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23 U 9/02 RhSch - Oberlandesgericht (Rheinschiffahrtsobergericht)
Entscheidungsdatum: 31.01.2003
Aktenzeichen: 23 U 9/02 RhSch
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Norm: §§ 254, 823 Abs. 1 und 2 BGB iVm. § 1.04 RhSchPVO; § 92c BinSchG
Gericht: Oberlandesgericht Karlsruhe
Abteilung: Rheinschiffahrtsobergericht

Leitsätze:

1) Wenn ein Binnenschiff die Fahrt deutlich herabsetzt, um einer allgemein bekannten geringeren Sohlentiefe innerhalb der Fahrrinne gerecht zu werden und eine Grundberührung zu vermeiden, so muss es dazu die nachfolgende Schifffahrt in der Regel nicht in besonderer Weise warnen.

2) Die Grundsätze über den Anscheinsbeweis gelten auch für das gemäß § 254 BGB oder § 92 c BinSchG festzustellende Mitverschulden.

 

OLG - Rheinschifffahrtsgericht – Karlsruhe

Urteil vom 31.01.2003

23 U 9/02 RhSch

(Vorinstanz: AG Mainz, Rheinschifffahrtsgericht, Urteil vom 31.07.2002 - 76 C 1/02 BSchRh)

Tatbestand:

Die Parteien streiten um die Folgen einer Auffahr-Havarie.
Die Klägerin versichert das Containermotorschiff MS „K." (110 m lang, 11,40 m breit, 2495 t groß, 1750 PS + Bugstrahlruder 450 PS stark). Sie klagt aus übergangenem bzw. abgetretenem Recht.
Die Beklagte Ziffer 1 ist Eignerin des TMS „S." (97 m lang, 9,50 m breit, 900 PS + 200 PS Bugstrahlruder, 1800 t groß), das am 23.01.2001 auf dem Rhein vom Beklagten Ziffer 2 geführt wurde. Es befand sich in der Talfahrt von Karlsruhe nach Rotterdam und folgte dem vorausfahrenden TMS „R.". Oberhalb des Lampertheimer Altrheins überholte (zunächst TMS „R." und ihm folgend) TMS „S." das zu Tal fahrende MS „K.". Es hatte sein Überholmanöver etwa bei km 440,0 abgeschlossen, war wieder auf Kurslinie von MS „K." eingeschert und fuhr ebenso wie das vorausfahrende TMS „R." und das nachfolgende TMS „S." etwa in der Fahrwassermitte weiter zu Tal. In der Folge kam es bei Rhein-km 441,5 zu einer Havarie in der Form, dass TMS „S." durch MS „K." von achtern angefahren wurde. Die Klägerin hat im ersten Rechtszug im wesentlichen vorgetragen: TMS „S." sei bei fallendem Wasser hart an der Wasserstandsgrenze abgeladen gewesen. Das Schiff sei 3 cm kopflastig und damit für die Talfahrt sachwidrig abgeladen gewesen. Deshalb und wegen nicht angepasster überhöhter Geschwindigkeit von 19 km/h habe sich TMS „S." unmittelbar, nachdem es MS „K." überholt habe, bei Rhein-km 441,5 an der dortigen Schwelle festgefahren. Für die Schiffsführung von MS „K." habe es keine Möglichkeit gegeben, die durch die plötzliche Festfahrung von TMS „S." heraufbeschworene Havariegefahr abzuwenden. Aufgrund des geringen Höhenabstandes habe MS „K." nur noch wenig nach Backbord halten können, als es dann schon zur Havarie gekommen sei. Bei diesem Havarieverlauf greife der Anscheinsbeweis zu Lasten der Klägerin nicht ein, es sei vielmehr ein anderer Geschehensablauf als der von den Beklagten geschilderte nachgewiesen.
Die Beklagten sind diesem Vortrag im wesentlichen wie folgt entgegengetreten: TMS „S." habe sich Rhein-km 441,5 genähert und deshalb seine Geschwindigkeit von ursprünglich 20 km/h auf etwa 14 km/h reduziert, weil es auf eine Stufe im Fahrwasser Rücksicht nehmen wollte. In dieser Lage sei es unerwartet durch MS „K." achtern angefahren worden. Dessen Schiffsführer habe offenbar die vorübergehende Fahrtreduzierung des vorausfahrenden TMS „S." übersehen. Bei dem Zusammenstoß befand sich TMS „S." ungefähr in der Mitte des Fahrwassers. Es liege ein typischer Auffahrunfall vor, bei dem der Beweis des ersten Anscheins gegen die Schiffsführung des auffahrenden Schiffes spreche.

Das Rheinschifffahrtsgericht hat die Klage nach Beweiserhebung durch Urteil vom 31.06.2002 abgewiesen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Berufung. Ergänzend zu ihrem erstinstanzlichen Vorbringen trägt sie vor: TMS „S." habe MS „K." vor der bekanntermaßen gefahrträchtigen „Grassteiner Schwelle" vor Rhein-km 442 überholt, sei dabei in sorgfaltswidriger Weise kurz vor dem überholten MS „K." in dessen Kurslinie eingeschert und habe dann - absichtlich oder unabsichtlich - drastisch an Geschwindigkeit verloren. TMS „S." sei während des Überholvorgangs mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 km/h gefahren; bei der unmittelbar hierauf sich ereignenden Havarie habe dessen Geschwindigkeit nur noch 7 bis 8 km/h betragen. Unter diesen Umständen wäre eine Warnung unbedingt erforderlich gewesen. Als eine andere Möglichkeit für den starken Geschwindigkeitsverlust könne ein Auflaufen von TMS „S." auf die bei Rhein-km 441 befindliche Schwelle in Betracht kommen, da TMS „S." zu kopflastig abgeladen gewesen sei.
Letztlich sei es unerheblich, welche der beiden dargestellten Alternativen vorgelegen habe - in beiden in Betracht kommenden Fällen sei die Havarie auf ein alleiniges Verschulden von TMS „S." zurückzuführen. Das Überholen des MS „K." durch TMS „S." kurz vor der bekanntermaßen gefahrträchtigen „Grassteiner Schwelle" sei per se sorgfaltswidrig gewesen. Die drastische Verringerung der Geschwindigkeit habe daher über Funk oder durch Signal angekündigt werden müssen. Die Beklagten stützen ihren Antrag auf Zurückweisung der Berufung auf die Gründe des angefochtenen Urteils und tragen ergänzend vor:

Die Schiffsführung von MS „K." habe genügend Zeit und Raum gehabt, dem vorausfahrenden TMS „S." zu folgen, dessen Kurs und Geschwindigkeit zu beobachten und den notwendigen Sicherheitsabstand einzuhalten. Allerdings sei die Sicht erheblich beschränkt gewesen, weil die Container auf MS „K." in drei Lagen hochgestaut waren, so dass voraus ein toter Winkel von ca. 150 m bestanden habe. Da sich der Unfall erst bei km 441,5 zugetragen habe, bestehe kein Zusammenhang mehr mit dem Überholmanöver, das bereits bei km 440 beendet gewesen sei. Es sei nicht nur für den vorausfahrenden, sondern auch für den nachfolgenden Schiffsführer bekannt gewesen, was sich auch aus einem Hinweis im Radaratlas ergebe: „442,1 Achtung! Langsam über die Grassteiner Schwelle fahren".
Bei Bedarf könne und müsse das vorausfahrende Schiff seine Geschwindigkeit vermindern, Aufgabe des nachfolgenden Schiffes sei es, diese Geschwindigkeitsreduzierung nachzuvollziehen und einen angemessenen Sicherheitsabstand beizubehalten. Dazu müsse die vorausfahrende Schifffahrt beobachtet werden.
Die Behauptung, TMS „S." habe sich auf der besagten Schwelle festgefahren, treffe nicht zu und habe von dem Beklagten auch nicht bewiesen werden können. Das vorausfahrende Schiff sei bei Verringerung der Fahrgeschwindigkeit nicht verpflichtet, Warnsignale zu geben oder Funkkontakt mit dem nachfolgenden Talfahrer aufzunehmen. Die Beobachtung der in ausreichendem Abstand folgenden Schifffahrt sei weder vorgeschrieben noch zweckmäßig und in vielen Fällen auch nicht möglich. Die Berufung hatte keinen Erfolg.


Aus den Entscheidungsgründen:

1. Ein auf die Klägerin übergegangener Anspruch der Interessenten von MS „K." aus § 823 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 1.04 RhSchPVO, §§ 3, 4, 92 ff BinSchG besteht nicht. Der Schiffsführung von TMS „S." können haftungsbegründende Vorwürfe nicht deshalb gemacht werden, weil Schallsignale oder eine Funkkontaktaufnahme unterblieben sind. Wenn ein Fahrzeug die Fahrt deutlich herabsetzt, um einer allgemein bekannten geringeren Sohlentiefe innerhalb der Fahrrinne gerecht zu werden und eine Grundberührung zu vermeiden, so muss es dazu die nachfolgende Schifffahrt in der Regel nicht in besonderer Weise warnen. 2. Selbst wenn man jedoch fordern würde, dass die Schiffsführung von TMS „S." in der vorliegenden Situation nach abgeschlossenem Überholmanöver Funkkontakt zu dem überholten Fahrzeug hätte aufnehmen sollen, um dieses vor der beabsichtigten deutlichen Geschwindigkeitsreduzierung zu warnen, so würde ein in dem Unterlassen liegendes geringes Verschulden bei der Abwägung gemäß § 92c BinSchG gegenüber dem Eigenverschulden des auffahrenden Schiffes völlig zurücktreten. Die Grundsätze über den Anscheinsbeweis gelten auch für das gemäß § 254 BGB oder § 92c BinSchG festzustellende Mitverschulden. MS „K." hat das vorausfahrende TMS „S." angefahren und beschädigt. Unter diesen Umständen spricht der Anscheinsbeweis für ein Verschulden der Schiffsführung von MS „K.". Seine Interessenten hätten bei dieser Sachlage Tatsachen behaupten und beweisen müssen, die geeignet gewesen wären, den gegen die Schiffsführung von MS „K." sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern (vgl. RhSchOG Köln, VersR 1978, 344 und 1979, 439). Bei einer Auffahrhavarie handelt es sich um ein Ereignis, das einen typischen Geschehensablauf darstellt, denn nach den Erfahrungen des Lebens ist die Annahme gerechtfertigt, dass es auf einem Fehlverhalten der Schiffsführung des auffahrenden Fahrzeugs beruht. Erfahrungsgemäß ist ein derartiger Unfall in der Schifffahrt-ähnlich wie im Straßenverkehr - regelmäßig nur mit mangelnder Aufmerksamkeit oder zu dichtem Auffahren oder einer überhöhten Geschwindigkeit auf Seiten des auffahrenden Schiffes erklärbar (vgl. RhSchOG Köln, VersR 1979, 439, 440). Der Anscheinsbeweis führt nicht zu einer Umkehr der Beweislast. Seine Wirkung entfällt vielmehr schon dann, wenn der Gegner des Beweisführers Tatsachen darlegt und erforderlichenfalls beweist, die die ernsthafte Möglichkeit eines anderen Geschehensablaufes ergeben. Der atypische Geschehensablauf selbst braucht nicht positiv nachgewiesen zu werden (vgl. Wussow/Kürschner, Unfallhaftpflichtrecht, 15. Aufl., 2002, Kap. 20 TZ 8 m.w.N.). Das Berufungsgericht findet im Ergebnis der Beweisaufnahme keine Bestätigung für die Richtigkeit der den Anscheinsbeweis möglicherweise entkräftenden Darstellung, dass sich TMS „S." unvermittelt nach dem Überholvorgang vor MS „K." gesetzt und sofort aufgestoppt habe. Nicht nur dem vorausfahrenden, sondern auch dem folgenden Schiffsführer war bekannt, was sich auch aus einem Hinweis im Radaratlas: „442,1 Achtung! Langsam über die Grassteiner Schwelle fahren" ergibt, dass sich in der Talfahrt Friedrichsaue zwischen Rhein-km 441,0 und 441,5 mittig rechtsrheinisch ein „trockenes Stück" befindet, bei dem - insbesondere für einen voll abgeladenen Talfahrer - besondere Vorsicht geboten ist. MS „K." musste daher mit einer entsprechenden deutlichen Geschwindigkeitsreduzierung des vorauslaufenden TMS „S." rechnen und gemäß § 1.04 RhSchPVO im Rahmen der nautischen Sorgfaltspflicht das eigene Fahrverhalten darauf einrichten. Der Schiffsführer von MS „K." gab an, dass sein Schiff mit drei Containern beladen war und seine Sicht voraus ca. 150 m betrug; wegen dieses „toten Winkels" von ca. 150 m sah er TMS „S." nur während des Überholvorgangs. Nachdem das Schiff auf die Kurslinie eingeschwenkt war, konnte er es optisch nicht mehr wahrnehmen, sondern musste es mit Hilfe des Radargerätes beobachten. Dies geschah offensichtlich nicht mit der erforderlichen Sorgfalt. Die von der Schiffsführung bzw. den Interessenten von MS „K" in den Raum gestellte Vermutung, dass TMS „S." vor der Anfahrung durch MS „K." auf Grund geraten sei und deshalb ein Hindernis bereitet habe, sieht das Berufungsgericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme als widerlegt an.

Die Revision wurde nicht zugelassen.

Ebenfalls abrufbar unter ZfB 2003 - Nr.3 (Sammlung Seite 1888 f.); ZfB 2003, 1888 f.