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Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
vom 14. Januar 1976
(auf Berufung gegen das Urteil des Rheinschiffahrtsgerichtes St. Goar vom 30. Dezember 1974 - 4 C 15/73 BSchRh -)
Tatbestand:
Am 22.11.1969 kam es auf dem Rhein gegen 11.30 Uhr in Höhe des Bopparder Hamm's zu den folgenden Ereignissen, an denen das MTS "D" der Klägerin und das MS "G" der Beklagten, das von dem Beklagten zu 3) geführt wurde, beteiligt waren. Der Schub-Koppelverband "K" fuhr rechtsrheinisch zu Berg. Er hielt die dort liegenden Fahrwasserbegrenzungsbojen hart an. Hinter ihm fuhren u.a. die bereits genannten Fahrzeuge der Parteien, wobei "G" vor "D" lag. Beide Schiffe setzten zur Überholung des Schub-Koppelverbandes an; es ist umstritten, wer dieses Manöver als Erster begann. Es führte jedenfalls dazu, dass schliesslich die drei bisher genannten Fahrzeuge nebeneinander auf gleicher Höhe lagen, wobei die Seitenabstände zwischen ihnen äusserst gering waren. Für die in diesem Zeitpunkt herankommende Talfahrt blieb nicht mehr genügend Raum. Zu ihr gehörten die Motorschiffe "T" und "J". Beide waren gezwungen, ausserhalb der Fahrrinne über einen Grund zu fahren. Dabei erlitten sie Schäden durch Grundberührung, während die Schiffe der Parteien unbeschädigt blieben. Die Klägerin hat die Schäden der beiden Talfahrer ausgeglichen. Im vorliegenden Rechtsstreit verlangt sie von den Beklagten die Erstattung der Hälfte des Betrages, den sie an die Interessenten des MS "J" gezahlt hat. Diese hatte 1.721.462 bfrs. verlangt, sich aber mit der Klägerin auf Zahlung von 1.400.000 bfrs. verglichen. Folglich verlangt die Klägerin von den Beklagten bfrs. 700.000,-. An die Interessenten des MS "T" hat die Klägerin 1.293,28 hfl. gezahlt. Über die Verpflichtung der Beklagten, diese Summe teilweise zu erstatten, haben die Parteien in dem Verfahren 4 C 13/70 BSchRh des Rheinschiffahrtsgerichts St.Goar = 3 U 200/72 des Rheinschiffahrtsobergerichts Köln gestritten. Letzteres Gericht hat die Klage zu 1/2 dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und zur Begründung dieser Entscheidung folgendes ausgeführt: Durch die Beweisaufnahme habe nicht geklärt werden können, welches der Schiffe der Parteien nach dem anderen zur Überholung von "K" angesetzt habe und deshalb dafür verantwortlich sei, dass schliesslich 3 Einheiten nebeneinander gelegen und der Talfahrt keinen geeigneten Weg mehr gelassen hätten. Unabhängig hiervon hätten aber die Führer der Schiffe der Parteien ihrer allgemeinen nautischen Sorgfaltspflicht (§4 RSchPVO a.F.) dadurch zuwidergehandelt, dass sie ihr vermeintliches Vorrecht zu der Überholung des Schub-Koppelverbandes in einem Wettkampf durchzusetzen versucht hätten. Gerade dieses Beharren der Schiffsführer auf einem vermeintlichen Vorrecht und der rücksichtslose Versuch, es durchzusetzen, habe dazu geführt, dass schliesslich 3 Einheiten nebeneinander gelegen und der Talfahrt keinen hinreichenden Raum mehr gelassen hätten. Diese Situation hätten die Schiffsführer voraussehen können, denn mit ankommender Talfahrt habe gerechnet werden müssen. Für deren Schäden hätten die Parteien deshalb je zur Hälfte einzustehen. Da die Klägerin sie ausgeglichen habe, hätten die Beklagten die Hälfte der berechtigterweise gezahlten Summe zu erstatten. Diese Argumentation macht sich die Klägerin im vorliegenden Rechtsstreit zueigen. Demgegenüber behalten die Beklagten ihren bereits im Vorprozess eingenommenen Standpunkt bei, die durchgeführte Beweisaufnahme zeige bei richtiger Würdigung, dass ihr Schiff vor demjenigen der Klägerin begonnen habe, den Schub-Koppelverband "K" zu überholen. Nur "D" sei deshalb dafür verantwortlich, dass schliesslich 3 Bergfahrer nebeneinander gelegen hätten. Diese Situation, so führen die Beklagten weiter aus, sei für die Führung des MS "J" voraussehbar gewesen. Diese hätte ihr durch eine Verminderung der Geschwindigkeit ihres Schiffes begegnen können. Das MS "G" habe seine Geschwindigkeit nicht herabsetzen können, weil es sonst unter dem Einfluss der Strömung und der von "D" ausgehenden Sogwirkung verfallen und in Gefahr geraten wäre.
Es haben beantragt:
Die Klägerin,
die Beklagten gesamtschuldnerisch haftend zu verurteilen, an sie bfrs. 700.000 (siebenhunderttausend) oder denjenigen Betrag in Deutscher Mark, der bei Umrechnung nach dem amtlichen Kurse am Zahlungstage dieser Summe entspricht, nebst 4 % Zinsen seit dem 5.7.1970 zu bezahlen, weiter auszusprechen, dass die Beklagten wie folgt haften :
a) die Beklagten zu 1) und 2) dinglich mit dem MS "G" und persönlich im Rahmen der Bestimmungen des Binnenschiffahrtsgesetzes,
b) der Beklagte zu 3) dinglich mit dem MS "G" und unbeschränkt persönlich.
Die Beklagten,
die Klage abzuweisen.
Das Rheinschiffahrtsgericht St. Goar hat der Klage stattgegeben. Die Begründung folgt der bereits dargelegten Linie des Rheinschifffahrtsobergerichts Köln.
Die Beklagten haben Berufung eingelegt.
Die Parteien wiederholen ihren Vortrag aus dem ersten Rechtszuge und nehmen zu den Ausführungen des Rheinschiffahrtsgerichts Stellung.
Es beantragen:
Die Beklagten,
nach ihren im ersten Rechtszuge zuletzt gestellten Anträgen zu erkennen.
Die Klägerin,
die Berufung zurückzuweisen.
Die geschilderten Ereignisse haben zu dem Strafverfahren 4 Cs (P) 193/70 BSchRh des Rheinschiffahrtsgerichtes St.Goar geführt, das sich gegen den Kapitän GD. des Schiffes der Klägerin richtet. Dieser ist zu einer Geldstrafe von DM 100,- verurteilt worden, die bezahlt worden ist.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist formell nicht zu beanstanden. Die Berufungskammer ist der Ansicht, dass die Rheinschiffahrtsgerichte auch für die Entscheidungen von Rechtsstreitigkeiten zuständig sind, die den Ausgleich unter Gesamtschuldnern zum Gegenstand haben, wenn die Gesamtschuldnerschaft auf eine Beschädigung zurückzuführen ist, welche Schiffe auf dem Rhein "während der Fahrt" oder beim Anlanden andern zugefügt haben.
Bei der Würdigung der durchgeführten Beweisaufnahme kommt die Berufungskammer zu dem gleichen Ergebnis wie die bisher mit dieser Aufgabe befassten Gerichte. Grundlage ihrer Erkenntnis sind dabei in erster Linie die Protokolle über die Vernehmung von Zeugen durch Beamte der Wasserschutzpolizei im Rahmen des Strafverfahrens gegen den Kapitän von "D". Die Vernehmungen erfolgten im engen zeitlichen Zusammenhange mit den von den Zeugen zu schildernden Ereignissen. Deren Erinnerung daran war mithin noch frisch. Die vernehmenden Polizeibeamten waren in der Lage, die Zeugen zu veranlassen, die Ereignisse so zu schildern wie sie sich ihnen dargeboten hatten. Das zeigen die Protokolle, deren Klarheit keine Wünschen offen lässt. Wenn einzelne Zeugen bei ihrer erneuten Vernehmung im Verfahren 4 C 13/70 des Rheinschiffahrtsgerichts St. Goar = 3 U 200/72 des Rheinschiffahrtsobergerichts Köln leicht veränderte Aussagen gemacht haben, so findet dies seine zwangslose Erklärung darin, dass die zu schildernden Ereignisse jetzt mindestens länger als 1 Jahr zurücklagen, die Erinnerung der Zeugen daran also nicht mehr frisch und genau sein konnte. Es wäre verfehlt, aus diesen Unterschieden zu schliessen,die polizeilichen Vernehmungsprotokolle seien nicht zuverlässig.
Für die Feststellung der Einzelheiten des umstrittenen Überholvorgangs sind die Aussagen der Schiffsführer P. des Verbandes "K" und W. von MS "L" von besonderer Bedeutung. Beide Zeugen haben diesen Vorgang, der auch für ihre Schiffe von Bedeutung war, beobachtet. Beide können als sachkundige Beobachter gelten, die kein Interesse am Ausgang des Rechtsstreites haben, das ihre Aussagen hätte beeinflussen können. Leider sind diese im entscheidenden Punkte unvereinbar. Der Zeuge W. hat erklärt, das MS "G" habe zunächst damit begonnen, den von ihm geführten Verband zu überholen. Es sei schon auf gleicher Höhe mit ihm gewesen, als "D" auf dritter Breite aufgetaucht sei. Die Aussage legt den Schluss nahe, das MTS "D" habe erst nach dem MS "G" damit begonnen, den Schubverband zu überholen. Die Beobachtungsposition des Zeugen war ausgezeichnet. Er fuhr mit seinem Schiff hinter demjenigen der Beklagten her und wurde von demjenigen der Klägerin überholt. Beide Schiffe lagen also unmittelbar vor dem seinigen, so dass der Zeuge ihre Manöver gut beobachten konnte. Das gleiche gilt aber von dem Zeugen P., der erklärt hat, das MS "G" sei seinem Verbände aufgelaufen und gestreckt einige Zeit hinter ihm hergefahren. Diesem Schiff sei dasjenige der Klägerin aufgelaufen und habe damit begonnen, es zu überholen. Nach einiger Zeit habe er festgestellt, dass beide Fahrzeuge nebeneinander liegend versucht hätten, seinen Verband zu überholen. Diese Aussage spricht dafür, dass "D" damit begonnen hatte, "G" und anschliessend den Koppelverband zu überholen, und dass das Schiff der Beklagten in dieses Manöver hineingefahren ist. Die Berufungskammer sieht sich ausserstande, eine dieser Aussagen für zuverlässiger zu halten als die andere. Sichere Feststellungen sind deshalb auf ihrer Grundlage im entscheidenden Punkte, welches Schiff der Parteien als Erstes zu überholen begann, nicht möglich. Diese Lücke kann durch andere Zeugenaussagen nicht geschlossen werden. Die Führer der zu Tal fahrenden Schiffe konnten zu dem genannten Punkte nichts aussagen.
Sie haben alle die Situation so gesehen, dass der Verband "K" gleichzeitig von "G" und "D" überholt wurde. Wie es zu dieser Situation gekommen war, haben sie nicht erkannt. Die Aussagen der Schiffsführer der Parteien sind so unterschiedlich wie die der Zeugen P. und W. Die Frage, wer mit der Überholung des Schub-Koppelverbandes begann und wer spater als zweiter Überholer der Talfahrt keinen hinreichenden Raum mehr gelassen hat, bleibt also ohne Antwort. Unstreitig ist aber, dass die Führer der beiden überholenden Schiffe jeweils dem anderen gegenüber die Priorität des Überholvorganges geltend machten und entschlossen waren, sie durchzusetzen. Beide haben bei ihren Vernehmungen erklärt, als Erster mit der Überholung begonnen zu haben. Beide haben ihr Manöver selbst dann nicht abgebrochen, als sie mit "K" auf gleicher Höhe lagen und die herankommende Talfahrt sahen, der kein hinreichender Raum für die Vorbeifahrt zur Verfügung stand. Diese Erklärungen und Verhaltensweise zeugen von einem Beharren auf dem eigenen vermeintlichen Recht und von einer Missachtung des Rechts der Talfahrt auf hinreichenden Raum. Hierin liegt ein schwerer Verstoss gegen die allgemeine nautische Sorgfaltspflicht, wie sie § 4 der zur Unfallzeit geltenden Rheinschiffahrtspolizeiverordnung normierte. Diese Pflicht gebietet es auch, auf die Ausübung von Rechten zu verzichten, wenn deren Durchsetzung mit Sicherheit andere Einheiten in Gefahr bringen würde. So war es im vorliegenden Falle, wo das Verhalten der Überholer die Talfahrer dazu zwang, ausserhalb der amtlichen Fahrrinne über einen Grund zu fahren und zur Vermeidung einer Kollision eine fast sichere Grundberührung mit ihren möglichen Folgen in Kauf zu nehmen. Der Verzicht jedes Überholers auf sein angebliches Vorrecht war gefahrlos möglich und deshalb zumutbar. Das den Weg der Talfahrt einengende TMS "D" konnte sich hinter "G" zurückfallen lassen mit der Folge, dass die Talfahrt hinreichenden Raum hatte. Das MS "G" konnte sich hinter "K" fallen lassen, mit dem Ergebnis, dass "D" näher an den Schubverband hätte herangehen und dadurch der Talfahrt den Weg hätte freimachen können. Nichts spricht dafür, dass das Schiff der Beklagten, wie diese vortragen, bei einem solchen Manöver in Schwierigkeiten geraten wäre. Es hätte lediglich rechtzeitig durchgeführt werden müssen. Die Berufungskammer lässt offen, ob die beiden Überholer schliesslich in der Weise schräg zueinander lagen, dass ihre Köpfe sich berührten und ob gerade hierdurch der Weg der Talfahrt entscheidend eingeengt worden ist. Wenn dem so gewesen sein sollte, so wäre auch das die Folge des geschilderten Verstosses der Führer der Schiffe der Parteien gegen die allgemeine nautische Sorgfaltspflicht. Die Tatsache, dass "D" der Talfahrt am nächsten war und sein schräg liegendes Heck deren Weg einengte, würde nicht dazu zwingen, diesem Schiff die alleinige Verantwortung für die Schäden der Talfahrer aufzubürden. Diese selbst hält auch die Berufungskammer für schuldlos. Es war die Pflicht der Schiffsführer der Parteien, ihr den Weg freizumachen. Die Talfahrt durfte darauf vertrauen, dass dies geschehen werde. Es kann nicht festgestellt werden, dass zu einem Zeitpunkt, als dieses Vertrauen angesichts der Verhaltensweise der Überholer nicht mehr gerechtfertigt war, den Talfahrern noch eine andere Verhaltensweise möglich war, als ausserhalb der Fahrrinne über den Grund zu fahren.
Aus den dargelegten Gründen bleibt es bei der Feststellung des Rheinschifffahrtsgerichtes, die Parteien hätten die Schäden der Talfahrer im Verhältnis zueinander zu gleichen Teilen auszugleichen. Da die Klägerin diejenigen des MS "J", über deren Höhe kein Streit besteht, im vollen Umfange bezahlt hat, kann sie gemäss Artikel 4 Absatz 1 und 3 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung einzelner Regeln über den Zusammenstoss von Binnenschiffen vom 15. März 1960 Erstattung der Hälfte des bezahlten Betrages verlangen.
Es wird deshalb für Recht erkannt:
Die Berufung der Beklagten gegen das am 30. Dezember 1974 verkündete Urteil des Rheinschiffahrtsgerichtes St.Goar wird als unbegründet abgewiesen.
Das Urteil des Rheinschiffahrtsgerichtes wird bestätigt.
Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagten als Gesamtschuldner.
Die Festsetzung der Kosten unter Berücksichtigung des Artikels 39 der Revidierten Rheinschiffahrtsakte erfolgt durch das Rheinschiffahrtsgericht St. Goar.
Der Gerichtskanzler: Der Vorsitzende: (gez.) Doerflinger (gez.) S. Royer