, für eine gefahrlose Kursänderung schon fast zu spät gewesen sei und die unterbliebene Reaktion des Schiffsführers Y auf die Funkansprache des Talfahrers diese Situation verursacht habe. Wenn Schiffsführer Y flussmittig geradeaus weitergefahren wäre, ohne Steuerbordruder zu legen, hätte die Begegnung gefahrlos Steuerbord an Steuerbord stattfinden können.
Somit sei gerade die Kursänderung des Bergfahrers für die Kollision ursächlich gewesen ...
Schließlich stelle dies alles einen Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot gemäß § 1.04 RheinSchPV dar. Wenn Schiffsführer Y früher auf die Funksprüche Schiffsführer Hs reagiert hatte, wäre die Gefahr problemlos vermeidbar gewesen, denn dann hätte sich der Talfahrer zwanglos und in einem angemessenen Zeitrahmen auf die gewünschte Begegnung einstellen können. Durch seine verspätete Reaktion auf die Funksprüche des Talfahrers und die erkennbar zu spät eingeleitete Ausweichbewegung nach Steuerbord habe Schiffsführer Y die Schiffskollision im Wesentlichen verursacht.
Andererseits sei zu berücksichtigen, dass der Talfahrer nach den nachvollziehbaren Überlegungen des Sachverständigen B ohne Not vor der Begegnung mit dem Bergfahrer hätte aufdrehen und in den Neuwieder Strom einfahren können. Gerade weil der Bergfahrer sich auf mehrfaches Anrufen nicht gemeldet habe, wäre dies im Hinblick auf § 1.04 RheinSchPV zur Vermeidung einer Gefahr geboten gewesen. Das Aufdrehen vor der Bergfahrt wäre weniger gefährlich gewesen, weil dadurch ein weiteres Manöver, nämlich eine Begegnung bei schlechter Sicht, vermieden worden wäre. Auf dem Radarbildschirm und den ECDIS-Aufzeichnungen habe der Talfahrer erkennen können, dass kein weiteres Schiff im Revier gewesen sei und der Abstand zur Bergfahrt etwa 700 m betragen habe, was nach den Ausführungen des Sachverständigen B für ein gefahrloses Wendemanöver ausgereicht hätte.
Der Fahrfehler des Talfahrers sei allerdings weniger gravierend als derjenige des Bergfahrers, der durch seine Fahrweise gegen mehrere gewichtige Vorschriften der Rheinschifffahrtspolizeiverordnung verstoßen habe. Die Verletzung des allgemeinen Rücksichtnahmegebots sei demgegenüber weit weniger gravierend, so dass eine Haftungsquotelung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten der Beklagten sachgerecht erscheine ...
Aus den Entscheidungsgründen:
Die Berufungen der Klägerin und der Beklagten sind zulässig. In der Sache führen sie zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Rheinschifffahrtsgericht zu neuer Entscheidung.
Die Gewichtung der Verursachungsbeiträge und des jeweiligen Verschuldens der beteiligten Schiffsführer hängt entscheidend davon ab, wie sich der Funkverkehr zur Absprache der Begegnung gestaltete. Die Angaben der Parteien zu dieser Frage stimmen nur darin überein, dass der Schiffsführer des zu Tal fahrenden TMS »Renate« um eine Begegnung Steuerbord an Steuerbord bat, der Schiffsführer des Bergfahrers MS »Dundee« dagegen eine Begegnung Backbord an Backbord verlangte. Völlig kontrovers sind dagegen die beiderseitigen Darstellungen des Funkverkehrs im Einzelnen.
Auch die Aussagen der hierzu im Verklarungsverfahren vernommenen Zeugen beider Lager widersprechen einander in den entscheidenden Punkten ...
Dem protokollierten Inhalt der Aussage des Zeugen V ist daher gerade nicht zu entnehmen, dass es lediglich mehrere unbeantwortet gebliebene Funkdurchsagen des Schiffsführers H an die Bergfahrt gegeben habe und dass der Bergfahrer erst auf die letzte Funkansprache reagiert habe, als es für eine Kursänderung zu spät gewesen sei.
Auch den Berufungsangriffen der Klägerin hält das angefochtene Urteil nicht stand. Die Auffassung des Rheinschifffahrtsgerichts, der Klägerin sei eine schuldhafte Pflichtverletzung der Schiffsführung des TMS »Renate« deswegen zuzurechnen, weil Schiffsführer H nicht schon vor der anstehenden Begegnung mit dem Bergfahrer aufgedreht hat, ist abzulehnen. Ein solches Manöver mag in Anbetracht des Abstands und der gefahrenen Geschwindigkeiten der beiden Fahrzeuge gefahrlos möglich gewesen sein, wie das Rheinschifffahrtsgericht im Einklang mit den Ausführungen des Sachverständigen B angenommen hat. Eine Pflicht der anstehenden Begegnung mit der Bergfahrt auf diese Weise aus dem Weg zu gehen, lässt sich indessen nicht begründen. Sie lässt sich ent- gegen der Auffassung des Rheinschifffahrtsgerichts auch nicht aus der nach § 1.04 RheinSchPV gebotenen allgemeinen Sorgfaltspflicht herleiten Die bevorstehende Begegnung zweier Schiffe auf dem Rhein ist generell keine Gefahrensituation, die nach allgemeiner Sorgfaltspflicht ein Verlassen der Fahrrinne gebieten könnte. Das ist auch bei schlechter Sicht nicht anders. Welche Vorsichtsmaßnahmen zur Verhütung von Unfällen bei schlechter Sicht geboten sind, ergibt sich für – wie hier – mit Radar fahrende Fahrzeuge aus den Verhaltensregeln des § 6.32 RheinSchPV, deren Einhaltung auch bei unsichtigem Wetter eine Kollisionsgefahr so weit wie möglich ausschließt. Geregelt sind dort auch die Verhaltenspflichten für den Fall, dass eine Begegnungsabsprache über Funk nicht zustande kommt. Hiernach muss ein Schiff in der Radarfahrt, wenn mit den entgegenkommenden Fahrzeugen kein Sprechfunkkontakt zustande kommt, einen »langen Ton« geben, der so oft wie notwendig zu wiederholen ist, sowie seine Geschwindigkeit vermindern und, falls nötig, anhalten (§ 6.32 Nr. 2 Buchst. d RheinSchPV). Besondere Umstände, die über diesen Pflichtenkatalog hinaus eine Pflicht zum Aufdrehen und Verlassen der Fahrrinne zur Vermeidung der mit einer Begegnung verbundenen Gefahren begründen könnten, sind weder festgestellt noch vorgetragen worden und auch nicht ersichtlich.
Nach alledem kann das angefochtene Urteil mit der gegebenen Begründung keinen Bestand haben. Zu einer eigenen abschließenden Entscheidung des Rechtsstreits sieht sich die Berufungskammer nicht in der Lage ...
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der die Berufungskammer folgt, muss das Berufungsgericht, wenn es die Bekundung eines Zeugen anders verstehen oder würdigen will als die Vorinstanz, die Zeugenvernehmung wiederholen (z. B. BGH, Ur- teil vom 19. 2. 1998 – 1 ZR 20/96: »Eine erneute Vernehmung ist nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht nur dann erforderlich, wenn das Berufungsgericht die Glaubwürdigkeit eines Zeugen anders beurteilen will, sondern auch dann, wenn es die protokollierte Aussage anders verstehen oder würdigen will als die Vorinstanz.«) ...
Dies wiederum führt dazu, dass die gesamte Beweisaufnahme wiederholt und die Beweise von Grund auf neu gewürdigt werden müssen. Hierzu kann die Berufungskammer die Sache an das Gericht erster Instanz zur neuen Entscheidung zurückverweisen (Art. 24 Abs. 3 der Verfahrensordnung). Von dieser Möglichkeit macht die Berufungskammer Gebrauch ...
Sollte die erneute Beweiswürdigung nicht ergeben, dass die Kursweisung für eine Begegnung Backbord an Backbord erst so spät erfolgte, dass eine solche Begegnung nicht mehr durchführbar war – die Beweislast dafür trägt der Talfahrer (Urteil der Berufungskammer vom 18. September 2013-479 Z) -‚ kann die Verlegung des Kurses des MS »Dundee« nach Steuerbord nicht als unzulässige Kursänderung qualifiziert werden. Sollte bei erneuter Beurteilung nicht auszuschließen sein, dass der Schiffsführung des TMS »Renate« nach dem Empfang der Kursweisung noch ausreichend Zeit und Raum für die Durchführung der gewiesenen Begegnung verblieb, hätte dem Talfahrer ein geeigneter Weg für die gewiesene Begegnung Backbord an Backbord offen gestanden, den der Steuerbordkurs des Bergfahrers nicht eingeschränkt, sondern im Gegenteil noch ver- größert hätte.
Bei der erneuten Beurteilung und Gewichtung der Verursachungsbeiträge und des jeweiligen Verschuldens der beteiligten Schiffsführer wird schließlich auch zu prüfen sein, wie das Verhalten des Talfahrers zu werten ist, der sich der Bergfahrt am linksrheinischen Fahrrinnenrand mit hoher Geschwindigkeit näherte, ohne – nach den eigenen Angaben der Klägerin – auf mehrfache Funkansprache das Einverständnis des Bergfahrers mit einer Begegnung Steuerbord an Steuerbord erreicht zu haben ...
IV.
Aus den dargelegten Gründen wird daher für Recht erkannt:
Auf die Berufungen der Klägerin und der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts – Rheinschifffahrtsgerichts – St. Goar vom 25. Oktober 2018 – 4 C 2/17 BSchRh – aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsverfahrens, an das Rheinschifffahrtsgericht zurückverwiesen ....
Ebenfalls abrufbar unter ZfB 2020 - Nr. 1 (Sammlung Seite 2641 f.); ZfB 2020, 2641 f.