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Leitsatz:
Die allgemeine Sorgfaltspflicht gebietet dem Talfahrer, nach dem Überholen seinen dafür nach Backbord verlegten Kurs wieder nach Steuerbord zu richten. Auf diese Fahrweise können entgegenkommende Bergfahrer grundsätzlich vertrauen.
Urteil der Berufungskammer der Zentralkommisslon für die Rheinschiffahrt
vom 15.1.1990
231 Z - 12/89
(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort)
Zum Tatbestand:
Das bei der Klägerin versicherte TMS „M" ist am 22. 2. 1986 bei nebligem Wetter gegen 7.30 Uhr auf dem Rhein in Ortslage Walsum leer zu Tal fahrend mit dem zu Berg fahrenden beladenen Schubverband (Schubboot „H") der Beklagten bei der Begegnung zusammengestoßen. Das TMS hatte zuvor mit hoher Geschwindigkeit MS „J" überholt und danach seine Kurslinie beibehalten. Die an der Havarie beteiligten Schiffe fuhren mit Radar; sie wurden erheblich beschädigt. Schiffsführer „V" des TMS „M" will angesichts des drohenden Zusammenstoßes den Schubverband aufgefordert haben, ihm nach Steuerbord auszuweichen. Dieser hat sich zur Verlegung seines Kurses schon mit Rücksicht auf die Fahrwassertiefe und die Abladung der Schubleichter nicht in der Lage gesehen. Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Schadensersatzklage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg.
Aus den Entscheidungsgründen:
„1. Die Klägerin räumt ein, daß der Führung des TMS „M" die überwiegende Schuld an der im vorliegenden Verfahren zu beurteilenden Havarie anzulasten ist. In der Tat ist an der Schuld des Schiffsführers „V" nicht zu zweifeln. Schon die von ihm unmittelbar vor der Havarie durchgeführte Überholung des MS „J" muß angesichts der herrschenden Verhältnisse als risikoreiches Manöver bezeichnet werden . . ."
Die Havarieursache ist darin zu sehen, daß das TMS „M", nachdem es MS „J" überholt hatte, seinen Kurs nicht zum rechtsrheinischen Ufer hin verlegt hat. Diese Möglichkeit bestand, wie die Aussagen von Schiffsführern zeigen, deren Schiffe an dem Unfall nicht beteiligt waren, die die Ereignisse aber genau beobachtet haben. Der nach Ansicht der Berufungskammer wichtigste dieser Zeugen ist der Schiffsführer des MS „J", der den entscheidenden Vorgang aus großer Nähe beobachtet hat. Der hier interessierende Teil seiner Aussage vor dem Rheinschiffahrtsgericht hat den folgenden Wortlaut:
„Das TMS „M" sprach mich an und fragte, ob es Backbord überholen könne. Ich stimmte zu und er überholte dann in einem seitlichen Abstande von bestimmt 30 m und einer Geschwindigkeit, die etwa doppelt so schnell wie die meinige war. Das TMS hielt seinen Kurs bei, ging also nicht wieder nach Steuerbord rüber."
Der letzte Satz kann nur das Verhalten des TMS „M" nach durchgeführter Überholung betreffen, denn nur jetzt war bei einer Überholung an Backbord eine Verlegung des Kurses des überholenden Schiffes nach Steuerbord möglich. Dem Zeugen ist aufgefallen, daß sie nicht erfolgte, folglich hielt er sie möglich und angesichts der Lage im Revier für geboten. Nur auf dieser Grundlage ist seine Aussage verständlich. Die aus ihr sprechende Ansicht des Zeugen über die gebotene Verlegung des Kurses des TMS „M" nach Steuerbord nach durchgeführter Überholung hat nach Ansicht der Berufungskammer großes Gewicht. Der Zeuge hat die Ereignisse aus der Nähe beobachtet. Er hatte zur genauen Beobachtung allen Anlaß, denn sein Schiff konnte in den Vorgang so verwickelt werden, daß Schaden drohte. Der Zeuge ist als Schiffsführer, also zur Beurteilung nautischer Situationen und der aus ihnen entstehenden Notwendigkeiten befähigt. Er hat schließlich kein Interesse am Ausgange dieses Rechtsstreites, das seine Objektivität in Frage stellen könnte. Aus allen diesen Gründen hält die Berufungskammer die Lagebeurteilung des Zeugen, die mit der von ihm der Wasserschutzpolizei gegebenen übereinstimmt, für verläßlich.
Von Bedeutung ist in dem hier interessierenden Zusammenhange weiter die Aussage des Zeugen „H". Er war der Führer des Schubverbandes, der vor dem Schubverband der Beklagten zu Berg fuhr und dem Schiff der Klägerin problemlos begegnet ist. Auf die der Havarie vorausgehenden Ereignisse wurde er aufmerksam, als er „aufgeregte Gespräche über Kanal 10" hörte, in deren Verlauf der „H"-Schubverband erklärte, „das gehe nicht klar." So aufmerksam geworden, hat der Zeuge sein Radargerät so eingestellt, daß er mit seiner Hilfe die sich hinter seinem Verbande abspielenden Ereignisse sehen konnte. Diese hat der Zeuge wie folgt geschildert. Die Überholung „M" —„J" war abgeschlossen. „M" war in der Nähe des Schubverbandes auf einem Kurs, der auf eine kommende Kollision Kopf an Kopf hindeutete. „M" war „ziemlich weit" vom rechtsrheinischen Ufer weg. Auch diese Aussage zeigt also, daß das bei der Klägerin versicherte Schiff nach der Überholung von „J" nicht Kurs zum rechtsrheinischen Ufer hin genommen hat.
Abgerundet wird das Bild durch die Aussage des Schiffsführers „V" von „M", er „hätte in der letzten Phase vor dem Unfall vielleicht noch den Versuch machen können, vor „J" mit Steuerbordkurs auf Land zuzugehen."
Das hätte aber dazu geführt, daß sein Schiff ins Land gelaufen wäre. Diese Aussage enthält das Zugeständnis, eine Verlegung des Kurses nach Steuerbord sei nicht ausgeschlossen gewesen. Die angeblich damit verbundene Gefahr haben die beiden anderen Zeugen nicht gesehen.
Da die Kursverlegung möglich war und die Kollision vermieden hätte, liegt in ihrer Unterlassung ein schwerer Verstoß gegen die allgemeine nautische Sorgfaltspflicht.
2. Eine Mitschuld der Führung des Schubverbandes der Beklagten an der Havarie ist nicht erkennbar.
Nach den Aussagen aller neutralen Zeugen fuhr der Verband den üblichen Kurs der Bergfahrt. Die Klägerin wirft seiner Führung in erster Linie vor, nicht weiter nach Steuerbord zum linksrheinischen Ufer hin gefahren zu sein. Dazu bestand aber nach ,Ansicht der Berufungskammer auch angesichts des Überholmanövers des TMS „M" kein Anlaß. Wie bereits dargelegt, war dieses Manöver zwar risikoreich, führte aber dann nicht zu einer Kollision, wenn das überholende Schiff nach der Überholung Kurs nach Steuerbord nahm, was möglich war. Die Führung des Schubverbandes der Beklagten durfte dararuf vertrauen, daß diese Kursverlegung rechtzeitig erfolgen werde. Es war nicht ihre Pflicht, sie dadurch unnötig zu machen, daß sie selbst den Kurs ihrer Einheit nach Steuerbord verlegte. Die Verantwortung für die Überholung als solche und für ihre richtige Durchführung lag allein bei dem überholenden Talfahrer. Hilfe von der Bergfahrt konnte nicht verlangt werden. Dieser Grundsatz gilt auch dann, wenn die Kurse aufeinander zulaufen, weil der überholende Talfahrer den seinigen bei der Überholung verändert hat. Die zur Verminderung einer Havarie notwendige Kurskorrektur hat der Talfahrer durch die Rückkehr auf seine alte Kurslinie herbeizuführen, wenn dies, wie im vorliegenden Falle, möglich ist. Erst wenn diese Möglichkeit nicht besteht, der Bergfahrer aber eine Kollision durch Verlegung seines Kurses vermeiden kann, muß sie von ihm verlangt werden. Im vorliegenden Falle fehlt die erste Voraussetzung für eine solche Forderung, wodurch sie schon unmöglich wird. Die zweite Voraussetzung hat die Klägerin nicht beweisen können. Die sichere Feststellung, eine Kursverlegung des Bergfahrers nach Steuerbord, die eine Kollision mit dem Talfahrer abgewendet haben würde, sei noch möglich gewesen als ihre Notwendigkeit erkennbar wurde, kann nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht getroffen werden. In diesem Zusammenhang kommt es nicht nur darauf an, ob die Fahrwassertiefe sie erlaubt hätte, sondern ob die Gesamtlänge im Revier sie gestattet hätte. Für die Beantwortung dieser Frage fehlen verläßliche Unterlagen . . ."
Anmerkung der Redaktion:
Tatsächlich bestimmt die Spezialvorschrift des § 9.02 Nr. 2 RheinSchPVO, die in diesem Fall zu berücksichtigen war, daß (Bergund) Talfahrer auf den Rheinstrecken, auf denen die „Geregelte Begegnung" zu erfolgen hat, ihren Kurs so weit nach Steuerbord richten müssen, daß die Vorbeifahrt ohne Gefahr Backbord an Backbord stattfinden kann.
Ebenfalls abrufbar unter ZfB 1991 - Nr.12 (Sammlung Seite 1326); ZfB 1991 - Nr.18 (Sammlung Seite 1338 f.); ZfB 1991, 1326; ZfB 1991, 1338 f.