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22 U 25/21 BSch - Oberlandesgericht (Schiffahrtsobergericht)
Entscheidungsdatum: 07.10.2021
Aktenzeichen: 22 U 25/21 BSch
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Oberlandesgericht Berlin
Abteilung: Schiffahrtsobergericht

Leitsätze:

Die §§ 92ff BinSchG sind keine eigenständige Anspruchsgrundlage für Schadensersatzansprüche, sondern Zurechnungs- und Haftungsverteilungsnormen, die in Verbindung mit § 823 BGB anzuwenden sind. Die §§ 92b f BinSchG sind keine spezifischen Beweislastregeln, sondern berücksichtigen das Mitverschulden eines beteiligten Schiffes, wie etwa § 254 I BGB.

Hat der Geschädigte ein Verschulden auf Seiten des Schädigers zur Überzeugung des Gerichtes bewiesen, ist der Anspruch nach § 92b BinSchG unabhängig vom Grad des Verschuldens in voller Höhe zuzusprechen, es ist Sache Schädigers, darzulegen und zu beweisen, dass ein anspruchsminderndes Mitverschulden im Sinne des § 92c BinSchG vorliegt.

Urteil des Schiffahrtsobergerichtes Berlin
vom 7. Oktober 2021
Az.: 22 U 25/21 BSch
(Schiffahrtsgericht Charlottenburg, Az.: 233 C 94/20 BSch)

Auf die Berufung der Klägerin wird das am 23. Februar 2021 verkündete Urteil des Amtsgerichts Charlottenburg – Schifffahrtsgericht – 233 C 94/20 BSch – teilweise geändert und wie folgt neu gefasst:
Der Beklagte wird verurteilt,
an die Klägerin 1. 9.567,21 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 8.548,78 € seit dem 30. Juli 2019 und aus 1.018,43 € seit dem 28. Dezember 2019 sowie 2. 887,03 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 26. Mai 2020 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I. Von der Darstellung des Sachverhaltes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.

II. Die zulässige Berufung ist begründet.
Der Klägerin, der Kaskoversicherung, steht gegen den Beklagten als Schiffseigner (Eigentümer) sowie als Schiffer (Führer des Schiffes) gemäß §§ 823 Abs. 1 und Abs. 2, 249 BGB i.V.m. §§ 92 Abs. 1, Abs. 3 S. 1, 92b, 92f Abs. 1, 3 Abs. 2 BinSchG der geltend gemachte Schadenersatzanspruch ihres Versicherungsnehmers aus abgetretenem (§ 398 BGB) bzw. kraft Gesetzes (§ 86 VVG) übergegangenem Recht wegen des (Kleinfahrzeug-) Schiffsunfalls vom 17. September 2018 gegen 21.10 Uhr auf der unteren Havel-Wasserstraße bei Stromkilometer 14,7, unweit (nach der Feststellung der Polizei in 100 m Entfernung zum Ufer) der Pfaueninsel (außerhalb des ausgetonnten Fahrwassers), in vollem Umfang und nicht nur in Höhe einer Quote von 30 % zu, weil nur das (Allein-) Verschulden des Beklagten feststeht.

1. Der Senat vermag der – mit Ausnahme einer Zitatstelle – nicht näher begründeten Rechtsauffassung des Amtsgerichts, der Geschädigte müsse für den uneingeschränkten Schadenersatz nach § 92b BinSchG »den Vollbeweis eines hundertprozentigen Verschuldens des Schädigers« führen, nicht zu folgen.

a) §§ 92 ff. BinSchG begründen keine eigenständige Anspruchsgrundlage des Schadenersatzanspruchs, sondern sind i.V.m. § 823 BGB anzuwenden (vgl. zu § 92b BinSchG Schiffahrtsobergericht Nürnberg, Verfügung vom 08. Oktober 2015 – 9 U 1141/15 Bsch -, juris Rn. 16: »Zurechnungsnorm«), erweitern zum Teil die Haftung und bestimmen im Rahmen der Schadenersatzpflicht die Haftungsverteilung. Danach ergibt sich keine Rechtfertigung für einen Unterschied zur Beurteilung der Darlegungs- und Beweislast gegenüber der Sachlage bei der alleinigen Geltung von §§ 823, 254 BGB, zumal §§ 823 ff. BGB daneben in Anspruchskonkurrenz ohnehin anwendbar sein sollen (vgl. BGH, Urteil vom 4. 4. 2006 – VI ZR 151/05 – NJWRR 2006, 1098, 1099 [12]).

(1) Zunächst ist es nicht überzeugend, §§ 92b und 92c BinSchG entgegen ihrem systematischen Zusammenhang als selbstständige Einzelnormen zu interpretieren, obwohl dies zweifelfrei nirgends sonst im Haftungsrecht eine Entsprechung hätte und ungewöhnlich wäre. Bei beiderseitigem Verschulden steht jedem der Geschädigten ein eigener Anspruch zu, der wegen des Mitverschuldens jeweils zu kürzen ist. Es fehlt aber nicht etwa an einer Anspruchsgrundlage oder wird eine exklusive Anspruchsgrundlage für die Fälle des Mitverschuldens begründet.

(2) Der Wortlaut des § 92b BinSchG bringt auch nicht zum Ausdruck, dass er nur im Fall des Alleinverschuldens anwendbar wäre. Andere Normen, die diesen Teil neben weiteren Anspruchsvoraussetzungen beinhalten, bzw. § 823 BGB, interpretiert niemand entsprechend.

(3) Selbst wenn man aber §§ 92b und § 92c BinSchG als selbstständige Einzelnormen unterstellte, würde das Mitverschulden und damit die Anwendung einer anderen Norm der Sache nach eine Einwendung darstellen, für die der Anspruchsgegner darlegungs- und beweispflichtig ist.

(4) Im Rahmen von § 92c BinSchG (unter der Annahme, es handele sich um eine isolierte Norm) wäre nach der Logik der Rechtsansicht des Amtsgerichts wiederum der jeweilige Anspruchsteller darlegungsund beweispflichtig für die »Voraussetzungen« zur Anwendung der Norm und damit auch für das Vorliegen und den Umfang seines eigenen Mitverschuldens. Eigentlich müsste ihm zwar günstig und nicht ungünstig sein, wenn sein Mitverschulden nicht bewiesen wäre. Hier hätte er aber – die Rechtsansicht des Amtsgerichts konsequent angewendet, denn weshalb sollte es hier nun anders sein – die Voraussetzungen der Norm nicht bewiesen und würde auch danach schon dem Grunde nach keinerlei Schadenersatz erhalten dürfen. Das vermag nicht zu überzeugen und zu dem Ergebnis ist auch das Amtsgericht – wenn auch inkonsequent – nicht gelangt.

(5) Es wäre zudem ein absurdes Ergebnis, wenn – wie hier – der Klägerin bzw. ihrem Versicherungsnehmer eine unbewiesene Mithaftung von 70 % angelastet würde, weshalb sie bzw. er nur 30 % seines Schadens erhielte, der Beklagte seinerseits aber im Rahmen seiner Anspruchsverfolgung – auch auf der Grundlage der abweichenden Rechtsansicht, weil er weder Allein- noch Mitverschulden der Gegenseite beweisen kann – dennoch nicht etwa 70 % seines Schadens ersetzt erhielte, sondern leer ausginge. Mithaftungsregeln verteilen aber 100 % des Schadens bzw. 50 % der Summe beider Schäden und nicht nur (im Ergebnis zur Entlastung von Haftpflichtversicherungen) einen verschwindend geringen Anteil.

(6) Es drängt sich im Übrigen auf, dass die durch keinen sachlichen Gesichtspunkt zu rechtfertigende Abweichung von den allgemeinen Grundsätzen der Darlegungs- und Beweislast, wenn sie denn – was jedoch nicht der Fall ist – im Gesetz so angelegt sein sollte, verfassungsrechtlich bedenklich wäre.

b) Die Anspruchsvoraussetzungen im Rahmen der Haftung nach § 823 BGB i.V.m. §§ 92 ff. BinSchG hat daher – wie auch im Straßenverkehrsrecht – der jeweilige Anspruchsteller darzulegen und zu beweisen, was ebenso im Rahmen des Mitverschuldens nach §§ 254 BGB, 92b, 92c BinSchG unverändert gilt (vgl. zum Straßenverkehrsrecht entsprechend Kuhnke, Darlegungsund Beweislast bei Schadenersatzansprüchen aus Verkehrsunfällen, NZV 2018, 447 [I. zu Fn. 3]; vgl. auch BGH, Urteil vom 24.9.2013 – VI ZR 255/12 – NJW 2014, 217, 218 [9]). Die Klägerin hat daher das (Mit-) Verschulden des Beklagten, der Beklagte das (Mit-) Verschulden des Zedenten darzulegen und zu beweisen. Eine Haftungsquote kommt im Ergebnis einer Abwägung nach § 92c Abs. 1 BinSchG bzw. § 254 Abs. 1 BGB i.V.m. § 404 BGB also nur in Betracht, wenn auch ein ursächliches Mitverschulden des Versicherungsnehmers der Klägerin feststehen würde (vgl. auch Rheinschifffahrtsobergericht Karlsruhe, Urteil vom 31. Januar 2003 – 23 U 9/02 RhSch – ZfB 2003, Sammlung Seite 1888 f = juris Rn. 31: »festzustellende Mitverschulden«, Rn. 31 bis Rn. 35) und dem Beklagten gegen den Versicherungsnehmer der Klägerin ebenfalls dem Grunde nach ein Schadenersatzanspruch wegen eines (Mit-) Verschuldens des Zedenten i.V.m. § 92b BinSchG zustände. Von einem Verschulden des Versicherungsnehmers der Klägerin ist das Amtsgericht aber – zu Recht – im Ergebnis der Beweiswürdigung nicht ausgegangen.

2. Die tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts sind einschließlich des Ergebnisses der Beweiswürdigung zu Grunde zu legen, weil keine konkreten Anhaltspunkte Zweifel an deren Richtigkeit oder Vollständigkeit begründen (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Auf die zutreffende Beweiswürdigung wird verwiesen.

a) Danach ist der Beklagte – zu seinen Gunsten unterstellt, er sei mit seinem Motorboot mit der am Unfallort (nur unter günstigsten Bedingungen) zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 12 km/h gefahren – entweder unter Berücksichtigung der Dunkelheit zu schnell gefahren (§§ 1.06 Nr. 1, 6.20 Nr. 1 S. 1 BinSchStrO) oder war unter Verstoß gegen die ihn treffende allgemeine Sorgfaltspflicht unaufmerksam (§ 1.04 Nr. 1 und Nr. 2 BinSchStrO). Jedenfalls spricht für die Sorgfaltspflichtsverletzung, dass anders nicht erklärlich ist, weshalb er ein ankerndes Boot, dem er ausweichpflichtig war, bei freier Sicht und vergleichsweise geringer Geschwindigkeit hätte übersehen können, selbst wenn dieses unbeleuchtet gewesen sein sollte (vgl. zum Auffahren auf einen unbeleuchtet liegengebliebenen Klein-Lkw auf einer Landstraße: BGH, Urteil vom 08.12.1987 – VI ZR 82/87 – juris Rn. 11). Das Amtsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass neben Bojen u.ä. auch schlecht oder unbeleuchtete Fahrzeuge oder größere im Wasser treibende Gegenstände in Betracht kommen und der Bootsführer sich auf dergleichen einrichten muss (BGH, Urteil vom 17. Dezember 1973 – II ZR 20/72 – juris Rn. 14; vgl. entsprechend zum Sichtfahrgebot im Straßenverkehr: BGH, Urteil vom 08.12.1987 – VI ZR 82/87 – juris Rn. 11; König in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl., § 3 StVO Rn. 25; Freymann in: Geigel, Der Haftpflichtprozess, 28. Aufl., Kap. 27 Rn. 99).

b) Ein dem Zedenten bzw. Versicherungsnehmer als Schiffseigner zurechenbares Verschulden der Schiffsbesatzung bzw. ihn als Schiffer treffendes Verschulden steht nicht fest. Der Zeuge T. und die Zeugin H haben übereinstimmend bekundet, das – beim Ankern in der Dunkelheit – vorgeschriebene Rundumlicht (§ 3.20 Nr. 2 BinSchStrO) sei angebracht und in Betrieb gewesen. Der Zeuge T. hat entgegen der Ansicht des Beklagten auch keineswegs bekundet, er hätte das Rundumlicht und das Topplicht (Fahrlicht nach vorne) gleichzeitig eingeschaltet. Er hat vielmehr ausgesagt, das Topplicht gleichzeitig mit dem Rundumlicht bei Einsetzen der Dämmerung angebracht zu haben (Sitzungsprotokoll vom 1. Dezember 2020, S. 3 oben). Dass die Zeugin H das Licht nicht konkreter bezeichnen konnte, erklärt sich durch den Umstand, dass sie bekundete, keine Ahnung von Booten zu haben. Dagegen hat die Zeugin G. zwar ausgesagt, das andere Boot habe kein Licht angehabt. Das genügt aber nicht, die volle Überzeugung (§ 286 ZPO) von der Wahrheit der entsprechenden Behauptung des Beklagten zu begründen. Es mag im Übrigen sein, dass das Amtsgericht keine Anhaltspunkte dafür gesehen hat, dass die Zeugin die Unwahrheit gesagt habe. Gleiches gilt aber auch für die beiden anderen Zeugen, deren Aussagen es hinsichtlich des Ankerns gefolgt ist. Dass wie plötzlich aus dem Nichts ein großes dunkles Objekt aufgetaucht sein soll, spricht aber zumindest dafür, dass die Zeugin nicht genügend aufmerksam war, weshalb Zweifel an der Verlässlichkeit ihrer Erinnerung nicht auszuschließen sind.

3. Hinsichtlich des Schadenumfangs wird auf die zutreffenden Ausführungen des Amtsgerichts verwiesen.

4. Dementsprechend sind auch der Zinsanspruch und der Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Kosten insgesamt begründet. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die weiteren Nebenentscheidungen folgen aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO; § 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO. Eine Zulassung der Revision scheidet aus. Gegenteilige obergerichtliche Rechtsprechung zur Rechtsfrage der Darlegungs- und Beweislast zu §§ 92b, 92c BinSchG vermochte der Senat nicht festzustellen. Es wird vielmehr ohne Erörterung die Beweislast des Anspruchsgegners unterstellt (vgl. die oben zu 1. b) zitierte Entscheidung des Rheinschifffahrtsobergericht Karlsruhe).

Ebenfalls abrufbar unter ZfB 2022 - Nr. 9 (Sammlung Seite 2779 f.); ZfB 2022, 2779 f.