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Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
Urteil
vom 24. Juni 1970
auf Berufung
gegen das Urteil des Rheinschiffahrtsgerichts
Duisburg-Ruhrort vom 23. Mai 1969 (5 C 111/68)
Sachverhalt:
Am 31.12.1967 gegen 14.30 Uhr wurde das bergwärts seitlich ungefähr 40 m gegen die linksrheinischen Krippen fahrende Motorschiff "H" bei Stromkilometer 851/849 von einem Schubverband der Beklagten zu 1) mit einer Länge von 189 m, bestehend aus dem Schubboot "PH", geführt vom Beklagten zu 2), und zwei voreinander gekoppelten Schubleichtern, aufgeholt. Ungefähr 100 m hinter dem Motorschiff setzte das Schubboot die Überholflagge und wollte MS "H" zuerst auf dessen Backbordseite gegen der Strommitte überholen. Wegen Schneetreibens war die Sicht schlecht, und das Motorschiff setzte die Geschwindigkeit herab. Als der Schubverband bereits bis auf ungefähr 40-50 m aufgefahren war, setzte er indessen zum Überholen auf der Steuerbordseite des Motorschiffes an, wobei er mit diesem auf dessen Steuerbordseite auf der Höhe des Ruderhauses zusammenstiess und das Schiff quer drückte. Die Klägerin hat als Versicherungsgesellschaft dem Eigentümer von MS "H" den Schaden, der lt. Klage DM. 7.729,- betrug, ersetzt und subrogierte in die Ansprüche des geschädigten Schiffseigentümers.
Das Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort hat mit Urteil vom 23. Mai 1969 die Schadenersatzklage gegen die Beklagten dem Grunde nach gutgeheissen, nachdem die Beklagten gemäss § 304 ZPO nur eine Vorabentscheidung über den Grund des Anspruchs beantragt hatten. Gegen die Beklagte zu 1) ist die Klage nur im Rahmen von BschG. § 4 und 114 gutgeheissen worden. Die Vorinstanz führt aus, dass ein Überholmanöver nach RhSchPVo §§ 37 und 42 nur dann erlaubt sei, wenn sich der Überholende vergewissert hat, dass sein Manöver ohne Gefahr durchgeführt werden kann, und wenn unter Berücksichtigung aller örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs unzweifelhaft hinreichender Raum für die Vorbeifahrt vorhanden ist. Diesen Nachweis habe der Überholende zu erbringen. Die Beklagten hätten diesen Nachweis nicht erbracht, weshalb das Überholmanöver als unzulässig zu gelten habe.
Mit rechtzeitiger und formgerechter Erklärung vom 20. Juni 1969 haben die Beklagten bei der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt Berufung eingereicht und am 10. Juli 1969 die Begründung folgen lassen. Sie beantragen Aufhebung des Urteils der Vorinstanz und Abweisung der Klage auf Kosten der Klägerin. Die Klägerin beantragt mit Schriftsatz vom 8. August 1969 Zurückweisung der Berufung auf Kosten der Beklagten. Die Parteien haben keine Beweiserhebungen durch die Berufungskammer beantragt. Diese hat jedoch die polizeilichen Ermittlungsakten, auf welche die Parteien in ihren Schriftsätzen Bezug genommen haben, beigezogen. Die Parteien haben eine öffentliche Verhandlung nach Art. 20 der Verfahrensordnung verlangt, die am 24. Juni 1970 stattgefunden hat.
Entscheidungsgründe:
1. Der Schiffszusammenstoss hat sich auf der deutschen Rheinstrecke ereignet. Es findet somit deutsches Recht Anwendung. Nach § 92 BschG. gelten für die Rechtsverhältnisse aus einem Schiffszusammenstoss auf Binnengewässern mittelbar die Bestimmungen der §§ 734-739 des HGB. Danach ist abzuklären, ob der Zusammenstoss durch Verschulden der Besatzung eines der beteiligten Schiffe (HGB § 735) oder gemeinsames Verschulden der Besatzungen beider beteiligten Schiffe (HGB § 736) herbeigeführt worden ist. Zufall oder Höhere Gewalt als Ursache der Kollision wird von keiner Partei behauptet.
2. Das Verschulden der beteiligten Schiffsbesatzungen beurteilt sich nach den Vorschriften der Rheinschiffahrtspolizeiverordnung (RhSchPVo) in der Fassung von 1955, welche am Unfalltage in Kraft war. Nach § 37 RhSchPVo. ist das Überholen nur gestattet, wenn das Fahrwasser unter Berücksichtigung aller örtlichen Umstände und des übrigen Verkehrs unzweifelhaft hinreichenden Raum für die Vorbeifahrt gewährt. § 42, Ziffer 1, bestimmt insbesondere, dass das Überholen nur gestattet ist nachdem der Überholende sich ver-gewissert hat, dass dieses Manöver ohne Gefahr durchgeführt werden kann. Der Voraus-fahrende soll das Überholen soweit wie möglich erleichtern und erforderlichenfalls ausweichen (§ 42, Ziff. 1. und § 43. Ziff. 3). Der Überholende ist in der Wahl der Seite, auf der er überholen will, frei. Der Überholende muss nicht nur rechtzeitig bei Tag die hellblaue Flagge nach § 43, Ziff. 1, (a) setzen, sondern erforderlichenfalls das Sichtzeichen durch Schallzeichen ergänzen, "je nachdem er links oder rechts überholen will" (§ 43, Ziff. 2). Wenn der Überholende die Überholseite bekannt gegeben hat, hat der Vorausfahrende, wenn an der gewünschten Seite nicht, jedoch an der anderen Seite überholt werden kann, ein Zeichen nach § 43, Ziff. 3 zu geben, woraufhin der Überholende nach § 43, Ziff. 4, wenn er noch überholen kann und will, die bestätigenden Zeichen nach dieser Vorschrift zu geben hat.
3. Die Beklagten werfen dem Schiffsführer von MS "H", der am 1.1.1968 gestorben ist und nicht mehr befragt werden kann, vor, er habe, als der Schubverband backbordseitig habe überholen wollen, den Kurs zur Strommitte hinübergewechselt, sodass auf der Steuerbordseite des Motorschiffes ausreichender Raum für die Vorbeifahrt enstanden sei, weshalb der Schubverband dann zum Überholen auf dieser Seite angesetzt habe. Hierauf sei das Motorschiff aber wieder von der Strommitte her nach linksrheinisch hinübergefahren. Die Beteiligten bestätigen übereinstimmend, dass die blaue Überholflagge gesetzt worden sei, nach Aussagen des Beklagten zu 2 jedoch erst, als sich der Schubverband schon 100 m hinter dem Motorschiff befand. Dass die weiteren Schallzeichen nach § 43 RhSchPVo gegeben worden seien ,wird von keiner Seite behauptet. Der Zeuge D. führte aus, dass die Sicht durch Nebel und Schneetreiben auf 200 m begrenzt gewesen sei, und dass das Motorschiff nach seinem Eindruck «langsam tat». Der Zeuge H., der ein zu Tal fahrendes Schiff führte, bezeichnete die Sicht als schlecht, was ihn zum Aufdrehen und zur Abgabe des Backbordwendesignals veranlasst habe. In seiner polizeilichen Vernehmung vom 17. 1. 1968, auf die das Gericht massgeblich abstellt, gab dieser Zeuge die Sicht noch mit 100 m an. Zeuge G. hat vor der Polizei ausgesagt, dass er gegenüber dem Kapitän von MS "H" noch erwähnt habe: "Warum kann der bloss da noch reinfahren", als er bemerkte, dass der Schubverband auf Steuerbordseite überholen wollte. Der Beklagte zu 2) führte in der polizeilichen Befragung aus, dass er sich ungefähr 40 m von den linksrheinischen Tonnen entfernt befunden habe, und dass die Sicht auf ca. 500 m möglich war. Ais er auf ca. 100 m aufgefahren sei, habe MS "H" den Kurs zur Strommitte verändert, jedoch, weil eine Talfahrt kam, wieder auf die linksrheinische Seite gewechselt, und dies obwohl sich der Schubverband nur noch ungefähr 40-50 m hinter dem Motorschiff befand. Der verstorbene Schiffsführer von "H" ist hierzu nicht befragt worden. Die Berufungskammer erachtet eine nochmalige Befragung der beteiligten Schiffsführer und der Zeugen nach mehr als 2 Jahren als nicht mehr tunlich und stellt vor allem auf die polizeilichen Untersuchungsakten und die Einvernahmen der Vorinstanz ab.
4. Es sprechen einige Umstände dafür, dass ein Verlegen des Kurses von MS "H" auf die linksrheinische Seite im Bereich des Möglichen war, da ein Talfahrer rechtsrheinisch herankam und aufdrehen wollte. Es ist aber nicht erwiesen, dass zuvor der Kurs von MS "H" zur Strommitte verlegt worden sei. Hierfür liegt nur die Behauptung des Kapitäns des Schubverbandes vor. Die Kursänderung Richtung Strommitte ist auch nicht zu vermuten, nachdem der Schubverband nach eigenen Aussagen seines Kapitäns zuerst auf Backbordseite des Motorschiffes überholen wollte. Zeuge Ha. des talfahrenden Schiffes erklärte wohl, dass sich MS "H" in einer gewissen Schräglage mit dem Kopf zum linken Rheinufer hin befunden habe, kann aber nicht sagen, ob diese Lage schon vor der Kollision vorhanden war. Er hat auch den Schubzug und davor das Motorschiff auf einmal gesehen, und bestätigte, dass, als er die Schiffe bemerkte, das Motorschiff bereits schräg vor dem Schubverband lag. Er könne auch nicht aussagen, woher beide Fahrzeuge gekommen seien und wer wen überholt habe. Er habe die Fahrzeuge zum ersten Male in dieser Lage gesehen. Aus diesen Aussagen des unbeteiligten Zeugen ist zu schliessen, dass er die Schräglage von MS "H" erst in der Endphase nach der Kollision bemerkt hat, somit zur Fahrweise vor der Kollision nichts Bestimmtes aussagen kann. Der Beklagte zu 2) erklärte, dass er die Überholflagge erst gesetzt habe, als er schon bis auf 100 m aufgelaufen war, woraus zu schliessen ist, dass er das Motorschiff wegen der Sichtverhältnisse erst sehr spät feststellte. Der Beklagte zu 2) führte zudem aus, er "habe angenommen", dass MS "H" den Kurs zur Strommitte verändern wolle. Kapitän D. an Bord des Schubverbandes hat diese Annahme jedoch nicht bestätigt. Als er auf den Steuerstuhl gekommen sei, habe er bereits MS "H" unmittelbar vor dem Kopf des Schubverbandes in halbschräger Lage gesehen. Der Kurswechsel zuerst gegen Strommitte und dann wieder auf die linksrheinische Seite hätte keine solche halbschräge Lage erfordert. Diese Lage muss vielmehr die Folge des Zusammenstosses sein. Der Beklagte zu 2) hat ebenfalls den Talfahrer festgestellt, der aufdrehen wollte. Dies kann ihn ebensogut veranlasst haben, davon abzusehen, MS "H" auf der Backbordseite gegen die Strommitte zu überholen, und auf dessen Steuerbordseite zu wechseln. In Anbetracht des Schneetreibens und der schlechten Sichtverhaltnisse sind diese Schlussfolgerungen nicht von der Hand zu weisen. Weder die Beteiligten noch die Zeugen geben an, wie weit MS "H" den Kurs gegen die Strommitte verlegt haben soll, sodass, selbst wenn man von einer solchen Annahme ausgehen würde, nicht gefolgert werden kann, dass auf der Steuerbordseite des Motorschiffes unzweifelhaft hinreichender Raum vorhanden war. Auf jeden Fall verbleiben grösste Zweifel, die der Überholende zu widerlegen hätte. Der Schubverband war auch unverantwortlich nahe aufgefahren (40-50 m), als er sich zur Aenderung der Überholungsseite entschloss, sodass unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Fahrgeschwindigkeiten kaum mehr ein derartiger Kurswechsel von MS "H" zuerst nach links und dann nach rechts durchzuführen gewesen wäre, wie der Beklagte zu 2) behauptete. Wenn MS "H" durch Kursänderungen eine Unsicherheit beim Überholenden hervorgerufen hätte, so wäre lezterer nach § 43, Ziff. 2 RhSchPVo verpflichtet gewesen, seine Absicht, auf welcher Seite er überholen will, durch ein ergänzendes Schallzeichen zu präzisieren. Da der Schubverband keine solchen ergänzenden Schallzeichen gegeben hat, erübrigt es sich zu prüfen, auch falls eine solche Unsicherheit bestand, ob MS "H" nach § 43, Ziff. 3 eine andere Weisung für das Überholen hätte geben müssen. Es kann ferner dahingestellt bleiben, ob für MS "H" die gewünschte Überholseite eindeutig erkennbar war, denn ein Ausweichen nach Backbord war zu vermeiden, da mit dem Talfahrer und dessen Angekündigten Aufdrehmanöver zu rechnen war. Man kann sich ernsthaft fragen, ob der Schubverband in Anbetracht der Verhältnisse das Überholsignal mit der blauen Flagge überhaupt rechtzeitig gegeben hat und ob er in Anbetracht der schlechten Sicht noch ergänzende Schallzeichen hätte geben müssen. Der Kapitän des überholenden Schubverbandes kann auch nicht einwenden, der Vorausfahrer hätte ihm das Sperrsignal nach § 42, Ziff. 2 der RhSchPVo geben müssen. Eine Pflicht hierzu besteht nur aus zwingenden Sicherheitsgründen, und sie befreit den Überholenden nicht, zu prüfen, ob unzweifelhaft hinreichender Raum für das Überholen vorhanden ist, und sich zu vergewissern, dass das Manöver ohne Gefahr durchgeführt werden kann. Er darf diese Pflichten nicht vernachlässigen und sich darauf verlassen, dass ihm der Vorausfahrende gegebenenfalls ein Sperrsignal gibt, insbesondere dann nicht wenn er, wie hier, die Situation überblicken konnte. Es besteht auch keine Pflicht zur Abgabe des Sperrsignals, wenn der Überholende nur aufläuft.
5. Die Bestimmungen der §§ 37. Ziff. L und 42, Ziff. 1. der RhSchPVO enthalten Verhaltens-und Vorsichtsregeln für den Überholenden und richten sich an ihn und schreiben seine Fahrweise vor. Diese Vorschriften gelten für die ganze Dauer eines Überholmanövers. Der Wortlaut der beiden Bestimmungen ("Das Überholen ist nur gestattet, wenn ... " sowie "nachdem der Überholende sich vergewissert hat.") besagt, dass der Überholende nachweisen muss, dass die Überholung statthaft war, indem er sich die erforderliche Gewissheit verschafft hat, dass er überholen durfte. Das heisst nicht, dass eine Beweislastumkehr vorgenommen oder der Überholende allgemein die Gefahr des Überholens zu tragen hat, sondern, dass er nur überholen darf, wenn für ihn die Voraussetzungen dafür gegeben sind. Wer entgegen den Vorschriften von §§ 37 und 42 ein Überholmanöver einleitet oder durchführt, handelt vorschriftswidrig und, wenn keine Schuldausschliessungsgründe vorliegen, auch schuldhaft. Das Beweisergebnis zeigt, dass auf der Steuerbordseite von MS "H" unter Berücksichtigung von dessen Eigenbreite bis zu den linksrheinischen Krippen oder Tonnen kein hinreichender Raum zum Überholen durch einen Schubverband vorhanden war. Die Beklagten selber sprechen nur von ca. 40 m bis zu den linksrheinischen Krippen. Auch bestand im vorliegenden Fall keine Gewissheit, dass unter den gegebenen Umständen und Sichtverhältnissen das Überholmanöver ohne Gefahr durchgeführt werden konnte. Eine Gefahr lässt sich auch nur vermeiden, wenn nicht zu nahe aufgefahren wird, bevor die Überholseite durch Kursänderung des überholenden Schiffes gewählt wird; denn dadurch wird dem Vorausfahrer nicht mehr Gelegenheit gegeben, seinen eigenen Kurs entsprechend einzurichten, und notfalls Signale zu geben oder auszuweichen. Für einen Schubverband, bei dem der Kopf weit vor dem Ruderhaus liegt, ist, besonders bei schlechter Sicht, eine vermehrte Vorsicht am Platze, bevor er sich zum Überholen befugt erachtet. Dass die Fahrweise des Schubverbandes für die Kollision kausal war, dedarf keiner weiteren Erörterung. Zu Recht hat deshalb die Vorinstanz festgestellt, dass die Beklagten nicht bewiesen haben, dass für das Überholmanöver der unzweifelhaft hinreichende Raum vorhanden war und sich der Beklagte zu 2) vergewissert hat, dass das Manöver ohne Gefahr durchgeführt werden kann. In Übereinstimmung mit der Vorinstanz ist deshalb davon auszugehen, dass ein unzulässiges Überholmanöver stattgefunden hat, das in Anbetracht der Verletzung der §§ 37 und 42 RschPVo die Haftung des Beklagten zu 2 nach § 823 Abs. 2 BGB und der Beklagten zu 1 nach § 92 BschG in Verbindung mit §§ 735 und 3 im Rahmen von §§ 4 und 114 HGB nach sich zieht.
Aus diesen Erwägungen wird für Recht erkannt:
Die von den Berufungsklägern eingelegte Berufung wird als unbegründet abgewiesen und das Urteil des Rheinschiffahrtsgerichts Duisburg-Ruhrort vom 23. Mai 1969 bestätigt. Die Kosten des Berufungsverfahrens, die gemäss Art. 39 der Revidierten Rheinschiffahrtsakte vom Gericht 1. Instanz festzusetzen sind, gehen zu Lasten der Beklagten und Berufungskläger.