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Leitsätze:
1) Die Anfahrung einer feststehenden Anlage durch ein Binnenschiff begründet einen Anscheinsbeweis für nautisches Verschulden. Hat während der Anfahrung ein schwerer Orkan geherrscht, dann ist diese Tatsache allein, anders als eine »normale« stürmische Wetterlage, per se geeignet, den Anscheinsbeweis zu erschüttern (force majeure); die Beweislast für Verschulden liegt dann wieder beim Geschädigten.
2) Tritt ein Schiffsführer eine Reise an, obwohl er schon ex ante erkennen kann, dass eine erhebliche potentielle Gefahrenlage für die Fahrt besteht, dann ist dies nautisch vorwerfbar und damit schuldhaft. Dies ist bei einem großen langen Schiff, beladen mit leeren Containern teilweise in drei Lagen bei einer dringlichen Sturm- und Orkanwarnung (Orkan »Friederike«) der Fall. Der Schiffsführer darf sich dabei nicht alleine auf den nautischen Informationsfunk (NIF) verlassen, sondern darf auch allgemeine Wetterwarnungen über öffentlich zugängliche Medien nicht ignorieren. Bei entsprechender Wetterlage ist das Befahren des Rheines auch dann zu unterlassen, wenn der Rhein von den zuständigen Behörden nicht gesperrt wird.
3) Versäumt es der Schiffsführer, rechtzeitig gegen ein nicht notwendig wahrscheinliches, aber zumindest vorhersehbares Schadenereignis gebotene und zumutbare Maßnahmen zu ergreifen, um den Schaden abzuwenden, ist es dem Schädiger verwehrt, sich unter Verweis auf ein schuldloses Verhalten in der eigentlichen Gefahrensituation zu entlasten.
4) § 3 BinSchG begründet eine Zurechnungshaftung des Schiffseigners sui generis für fremdes schuldhaftes Tun, die im Rahmen vertraglicher Schuldverhältnisse und außerhalb von vertraglichen Schuldverhältnissen etwa bei unerlaubten Handlungen greift und neben die Haftung des Schiffseigners aus §§ 280, 278 und 831 BGB tritt, jedoch ohne die Exkulpationsmöglichkeit des § 831 I 2 BGB.
Urteil des Schiffahrtsobergericht Köln
vom 8. Juni 2021
Az.: 3 U 138/20, rechtskräftig
Aus den Urteilsgründen:
Im Januar 2018 wurde in der Medienberichterstattung bereits beginnend mit dem 15.01.2018 vor dem Orkan »Friederike« gewarnt. Dieser sollte nach den Wettervorhersagen am 18.01.2018 ab dem Vormittag über dem Rhein im Bereich der späteren Unfallstelle wüten. Der Beklagte zu 1) war am 18.01.2018 der verantwortliche Schiffsführer des GMS Öhringen, die Beklagte zu 2) die Schiffseignerin. Das GMS Öhringen wurde am 17.01 .2018 abends in Emmerich mit 45 leeren Containern beladen, dies teilweise in 3 Lagen. Es ankerte nach der Beladung über Nacht in Emmerich und trat am Morgen des 18.01.2018 gegen 6.00 Uhr seine Fahrt zu Berg an. Zuvor hatte sich der Beklagte zu 1) weder am Abend des 17.01.2018 noch am Morgen des 18.01.2018 über die Wettervorhersagen erkundigt. Allerdings hatte er den Nautischen Informationsdienst NIF permanent auf Empfang. Nach den – streitigen – Behauptungen der Beklagten wurde dort keine Unwetterwarnung gesendet. Zum Zeitpunkt des Fahrtbeginns war es bereits windig und stürmisch. Um 7.00 Uhr hörte der Beklagte zu 1) im Radio von der Unwetterwarnung für den von ihm befahrenen Rheinabschnitt. Er entschloss sich gleichwohl zur Weiterfahrt. Im weiteren Verlaufe der Fahrt nahm der Sturm vorhersagegemäß immer weiter zu. Die Container auf dem Schiff verrutschten, was zu einer Vertrimmung des Schiffes nach backbord führte. Der Beklagte zu 1) beschloss daraufhin und wegen der sich verschlechternden Wetterverhältnisse, den direkt vor ihm liegenden Schutzhafen Wesel anzusteuern, um dort Schutz zu suchen. Beim Einsteuern in den Hafen konnte er sturmbedingt nicht verhindern, dass das Schiff mit einer am Eingang des Hafens befindlichen feststehenden Verladeeinrichtung als Teil der Hafenanlage kollidierte und diese sowie einen an gleicher Stelle befindlichen im Eigentum der Klägerin stehenden unterstromseitigen Dalben beschädigte. Nachfolgend gelang es ihm, das Schiff ohne weitere Schäden und ohne Containerverluste in den Hafen zu steuern ...
Das Schifffahrtsgericht hat der Klage mit seinem am 13.10.2020 verkündeten und den Beklagten unter dem 21.10.2020 zugestellten Urteil bis auf einen Teil der Zinsforderung und die geltend gemachten Anwaltskosten für die anwaltliche Vertretung der Klägerin im Verklarungsverfahren stattgegeben ...
Die form- und fristgerecht eingelegte und auch im übrigen zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache keinen Erfolg ...
Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt, § 276 II BGB (vgl. hierzu auch v. Waldstein/Holland, a.a.O., § 3 BinSchG Rn. 27; BGHZ 39, 281). Welche Sorgfalt im Verkehr einzuhalten ist, orientiert sich an objektiven Merkmalen und ist grundsätzlich unabhängig von den persönlichen Eigenschaften, Gewohnheiten und Ansichten des Schädigers (vgl. v. Waldstein/Holland, a.a.O., § 3 BinSchG Rn. 28; BGHZ 39, 281). Auch im Binnenschifffahrtsrecht gilt kein individueller, sondern – wie auch sonst im Zivilrecht – ein auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichteter objektiv-abstrakter Sorgfaltsmaßstab (Palandt-Grüneberg, a.a.O., § 276 Rn. 15; v. Waldstein/Holland, a.a.O., § 92b BinSchG Rn. 7; BGHZ 39, 281). Geschuldet wird die erforderliche Sorgfalt, nicht bloß die übliche Sorgfalt (Palandt-Grüneberg, a.a.O., § 276 Rn. 16). Erforderlich ist dasjenige Maß an Umsicht und Sorgfalt, das nach dem Urteil besonnener und gewissenhafter Angehöriger der in Betracht kommenden Verkehrskreise zu beachten ist (Palandt-Grüneberg, a.a.O., § 276 Rn. 16 m.w.N.). Es steht in Abhängigkeit von der Höhe des drohenden Schadens einerseits und der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts andererseits. Zur näheren Konkretisierung der spezifischen Sorgfaltsanforderungen an den Schiffsführer sind ergänzend die Regelungen der §§ 7 1, 8 BinSchG und die zu ihnen entwickelten Maßstäbe heranzuziehen. Danach schuldet der Schiffsführer bei allen Verrichtungen an Bord die Sorgfalt eines ordentlichen Schiffers ...
Eine lebensfremde Überspannung der Anforderungen verbietet sich (v. Waldstein/Holland, a.a.O., § 92b BinSchG Rn. 4 m.w.N.) ...
Nach Maßgabe der vorstehenden Grundsätze ist aus Sicht des Senates zu differenzieren zwischen dem Verhalten des Beklagten zu 1) unmittelbar bei der Einfahrt in den Schutzhafen Wesel und der zeitlich vorhergehenden Entscheidung des Beklagten zu 1), die Fahrt am Morgen des Schadenstages ungeachtet des vor- hergesagten Orkans anzutreten:
In Hinblick auf das Verhalten des Beklagten zu 1) bei der Einfahrt in den Hafen vermag der Senat nicht zu erkennen, dass ihm ein Verschuldensvorwurf gemacht werden könnte ...
Zwar greift zu seinen Ungunsten der auch vom Schifffahrtsgericht wegen der Anfahrung eines ortsfesten Hindernisses zutreffend zur Anwendung gebrachte Beweis des ersten Anscheins für sein nautisches Verschulden ein (vgl. v. Waldstein/Holland, a.a.O., § 92 BinSchG Rn. 6; Bemm/v. Waldstein, Rheinschiffahrtspolizeiverordnung 3. Auflage, § 1.04 Rn. 25, 47 m.w.N.; vgl. auch OLG Karlsruhe, ZfB 1998, Sammlung Seite 1710 ff, VersR 1999, 257 (Anfahren eines Untertors); OLG Hamm VersR 2000, 476 (Anfahren eines Schleusentores); BGH VersR 1977, 637 (plastische Verformung eines Dalbens infolge Anfahrens); vgl. auch BGH VersR 1982, 491). Dieser Anschein dürfte indes angesichts des vom Senat prozessual zugrunde zu legenden unstreitigen Sachverhalts erschüttert sein. Zwar ist eine stürmische Wetterlage allein im Regelfall nicht zur Erschütterung geeignet (vgl. OLG Nürnberg MDR 2017, 88). Bei dem in Rede stehenden Orkantief am Schadenstag handelte es sich jedoch mitnichten um eine bloße »normale« stürmische Wetterlage, sondern vielmehr um einen Orkan mit außergewöhnlicher Wucht ...
Dem Amtsgericht ist in der Einschätzung zu folgen, dass dem Beklagten zu 1) jedenfalls insoweit ein Verschuldensvorwurf zu machen ist, als er am Morgen des 18.01.2018 die Fahrt ungeachtet der ausgesprochenen Orkanwarnungen und unter Außerachtlassung der Besonderheiten des von ihm geführten Schiffes überhaupt angetreten und den Vorbeizug des Orkans nicht im Hafen in Emmerich abgewartet hat. Dadurch hat er sich vorwerfbar in eine Situation begeben, in der er sein Schiff voraussehbar nicht mehr unter Kontrolle hatte und nicht mehr ohne Gefahr für sich und andere navigieren konnte. Insoweit ist anerkannt, dass ein nicht notwendig wahrscheinliches, aber zumindest vorhersehbares Schadensereignis ein Verschulden des Schädigers dann begründet, wenn er es versäumt hat, der vorhersehbaren Gefahr rechtzeitig zu begegnen und diejenigen Maßnahmen zu treffen, die nach den Umständen des Einzelfalles geboten und zumutbar waren, um den Schaden abzuwenden. Ist dies der Fall, ist es dem Schädiger verwehrt, sich unter Verweis auf ein schuldloses Verhalten in der eigentlichen Gefahrensituation zu entlasten (vgl. v. Waldstein/Holland, 12 .a.O., § 92a BinSchG Rn. 8; Vortisch/Bemm, Binnenschiffahrtsrecht 4. Auflage, § 92a BinSchG Rn. 5) ...
Es handelte sich vorliegend gerade nicht um den Fall eines kurzfristigen, nicht vorhergesagten unvorhersehbaren Wetterumschwungs. Zwischen den Parteien ist vielmehr unstreitig und auch dem Senat noch in Erinnerung, dass im Januar 2018 über sämtliche öffentlich zugänglichen Medien eindringliche Sturm- und Orkanwarnungen vor dem Orkan »Friederike« gesendet wurden, dies bereits ab dem 15.01.2018. Diese bezogen sich für den Vormittag/Mittag des 18.01.2018 gerade auf den von dem Beklagten zu 1) mit seinem Schiff befahrenen Rheinabschnitt. Sturmwarnungen dieser Art darf ein verantwortungsvoller pflichtbewusster Schiffsführer nicht einfach ignorieren, sondern muss sie vielmehr im Hinblick auf potentielle Gefahren für das von ihm geführte konkrete Schiff auf dem zu befahrenden konkreten Streckenabschnitt auswerten und evaluieren. Dies hat der Beklagte zu 1) nach eigenem Vortrag nicht getan, sondern sich vor Antritt der Fahrt trotz des herrschenden Windes überhaupt nicht über das vorhergesagte Wetter informiert und damit in erheblichem Maße gegen die allgemeine, auch in der Binnenschifffahrt übliche nautische Sorgfalt verstoßen Hierfür hätte zudem gerade mit Blick auf die Besonderheiten des GMS Öhringen und der beabsichtigten Fahrtstrecke für einen sorgfältigen Schiffsführer Veranlassung bestanden. Denn es handelte sich bei dem von dem Beklagten zu 1) geführten Schiff – wie auf den in den Akten befindlichen Lichtbildern ersichtlich – um ein großes langes Schiff, das mit leeren Containern, teilweise in 3 Lagen gestapelt, beladen war und eine besonders große Angriffsfläche für Wind bot ...
Schließlich würde es den Beklagten zu 1) auch nicht entlasten, wenn tatsächlich entsprechend seinen Behauptungen im NIF keine Orkanwarnung ausgesprochen worden sein sollte. Denn eine fehlende Orkanwarnung im NIF vermag ein schutzwürdiges Vertrauen des Beklagten zu 1) auf die gefahrlose Möglichkeit des Fahrtantritts mit dem von ihm geführten Schiff nicht zu begründen. Darüber hinaus ist gerichtsbekannt – und geht auch aus der von den Beklagten selbst zu den Akten gereichten E-Mail des Dezernats Verkehrsmanagement Binnen/Schifffahrtspolizei vom 21.09.2020 eindeutig hervor -‚ dass allgemeine Wetterinformationen nicht Inhalt der Bekanntmachungen im NIF sind ...
Von fehlenden Wetterwarnungen im NIF kann daher ebenso wenig wie von einer fehlenden Sperrung des Rheins für die Schifffahrt der Rückschluss gezogen wer- den, ein Fahrtantritt sei generell gefahrlos möglich ...
(a) § 3 BinSchG regelt die allgemeine Haftung des Schiffseigners für durch ein schuldhaftes Verhalten der Schiffsbesatzung verursachte Schäden. Nach dieser Vorschrift ist der Schiffseigner für den Schaden verantwortlich, den eine Person der Schiffsbesatzung (§ 3 II BinSchG) einem Dritten in Ausführung von Dienstverrichtungen schuldhaft zufügt, § 3 1 BinSchG. Es handelt sich dabei um eine zusätzliche Zurechnungshaftung sui generis, aus der sich eine besondere gesetzliche Verantwortlichkeit für fremdes schuldhaftes Tun ergibt (v. Waldstein/Holland, a.a.O., § 3 BinSchG Rn. 1; Vortisch/ Bemm, a.a.O., § 3 BinSchG Rn. 1 f.). Sie greift sowohl bei einer Schadenszufügung im Rahmen vertraglicher Schuldverhältnisse als auch außerhalb von vertraglichen Schuldverhältnissen etwa bei unerlaubten Handlungen der Schiffsbesatzung ein (vgl. Koller, Transportrecht 10. Auflage, § 3 BinSchG Rn. 1; Vortisch/Bemm, a.a.O., § 3 BinSchG Rn. 3, 17) und tritt neben die Haftung des Schiffseigners aus §§ 280, 278 BGB und § 831 BGB (v. Waldstein/Holland, a.a.O., § 3 BinSchG Rn. 1; Vortisch/Bemm, a.a.O., § 3 BinSchG Rn. 5, 7), jedoch ohne die Exkulpationsmöglichkeit des § 831 I 2 BGB (v. Waldstein/Holland, a.a.O., § 3 BinSchG Rn. 6; Vortisch/Bemm, a.a.O., § 3 BinSchG Rn. 7).
(b) Die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 3 BinSchG, 823 1 BGB liegen vor. Die Beklagte zu 2) ist die Eignerin des GMS Öhringen, der Beklagte zu 1) gehörte als Schiffsführer des Schiffes zu dem Kreis der in § 3 II BinSchG genannten Schiffsbesatzung. Er handelte beim Antritt der Fahrt unzweifelhaft in Ausführung seiner Dienstverrichtungen im Sinne des §31 BinSchG...
Mitgeteilt durch Rechtsanwalt Fink v.Waldstein, Mannheim
Ebenfalls abrufbar unter ZfB 2021 - Nr. 12 (Sammlung Seite 2726 f.); ZfB 2021, 2726 f.