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Leitsätze:
1) Den Parteien einer zivilrechtlichen Auseinandersetzung ist es gestattet, durch einen Vertreter gegebenenfalls unter Beratung eines Privatsachverständigen an einem Ortstermin zur Inaugenscheinnahme durch einen Gerichtsachverständigen teilzunehmen. Die Parteien haben Anspruch auf Kontrolle und Gehör im Ortstermin (selbst wenn er ohne Beteiligung des Richters stattfindet), nicht jedoch bezüglich der Einordnung und Bewertung der erhobenen Tatsachen bzw. der Methodik der Begutachtung. Eine Erörterung der Beweisfrage hat im Ortstermin deshalb nicht stattzufinden.
2) Ein Anspruch auf Terminsverlegung besteht nur ganz ausnahmsweise im Rahmen des § 227 ZPO. Da ein Schiff möglichst an einem Liegeplatz in der Nähe des Sitzes eines Sachverständigen begutachtet werden soll, wenn es dort in absehbarer Zeit zu erwarten ist, und weil in der Regel eine bloße Tatsachenfeststellung wenig Anlass zur Intervention gibt, kommt auch bei einer Terminskollision in aller Regel dem Ortstermin Priorität vor anderen – auch längerfristig bereits anberaumten – Terminen zu. Zwischen dem Zugang der Terminsbenachrichtigung und demTermin müssen grundsätzlich drei Tage liegen.
Verfügung des Schifffahrtsgerichtes Regensburg
vom 14. September 2021
Az.: 4 C 2152/19 BSch
Dem Antrag der Klagepartei, dem Sachverständigen aufzugeben, die Besichtigung des MS »Chateau Chalon« ohne Beteiligung der Parteien durchzuführen, kann nicht entsprochen werden.
Wenn – wie hier – die Beantwortung der Beweisfrage die sachverständige Erhebung weiterer Tatsachenfeststellungen am Schiff erforderlich macht, handelt es sich dabei um Beweisaufnahme i. S. v. § 357 ZPO. »Auch bei der Beweisaufnahme vor Ort durch den Sachverständigen gilt als elementarer Verfahrensgrundsatz die Parteiöffentlichkeit nach § 357 Abs. 1 ZPO (OLG München NJW 1984, 807; OLG Koblenz NJW-RR 2013, 796).« (OLG München, Beschluss vom 29. Oktober 2020 – 9 W 1171/20 Bau –, Rn. 6, juris).
Ohne dies bislang rechtlich näher geprüft und abgewogen zu haben, geht das Gericht aufgrund einer kursorischen Einschätzung davon aus, dass die Partei befugt ist, nicht nur ihren Prozessbevollmächtigten, sondern auch einen Privatsachverständigen zum Termin mitzubringen, soweit sie auf dessen Sachkunde angewiesen ist, um das Anwesenheitsrecht nicht seines Inhalts (Kontrolle und Gehör) zu berauben.
Dies bedeutet natürlich nicht, dass die Beweisfrage außerhalb des schriftlichen Gutachtens (bzw. eines Termins vor dem Prozessgericht) zu erörtern wäre. Beim Ortstermin des Sachverständigen geht es ausschließlich um die Erhebung von Tatsachen, die dann später im Rahmen des Gutachtens verwertet werden. Nur hinsichtlich der Ermittlung und Erhebung dieser Tatsachen (einschließlich der dabei verwandten Methodik) besteht ein Anspruch auf Kontrolle und Gehör beim Termin, nicht jedoch bezüglich der Einordnung und Bewertung der erhobenen Tatsachen bzw. der Methodik bezüglich der Beantwortung der Beweisfrage. Dies ist der Erörterung des fertigen Gutachtens vorbehalten. Hält eine Partei (ggfs. sachverständig beraten) die Erhebung weiterer Tatsachen für erforderlich, so mag sie den gerichtlich bestellten Sachverständigen darauf hinweisen, denn wenn dies nicht mit besonderem Aufwand (Kostensteigerung) verbunden ist, wird dieser die zusätzlichen Tatsachen vorsorglich erheben, auch wenn er sie bei vorläufiger Würdigung nicht für erheblich hält.
Dass § 357 Abs. 1 ZPO den Parteien gestattet, der Beweisaufnahme beizuwohnen, führt allerdings nicht zu einer Verpflichtung des Sachverständigen zu umfangreichen Koordinierungsbemühungen. Die Parteien haben sich grundsätzlich mit dem vom Sachverständigen mitgeteilten Termin zu arrangieren. Dies gilt erst recht, wenn – wie hier – ein Schiff auf Fahrt zu untersuchen ist, wobei nur begrenzte Zeitfenster für eine ortsnahe Begutachtung besteht. (Selbstverständlich ist der Sachverständige gehalten, bei der Wahl des Begutachtungsortes keine unnötigen Kosten zu verursachen und somit das Schiff möglichst an einem Liegeplatz in der Nähe seines Sitzes zu begutachten, wenn es dort in absehbarer Zeit zu erwarten ist.)
Ein Anspruch auf Terminsverlegung bestünde nur dann, wenn ein erheblicher Grund i. S. v. § 227 ZPO vorliegt. Terminskollisionen dürften im vorliegenden Fall nur in seltenen Ausnahmefällen einen erheblichen Grund darstellen, da der Beweistermin nicht beliebig verlegbar ist, sondern auf die Verfügbarkeit des Schiffes Rücksicht genommen werden muss (vgl. OLG München a. a. O. Rz. 11). Insbesondere kommt es nicht darauf an, welcher Termin früher bestimmt wurde; dem Beweistermin mit Sachverständigem und Schiff kommt gegenüber den meisten anderweitigen Gerichtsterminen (und erst recht anderweitigen Terminen) in der Regel Priorität zu. Bei der Beurteilung der Erheblichkeit wäre auch zu berücksichtigen, welche Bedeutung dieTeilnahme am Ortstermin des Sachverständigen hat. Dem ersten Anschein nach erscheint bei der bloßen Tatsachenfeststellung zur Vorbereitung des Gutachtens wenig Anlass zur Intervention, zumal die festgestellten Tatsachen im schriftlichen Gutachten zu dokumentieren sind, soweit sie zur Beantwortung der Beweisfrage herangezogen werden (OLG München a. a. O.).
Das Gericht weist vorsorglich darauf hin, dass entsprechend § 217 ZPO zwischen dem Zugang der Terminsbenachrichtigung seitens des Sachverständigen und dem Termin grundsätzlich drei Tage liegen müssen (da es sich nicht um einen in § 78 ZPO definierten »Anwaltsprozess« handelt).
Anmerkung der Redaktion:
Die wiedergegebene Entscheidung betrifft ein Gutachten eines gerichtlich bestellten Sachverständigen über technische Umstände an Bord eines Schiffes. Ortstermine zur Inaugenscheinnahme an Bord eines Schiffes kennt man insbesondere aus dem Verklarungsverfahren nach § 11 BinSchG. Dass eine solche Beweisaufnahme außerhalb eines Verklarungsverfahrens im Rahmen eines Streitprozesses stattfindet, ist sehr selten. Deshalb ist die Entscheidung interessant, weil sie die Parteirechte der Beteiligten genauer definiert und den Vorrang eines Ortstermines an Bord eines Schiffes gegenüber anderen Terminen zu Recht betont.
Ist ein Experte vom Gericht beauftragt, zu einer technischen Frage Stellung zu nehmen, dann kann er dazu die zu begutachtende Sache vor Ort besichtigen. In vielen Fällen wird der Richter daran nicht teilnehmen. Deshalb hat das Schiffahrtsgericht Regensburg zu Recht klargestellt, dass eine Erörterung oder gar Beweiswürdigung im Rahmen des Ortstermines zu unterbleiben hat. Allenfalls bei der Feststellung von Tatsachen haben die Beteiligten das Recht zu Hinweisen an den Gerichtssachverständigen, im Übrigen handelt der Gerichtssachverständige nach eigener Entscheidung und in eigener Verantwortung. Nach Auffassung des Schiffahrtsgerichts Regensburg ist ein Sachverständiger entsprechend § 217 ZPO gehalten, die Terminsbenachrichtigung so frühzeitig an die Parteien zu schicken, dass zwischen Benachichtigung und Termin drei Tage liegen. Anders als im Verklarungsverfahren ist bei Beweisaufnahmen in Streitverfahren, bei denen der zu begutachtende Vorgang in der Regel länger zurückliegt, diese Frist unproblematisch.
In Verklarungsverfahren dagegen gibt es derartig lange Fristen nicht. Nicht selten erteilen (insbesondere bei havarieursächlich technischem Versagen, Umsteuerversagen oder Ruderversagen) die Verklarungsrichter einem gerichtlich bestellten Sachverständigen sogar mündlich den Auftrag, sich sofort an Bord des zu begutachtenden Schiffes zu begeben, um Tatsachenfeststellungen zu treffen. Das Verklarungsverfahren wird vom Richter in eigener Verantwortung im Rahmen der Offizialmaxime durchgeführt. Der Richter ist frei, erforderliche Beweise notfalls auch ohne Anwesenheit der Beteiligten zu erheben. Allerdings wird den Beteiligten in der Regel Gelegenheit gegeben am Termin teilzunehmen. Collegialiter werden derartige Termine oft zwischen Gericht und den Rechtsanwälten telefonisch abgestimmt. Die Benachrichtigung sollte in der Regel spätestens 24 Stunden vor Termin stattfinden (dazu Thor v.Waldstein, Das Verklarungsverfahren im Binnen- schiffahrtsrecht, Seite 75).
Da die Anwesenheit der Beteiligten und ihrer Vertreter keine Voraussetzung für die Beweisaufnahme im Verklarungsverfahren ist, gelten die Fristen des § 217 ZPO nicht. Die Ladung wird in Verklarungsverfahren üblicherweise auch nicht förmlich zugestellt. Die Schriftsätze und Verfügungen werden in der Praxis der Schiffahrtsgerichte in Verklarungssachen häufig nur per Telefax unmittelbar übersandt, zunehmend hat sich auch die Übersendung per e-mail durchgesetzt. Formerfordernisse gibt es dafür nicht.
Es ist nach Auffassung des Unterzeichners sehr zu begrüßen, dass das Schifffahrtsgericht Regensburg die besonderen Erfordernisse der Beweisaufnahme im Zusammenhang mit Schifffahrtssachen deutlich herausgestellt hat. Binnenschiffe sind in der Regel nonstop im Einsatz, der Ausfall von nur einigen Stunden kann ganz erhebliche Kosten verursachen. Richtig ist es auch, dem Gerichtssachverständigen den Zugang zum Schiff zu erleichtern und eine Terminsabsprache in der Nähe des Sitzes des Sachverständigen Priorität einzuäumen.
Rechtsanwalt Dr. Martin Fischer, Frankfurt am Main
Ebenfalls abrufbar unter ZfB 2021 - Nr. 10 (Sammlung Seite 2718 f.); ZfB 2021, 2718 f.