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Leitsatz:
Art. 19 IV und Art. 1031 GG verbieten, § 43 StPO dahin auszulegen, dass die Frist für die Einlegung des Einspruchs gegen einen Bußgeldbescheid an ihrem letzten Tag vor 24 Uhr, etwa mit dem Ende der Dienstzeit der Behörde endet.
Beschluss
des Bundesverfassungsgerichts
vom 11. Februar 1976
Zum Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer hatte gegen einen Bußgeldbescheid wegen Verstoßes gegen Vorschriften für die Rheinschifffahrt über die Beseitigung von Altöl durch seine Rechtsschutzversicherung Einspruch einlegen lassen. Der Einspruch war durch ein Fernschreiben mit der Zeitangabe „16.59" der zuständigen Verwaltungsbehörde am letzten Tage der Einspruchsfrist übermittelt worden. Bei der Behörde erhielt das Fernschreiben den Eingangsstempel des folgenden Tages. Daraufhin haben Amtsgericht und Landgericht den Einspruch wegen Verspätung verworfen.
Der Verfassungsbeschwerde wurde stattgegeben.
Aus den Gründen:
Die zeitliche Befristung von Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen gehört seit jeher zum Inhalt rechtsstaatlicher Verfahrensordnungen. Sie dient, wenn sie auch nicht selten mit der Forderung nach möglichst weitgehender materieller Gerechtigkeit in Widerstreit geraten mag, der Rechtssicherheit, die ihrerseits ein Element des Rechtsstaatsprinzips des Art. 20 III GG ist (vgl. BVerfGE 35, 41 [47] = NJW 1973, 1315). Andererseits gewährleistet Art. 19 IV GG einen umfassenden und effektiven Rechtsschutz des Bürgers gegen Akte öffentlicher Gewalt; der Bürger hat einen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (Beschluss v. 16. 12. 1975 - 2 BvR 854/75 - Umdruck S. 5, m.w. Nachw.).
Die Fristen für Rechtsbehelfe und Rechtmittel im Bußgeldverfahren enden, wie die Fristen des gern. § 46 1 OWiG entsprechend anzuwendenden Strafverfahrensrecht, „mit Ablauf des Tages" (§ 43 StPO). Schon die am Wortlaut orientierte, unbefangene Auslegung dieser Vorschriften führt zu dem Ergebnis, dass unabhängig von der Dienstzeit, die der unterschiedlichen Regelung durch die jeweils zuständigen Behörden unterliegt, die Fristen erst um 24 Uhr enden, denn erst dann „läuft der Tag ab" (vgl. z. B. für das Strafverfahrensrecht: OLG Frankfurt, NJW 1974, 1959; für das Zivilprozessrecht statt vieler: Thomas Putzo, ZPO, 7. Aufl. [1974], § 222 Anm. 2 b; für das Verwaltungsrecht BVerfGE 18, 51 f. = NJW 1974, 1239 und weiter Redeker von. Oertzen, VwGO, 5. Aufl. [1975], § 57 Anm. 10 m.w. Nachw.). Für die schriftliche Einlegung eines Rechtsbehelfs oder Rechtsmittels sieht das Gesetz - abgesehen von der Einlegung zur Niederschrift der Geschäftsstelle - eine irgendwie geartete Mitwirkung eines Bediensteten des Gerichts oder der Verwaltungsbehörde nicht vor. Diese schon vom Wortlaut her naheliegende Auslegung des einfachen Rechts ist im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantien der Art. 19 IV und Art. 103 1 GG auch verfassungsrechtlich geboten. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass § 43 StPO nicht dahin ausgelegt werden darf, es komme für die Rechtzeitigkeit eines fernschriftlich eingelegten Rechtsbehelfs oder Rechtsmittels auf das Ende der Dienstzeit der Behörde oder des Gerichts an.
Gerade in „kleineren" Bußgeld- und Strafsachen wird der Bürger oft erst dann, wenn er seinerseits nicht mehr an seinem Arbeitsplatz seinen Dienst verrichten muss, die Zeit finden, sich um die Wahrnehmung seiner Rechte zu kümmern. Nicht zufällig liegt der Schwerpunkt mancher anwaltlichen Beratungstätigkeit häufig zu Zeiten, zu denen Gerichte und Behörden schon geschlossen haben. Es ist daher sachgerecht, dem Bürger auch noch in den Abendstunden die Abgabe seiner schriftlichen Erklärungen dem Gericht oder der Behörde gegenüber zu ermöglichen, sei es, dass er sie in einen Briefkasten des Gerichts oder der Behörde einwirft, sei es, dass er sich des modernen Mittels des Fernschreibers bedient, sofern die Gerichte oder Behörden über eine Fernschreibstelle verfügen. Den Behörden und Gerichten erwachsen daraus keine unzumutbaren Schwierigkeiten.“