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Leitsätze:
1) Ein vereinbarter Begegnungskurs ist mit gehörigem Abstand einzuhalten.
2) Eine „Notmaßnahme des allerletzten Augenblicks" zur Vermeidung einer Kollision ist ohne Rücksicht auf Ihre Zweckmäßigkeit nicht vorwerfbar. Schuldig ist, wer die Notsituation herbeigeführt hat.
Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
vom 16.12.1991
248 Z - 12/91
(Rheinschiffahrtsgericht St. Goar)
Zum Tatbestand:
Am 29.4. 1989 fuhr der Koppelverband der Klägerin, bestehend aus dem MS „Marjo" und dem seitlich gekoppelten Schubleichter „Henri" bei Emmerich beladen zu Tal. Das Fahrgastschiff „Astoria" des Beklagten zu 1, geführt vom Beklagten zu 2, fuhr zu Berg. Es herrschte Nebel, so daß beide mit Radar fuhren. Zwischen ihnen war auf Verlangen des Bergfahrers „Astoria" eine Begegnung Steuerbord an Steuerbord vereinbart worden. Kurz vorher oder nachher war „Astoria" aus der linksrheinischen Stromhälfte bis dicht in die Nähe des rechtsrheinischen Ufers gefahren, wo das Schiff an einem Steiger anlegen sollte. Der Koppelverband hielt einen Abstand von 80-100m zum rechtsrheinischen Ufer. Trotzdem stießen beide Schiffe zusammen, wobei erheblicher Schaden entstand. Jeder wirft dem anderen vor, den Kurs nach Steuerbord verlegt und dadurch die Kollision herbeigeführt zu haben.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Schadensersatzklage abgewiesen. Die Berufung hatte keinen Erfolg.
Aus den Entscheidungsgründen:
„1. Es ist unstreitig, daß die Vereinbarung der Führer der später kollidierten Schiffe, einander Steuerbord an Steuerbord zu begegnen, so rechtzeitig erfolgt ist, daß die Kurse entsprechend festgelegt werden konnten. Die Begegnung war also gefahrlos möglich. Ebenso ist unstreitig, daß Ereignisse vor der Kursabsprache die Kollision nicht beeinflußt haben. Sie bedürfen also keiner Erörterung.
2. Es steht weiter fest, daß das MFS „Astoria" nach der Kursabsprache zunächst so gefahren ist, wie es nach der getroffenen Vereinbarung notwendig war. Das hat sogar der Führer des Koppelverbandes „Marjo" bei seiner Vernehmung im Verklarungsverfahren bestätigt. Seine Aussage lautet: „Nach unserer ersten Kursabsprache hatte der Bergfahrer den Rhein überquert und hatte bereits geraden Kurs am rechtsrheinischen Ufer, so daß er mir nicht mehr im Wege war." . . .
3. Den Kurs des zu Tal fahrenden Koppelverbandes lag nach der Aussage seines Kapitäns vor der Wasserschutzpolizei 80-100 m vom rechtsrheinischen Ufer entfernt. Er wurde nach der Begegnungsvereinbarung „etwas nach Backbord" verlegt. Zu diesem Kurs ist kritisch zu bemerken, daß er der abgesprochenen Begegnung nicht so eindeutig entsprach, wie der von „Astoria". Der Raum zwischen dem rechtsrheinischen Ufer und dem Koppelverband war knapp, wenn man bedenkt, daß sich in ihm auch der Bergfahrer „Astoria" zu bewegen hatte. Es hätte bei der Kursabsprache nahegelegen, den Kurs des Koppelverbandes weiter zum linksrheinischen Ufer zu verlegen, wo genügend Platz vorhanden war. Der Führer des Koppelverbandes hat bei seiner Vernehmung durch die Wasserschutzpolizei ausgesagt, er sei „im normalen Talkurs" gefahren. Das mag sein. Angesichts der vereinbarten Begegnung war aber in erster Linie zu prüfen, ob der Kurs mit Rücksicht hierauf vertretbar war. Die Aussage läßt offen, ob diese Prüfung mit genügender Sorgfalt vorgenommen worden ist. Immerhin machte der geschilderte Kurs die vereinbarte Begegnung nicht unmöglich. Er war mit Rücksicht hierauf lediglich riskant.
4. Für den Ausgang des Rechtsstreites ist entscheidend, ob eine der beiden später zusammengestoßenen Einheiten ihren geschilderten Kurs so verändert hat, daß der Zusammenstoß die notwendige Folge war. Dazu ist zu sagen:
a) Nach den Aussagen der Besatzung von „Astoria" bereitete sie sich darauf vor, das Schiff an einen Steiger am rechtsrheinischen Ufer zu legen, als der Zusammenstoß erfolgte. Die Besatzung befand sich deshalb an Deck. Es besteht kein Anlaß, diesen übereinstimmenden Aussagen keinen Glauben zu schenken. Die Tatsache, daß „Astoria" am rechtsrheinischen Ufer anlegen wollte, ist unstreitig. Das gleiche gilt von seinem Kurs nahe an diesem Ufer. Unstreitig ist weiter, daß in der Nähe von „Astoria" andere Schiffe bereits an Steigern festlagen. Das alles spricht für die Richtigkeit der Aussagen, die Besatzung von „Astoria" sei kurz vor der Kollision bereit gewesen, am Steiger anzulegen. In dieser Situation hatte die Führung von „Astoria" keinen Anlaß, den Kurs des Schiffes nach Steuerbord zu verlegen, denn eine solche Maßnahme wäre mit dem Anlegemanöver nicht vereinbar gewesen.
b) Nun glaubt allerdings der Prozeßvertreter des Koppelverbandes, eine solche Kursveränderung durch eine Handskizze beweisen zu können, die der Führer von „Astoria", der Zeuge St. bei seiner Anhörung durch die Wasserschutzpolizei gezeichnet hat. Sie zeigt das Schiff im Zeitpunkt der Kollision auf der Höhe eines an einem Steiger liegenden Fahrgastschiffes. Weiter stromaufwärts ist ein weiterer Steiger eingezeichnet, an dem drei Schiffe liegen. Noch weiter stromaufwärts liegt ein weiterer, nicht belegter Steiger. Nach der Skizze wäre „Astoria" in das Dreierpäckchen hineingefahren, wenn das Schiff seinen eingezeichneten Kurs fortgesetzt hätte. Hieraus leitet der Prozeßvertreter des Koppelverbandes den Zwang ab, den Kurs von „Astoria" nach Steuerbord zu verlegen, um das Dreierpäckchen zu umfahren. Dabei wird verkannt, daß die geschilderte Skizze keinen Anspruch darauf erhebt, maßgerecht zu sein. Sie will nur in groben Strichen die Lage am rechtsrheinischen Ufer zu der Zeit der Kollision darstellen. Aus ihr können deshalb keine Schlüsse gezogen werden, die eine maßgerechte Zeichnung voraussetzen.
c) Die Prozeßvertretung des Koppelverbandes ist der Ansicht, einen zur Kollision führenden Kurswechsel von „Astoria" nach Steuerbord auch durch die Aussage des Zeugen Li. im Verklarungsverfahren beweisen zu können. Der Zeuge ist der Maschinist von „Astoria". Nach seiner Aussage kam er kurz vor dem Anlegemanöver des Schiffes aus dem Maschinenraum an Deck, um beim Anlegen zu helfen.
Er ging auf der Steuerbordseite über Gangbord zum Bug. Unmittelbar nachdem er das Vorschiff erreicht hatte, sah er den Koppelverband aus dem Nebel heraus schräg auf „Astoria" zufahren. Er befand sich 5-10m entfernt. „Astoria" lag gestreckt. Kurz vor dem Zusammenstoß hat dessen Führer versucht, das Heck des Schiffes wegzudrehen", um eine Kollision zu vermeiden. Durch dieses Ausweichmanöver, wie es der Zeuge wiederholt genannt hat, sei „Astoria" hinter das vor ihm liegende Paket aus drei Schiffen gedrückt worden. Die Maschine sei mit voller Kraft rückwärts gelaufen, um eine Kollision zu vermeiden. Bei einer Bewertung dieser Aussage ergibt sich, daß der Zeuge eine Notmaßnahme des letzten Augenblicks geschildert hat, deren Ziel die Vermeidung einer unmittelbar bevorstehenden Kollision war. Ist sie so abgelaufen, wie der Zeuge sie geschildert hat, so mußte dabei der Bug von „Astoria" nach Steuerbord ausscheren. Das ist aber keine Kursveränderung, sondern eine Folge der geschilderten Notmaßnahme. Wenn der Zeuge Li. die von ihm geschilderten Maßnahmen der Führung von „Astoria" als Ausweichmanöver bezeichnet hat, so ist dies möglicherweise nicht ganz zutreffend. Bei einer Wertung seiner Aussage darf man aber nicht bei dem genannten Wort stehenbleiben, sondern muß ihren Inhalt prüfen. Das Ergebnis ist dann nicht die Schilderung eines Kurswechsels, sondern eine Notmaß- nahme des allerletzten Augenblicks zur Vermeidung einer Kollision. Eine solche Maßnahme ist ohne Rücksicht auf ihre Zweckmäßigkeit nicht vorwerfbar. Sie erfolgt unter starkem Zeitdruck, der vom Zwang zum sofortigen Handeln ausgeht und Abwägungen unmöglich macht. Schuldig ist derjenige, der diese Notsituation herbeigeführt hat.
d) Es kann als durch die Aussagen von drei Beamten der Wasserschutzpolizei im Verklarungsverfahren und durch ihren Bericht vom 29. 4. 1989 bewiesen angesehen werden, daß der Führer des Koppelverbandes denjenigen von „Astoria" vor der Havarie über Funk etwa wie folgt angesprochen hat: „Wenn Du zum Steiger willst, dann fahr doch dahin." Hieraus kann aber nicht zwingend gefolgert werden, „Astoria" habe seinen zunächst eine Kollision ausschließenden Kurs nach Steuerbord hin verändert und sei so auf Havariekurs gekommen. Von einem solchen ist in der Durchsage nicht die Rede. Auch die Aussage des Zeugen L. vor der Wasserschutzpolizei, auf die er sich bei seiner Vernehmung im Verklarungsverfahren bezogen hat, zeigt einen solchen nicht. Nach ihr hat „Astoria" den Kurs zur Strommitte hin verlegt, was den Zeugen veranlaßte, mit seinem Koppelverbande weiter nach Backbord zu gehen. Dann erfolgte der geschilderte Zuruf über Funk. Anschließend soll dann „Astoria" eine Kurskorrektur versucht haben, die aber die Kollision nicht mehr habe vermeiden können. Die letzte Erklärung überrascht angesichts der sonstigen Aussage. Der Koppelverband konnte dem nach Steuerbord fahrenden MFS „Astoria" nach Backbord ausweichen. Wie, so ist zu fragen, konnte es dann zur Kollision kommen, obschon „Astoria" auf den geschilderten Anruf hin seinen Kurs nach Backbord korrigierte? Die Aussage des Zeugen beantwortet diese Frage nicht. Die drei vernommenen Beamten der Wasserschutzpolizei haben nur den Funkverkehr vor der Havarie mitgehört, die Ereignisse aber nicht beobachtet. Deren Ablauf kann aus dem Funkverkehr nicht erschlossen werden. Es ist deshalb eine unverbindliche Meinungsäußerung, wenn die Beamten zu dem Ergebnis kamen, nach dem Funkverkehr könne sich die Havarie eher auf die Weise ereignet haben, die der Zeuge L. geschildert habe. Grundlage gerichtlicher Feststellungen kann eine solche Meinungsäußerung nicht sein.
5. Die Führung des Koppelverbandes „Marjo" bestreitet, daß der Schiffsführer von „Astoria", der Zeuge St., der kein Radarschifferpatent hat, mit der Verwendung von Radar hinreichend vertraut war. Wäre das so, so hätte „Astoria" bei dem zur Kollisionszeit herrschenden Nebel gemäß § 6.32 Nr. 2 RhSchPVO nicht fahren dürfen. Die Schuld seiner Führung an der Havarie stände dann fest. Es wird versucht, aus dem Verhalten des Zeugen St. vor der Havarie zu folgern, er sei mit der Verwendung des Radars nicht hinreichend vertraut gewesen. Dieser Versuch ist aber gescheitert. Wertet man das feststehende Verhalten des Zeugen, so spricht es für seine Vertrautheit mit der Verwendung von Radar. Es hat den Koppelverband auf eine Entfernung erkannt, die hinreichend Zeit für eine Kursabsprache und ihr entsprechende Kurse ließ. Den Kurs des eigenen Schiffes hat er rechtzeitig der Absprache gemäß verlegt. Auch die durchgeführte Beweisaufnahme hat nichts ergeben, was gegen die Eignung des Zeugen zum Umgang mit Radar spricht. Dieser hat insbesondere nicht ausgesagt, den Koppelverband erst im Radarbild gesehen zu haben, als dieser noch 500-600m entfernt gewesen sei, sondern bei dieser Entfernung die Kursabsprache getroffen zu haben. Er hat weiter richtig gesehen, daß außer dem Koppelverband keine Talfahrt im Revier war. Insgesamt, so ist abschließend festzustellen, hat der Führer von „Astoria" das Radargerät in einer Weise benutzt, das für seine Vertrautheit mit ihm spricht. Da außer ihm ein Inhaber eines Radarschifferpatentes im Ruderhause von „Astoria" anwesend war, durfte das Schiff trotz des Nebels in Fahrt bleiben.
6. Zusammenfassend kommt die Berufungskammer zu dem folgenden Ergebnis. „Astoria" war im Zeitpunkt der Kollision dicht am rechtsrheinischen Ufer in der Nähe eines Steigers, an den das Schiff gelegt werden sollte. Wenn das Schiff in dieser Position angefahren wurde, so gibt es dafür die Erklärung, daß der Koppelverband seinen ohnehin schon für eine Begegnung Steuerbord an Steuerbord knappen Kurs 80-100 m vom rechtsrheinischen Ufer entfernt noch näher an dieses Ufer verlegt hat. Warum dies geschehen ist, bedarf keiner Klärung, denn die festgestellte Tatsache genügt für die Entscheidung des Rechtsstreites. Die Schuld an der Havarie trägt die Führung des Koppelverbandes „Marjo", weil sie einen Kurs gefahren ist, welcher nicht der vereinbarten Begegnung Steuerbord an Steuerbord entsprach. Hierin liegt ein Verstoß gegen § 6.03 Nr. 3, § 1.04 RhSchPVO …“
Ebenfalls abrufbar unter ZfB 1992- Nr.20 (Sammlung Seite 1391f.); ZfB 1992, 1391 f.