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3 U 222/89 - Oberlandesgericht (Schiffahrtsobergericht)
Entscheidungsdatum: 26.10.1990
Aktenzeichen: 3 U 222/89
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Oberlandesgericht Köln
Abteilung: Schiffahrtsobergericht

Leitsätze:

1) Befindet sich bei Beginn der Reise kein Inhaber eines Radarschifferzeugnisses an Bord, liegt anfängliche Fahruntauglichkeit des Schiffs nicht vor.
2) Der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung richtet sich nach dem Zeitpunkt, zu dem die Pflichtwidrigkeit konkret und unmittelbar zu dem Schaden geführt hat.
3) Eine Freizeichnung von der Haftung für nautisches Verschulden greift jedenfalls bei leichtem Verschulden (einfacher Fahrlässigkeit). Insoweit kommt es auf die jeweiligen Gegebenheiten des Einzelfalls an.

Urteil des Oberlandesgerichts (Schiffahrtsobergerichts)Köln

vom 26.10.1990

3 U 222/89

(Schiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort)

Zum Tatbestand:


Die Klägerin ist Versicherer eines Schifftransportes Nitrophoska mit dem Koppelverband „M" des Beklagten zu 1). Versicherungsnehmerin war die Firma „B", die die Beklagte zu 2) mit der Durchführung des Transports beauftragt hatte.

Der Beklagte zu 1) übernahm die Ladung am 24. November 1986. Nachdem er in der Nacht vom 27. November 1986 auf den 28. November 1986 in Gat van de Vissen übernachtet hatte, setzte er am Morgen gegen 7.30 Uhr die Fahrt fort. Es herrschte Nebel, der nur die Radarfahrt zuließ. Der Beklagte zu 1) fuhr nach Radar. Er besaß zur damaligen Zeit jedoch kein Radarpatent. Gegen 8.15 Uhr am 28. November 1986 fuhr der Beklagte zu 1) gegen das Fundament des Brückenpfeilers der Mordijkbrücke, wobei Schaden an der Ladung entstand.

Im Frachtvertrag zwischen der Beklagten zu 2) und der Rechtsvorgängerin der Klägerin ist eine Freizeichnung für nautisches Verschulden vereinbart. Weiterhin ist die Zuständigkeit des Schiffahrtsgerichts Duisburg-Ruhrort mit der Maßgabe vereinbart, daß überhaupt ein deutsches Gericht zuständig sei.
Die Klägerin hat vorgetragen, das Schiff sei fahruntüchtig gewesen; eine Berufung auf die Freizeichnung komme daher nicht in Betracht. Wegen des Fehlens eines Radarpatentinhabers an Bord des Schiffes sei dieses nicht ordnungsgemäß bemannt gewesen. Es sei überdies grob fahrlässig gewesen, bei Sichtverhältnissen um 100 m die Reise überhaupt anzutreten.
Das Schiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort sei gemäß § 32 ZPO zuständig. Bereits bei der Abfahrt sei die unerlaubte Handlung in Gang gesetzt worden, die schließlich zu der Anfahrung geführt habe. Auf die Ansprüche gegen beide Beklagte sei deutsches Recht anwendbar.
Der Beklagte zu 1) hat die örtliche Zuständigkeit des Schiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort beanstandet und die Einrede der Verjährung nach niederländischem Recht erhoben.


Aus den Entscheidungsgründen:

„Das Schiffahrtsgericht hat die Klage gegen den Beklagten zu 1) zu Recht als unzulässig abgewiesen, weil ein deutscher Gerichtsstand nicht begründet ist. Soweit die Klägerin erneut darauf abhebt, der Beklagte zu 1) habe bereits mit dem Beginn der Reise in Deutschland einen Teilakt einer unerlaubten Handlung begonnen, ist ihr Vorbringen ungeeignet, den Gerichtsstand der unerlaubten Handlung in Deutschland zu begründen. Zwar mag in dem Antritt der Reise eine äquivalente und adäquate Ursache für die Anfahrung des Brückenpfeilers in Holland gesehen werden. Es fehlt aber insoweit für die Annahme einer unerlaubten Handlung an einem Pflichtwidrigkeitszusammenhang. Bei Verkehrsdelikten - und um ein solches im weiteren Sinne handelt es sich bei dem erhobenen Vorwurf gegen den Beklagten zu 1) - muß der Schaden gerade durch die pflichtwidrige Handlung verursacht worden sein. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Pflichtwidrigkeit ist der Eintritt der konkreten kritischen Lage, die unmittelbar zum Schaden führt (vgl. hierzu BGH NJW 88, 58, 85, 1350; Vers. R77, 524). Diese konkrete Schadenslage hat nicht beim Ablegen am 25. November 1986 bestanden, sondern erst nach der Fortsetzung der Reise in Holland am 28. November 1986, nachdem der Koppelverband auf der Zwischenstrecke mehrmals zwecks Übernachtung stillgelegen hatte, zuletzt „im Gat van de Vissen" am 28. November 1986 bis gegen 7.30 Uhr. Die Fortsetzung der Reise bei dichtem Nebel am Morgen des 28. November 1986 bzw. der Manöverfehler im Brückenbereich zum annähernd gleichen Zeitpunkt sind daher die Anknüpfungsgrundlagen für ein pflichtwidriges Handeln des Beklagten zu 1). Dieses fand in Holland durch einen Holländer auf einem holländischen Schiff statt und kann den Gerichtsstand in Deutschland daher nicht begründen.
Die Beklagte zu 2) hat auch weder aus dem Frachtvertrag noch auch nach den Vorschriften des allgemeinen Deliktsrechts für einen Fehler bei der Ausrüstung des Schiffes oder bei seiner Navigation einzustehen.

Das Fehlen eines Schiffers an Bord, der im Besitz des Radarpatents ist, kann im vorliegenden Fall nicht die Annahme anfänglicher Fahruntauglichkeit des Schiffes begründen. Zwar hatte der Beklagte zu 1) kein Radarpatent. Für den Transport von Gütern auf dem Rhein mit einem Schiff ist aber weder die Einrichtung des Radars noch dessen ständige Benutzung vorgeschrieben. Frachttransporte dürfen daher auch durch Nichtradarpatentinhaber vorgenommen werden. Die Beklagte zu 2) konnte zudem darauf vertrauen, daß der Beklagte zu 1) die Verkehrsvorschriften beachten und die Reise nur bei entsprechenden Sichtverhältnissen durchführen und jedenfalls bei unsichtigern Wetter keine Radarfahrt unternehmen würde. Es war auch nicht so, daß mit einer Radarfahrt durch den Beklagten zu 1) im Nebel notwendigerweise von Anfang an zu rechnen war. Zwar können Herbstnebel - insbesondere am Niederrhein - auftreten. Die Reiseroute des Schiffes war aber auch zeitlich nicht so kalkuliert, daß Tag und Nacht gefahren werden mußte. Immerhin hat der Beklagte zu 1), wie die Beklagten unbestritten vorgetragen haben, mehrmals nachts stillgelegen, bevor es zu dem Unfall gekommen ist. Es war daher gut möglich, daß die Stunden der erzwungenen Stillage durch Nebelbildung durch eine längere Fahrzeit abends bei sichtigem Wetter ausgeglichen werden konnten. Äußerstenfalls kam die Inanspruchnahme von Lotsenhilfe in Betracht.

Auch ein nautisches Verschulden des Beklagten zu 1) hat die Beklagte zu 2) nicht zu verantworten, weil sie sich insoweit wirksam freigezeichnet hat. Dabei kann dahinstehen, ob die Freizeichnung wegen der besonderen Risikolage und der Branchenüblichkeit, (vgl. hierzu BGH NJW 88, 1785) oder wegen des fast lückenlos bestehenden Kaskoversicherungsschutzes (vgl. BGH NJW 86, 1434) nicht nur für einfache Fahrlässigkeit sondern auch für grobes Verschulden und gegebenenfalls für Vorsatz möglich ist oder ob dies gegen § 9 Abs. 2 AGBG verstößt. Jedenfalls kann die Freizeichnungsklausel im Wege der Reduktion dahin ausgelegt werden, daß durch sie die Haftung für leichtes Verschulden (einfache Fahrlässigkeit) entfällt. Dieser Haftungsausschluß greift im vorliegenden Fall. Aus der Tatsache, daß ein Schiffer bei unsichtigem Wetter die Fahrt fortsetzt, ohne im Besitz eines Radarpatents zu sein, kann allgemein nach dem Beweis des ersten Anscheins gefolgert werden, daß ihn ein Verschulden trifft, wenn es zu einer Kollision kommt (vgl. BGH VersR 89, 608; 86, 546; 74, 158). Der Grad seines Verschuldens läßt sich indes nicht im Wege des Anscheinsbeweises oder nach allgemeinen Grundsätzen feststellen. Vielmehr kommt es insoweit auf die jeweiligen Gegebenheiten des Einzelfalles an. Dementsprechend hat die höchstrichterliche Rechtsprechung (vgl. BGH VersR 89, 608) die Annahme leichter Fahrlässigkeit auch bei einer Anfahrung nicht beanstandet, die ein Nichtradarpatentinhaber bei nebeligem Wetter mit einer Sicht von nur 200 m verursacht hat. An konkreten Umständen steht im vorliegenden Fall nur fest, daß der Beklagte zu 1) am Morgen des 28. November 1986 nach dem Ablegen gegen 7.30 Uhr bei Nebel und einer Sichtweite von 100 m mit Radar zu Tal gefahren ist und alsbald im Bereich der Mordijkbrücke in der Gemeinde Doordrecht infolge eines Echos einer Ausweichbewegung nach Steuerbord und sodann nach Backbord gefahren ist, weil er einem wirklichen oder vermeintlichen Stillieger, der die Talfahrt aufgenommen haben soll, ausweichen wollte. Auch wenn dieser angebliche Stillieger nicht hat ermittelt werden können und wenn viel dafür spricht, daß der Beklagte das angebliche Echo mißdeutet hat, so ist letzteres doch mit hinreichender Sicherheit nicht bewiesen. Wäre die Darstellung des Beklagten zu 1), die er unmittelbar nach dem Unfall der Polizei gegenüber abgegeben hat, als tatsächlich zutreffend zugrunde zu legen, so ergäbe sich eine Überreaktion und damit ein Navigationsfehler, der dem Anschein nach in der Unsicherheit des Radarfahrers ohne Patent wurzelt. Nichts anderes wäre anzunehmen, wenn der Beklagte zu 1) ein Echo fehlgedeutet und eine Schiffsbewegung angenommen hätte, die in Wirklichkeit nicht stattgefunden hat. Auch in diesem Fall würde seine Reaktion auf die Unsicherheit als nicht patentierter Radarfahrer zurückzuführen sein. Diese denkbaren Fehlreaktionen aber auch die Aufnahme der Radarfahrt bei unsichtigem Wetter überhaupt, die in einem nicht schwierigen Gelände bei großer Strombreite und einem großen zu durchfahrenden Brückenbogen stattfand, gestattet es nicht, den groben Pflichtverstoß festzustellen, zumal nicht auszuschließen ist, daß die Sichtweiten im Nebel ebenso unterschiedlich waren, wie seine Dichte und seine Ausbreitung auf dem Wasser. Unter diesen Umständen sieht sich der Senat gehindert, anzunehmen, der Beklagte zu 1) habe die verkehrserforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt oder er habe ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt und das nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten mußte. Nach den feststellbaren Gesamtumständen war die Entscheidung des Beklagten, die Reise fortzusetzen, zwar falsch aber nicht grob fehlerhaft. Im übrigen wird auf die Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils Bezug genommen..."


Ebenfalls abrufbar unter ZfB 1991 - Nr.20 (Sammlung Seite 1352 f.); ZfB 1991, 1352 f.