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Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
vom 5. Juni 1986
(Auf die Berufung gegen das Urteil des Rheinschifffahrtsgerichts Strassburg vom 22. April 1985 - 1 E 482/85 -)
Tatbestand:
Der Beschuldigte hat gegen das Versäumnisurteil des Rheinschifffahrtsgerichts Strassburg vom 22. April 1985 Berufung eingelegt und die Einwendung der Nichtigkeit der Vorladung zur Verhandlung vom 22. April 1985 erhoben, die der Staatsanwaltschaft beim Rheinschifffahrtsgericht Strassburg gemäß dem Verfahren des Artikels 562 der französischen Strafprozessordnung für im Ausland lebende Personen zugestellt worden ist. Als Begründung hat der Beschuldigte angeführt, dass zum einen dieses Vorgehen gegen Artikel 40 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte verstößt, wo es heißt "Vorladungen und Zustellungen an Personen, welche in einem der Rheinuferstaaten einen bekannten Wohnsitz haben, müssen in letzterem bewirkt werden" und zum anderen sei die Vorladung, der keine Übersetzung in deutscher Sprache beigefügt war, in Verletzung der von Frankreich am 3. Mai 1974 ratifizierten europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 bewirkt worden, deren Artikel 6 insbesondere das Recht des Beschuldigten gewährleistet, in möglichst kurzer Frist in einer für ihn verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden.
Die Staatsanwaltschaft macht geltend, dass zu unterscheiden ist, zwischen den Formalitäten zur Bestimmung der "Saisine" des Gerichts und den Formalitäten zur Definition der Art des kontradiktorischen oder Versäumnisurteils. Die Staatsanwaltschaft hat nach Artikel 562 der Strafprozessordnung gehandelt, als sie die Ladung des Beschuldigten am 28. Januar 1985 bei der Staatsanwaltschaft bewirkt hat. Eine Kopie der Ladung ist auf Grundlage des europäischen Rechtshilfeabkommens vom 20. April 1959 vom Amtsgerichtspräsidenten aus Mannheim übermittelt worden.
Die Staatsanwaltschaft macht außerdem geltend, dass die bewirkte Zustellung dem europäische Rechtshilfeabkommen in Strafsachen vom 20. April 1959 entspricht, wo es in Artikel 16 der Anlage 14 heißt, dass das Rechtshilfeersuchen und die beigefügten Schriftstücke in deutscher Sprache oder in einer der Amtssprachen des Europarates abgefasst sein müssen. Die Kopie der Vorladung, die in französischer Sprache, also einer Amtssprache des Europarates, abgefasst ist und Angaben über Ort, Zeitpunkt und die genauen Tatbestandsmerkmale der strafrechtlich verfolgten Tat enthält, sowie die Texte, die den genannten Verstoß bestrafen, sichern unleugbar die nach Artikel 6 der genannten Konvention geforderte rasche und genaue Information, so dass die Vorladung gültig ist.
Entscheidungsgründe:
Verletzung der Revidierten Rheinschifffahrtsakte
Artikel 40 Absatz 3 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte fordert, dass Vorladungen und Zustellungen an Personen, welche in einem der Rheinuferstaaten einen bekannten Wohnsitz haben, in letzterem bewirkt werden müssen.
Die Zustellung wurde am 20. Februar 1985 in seinem Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland durch Aushändigung an seine Ehefrau bewirkt.
Diese Zustellung wurde nach den formellen Vorschriften der französischen Strafprozessordnung vorgenommen, wonach Vorladungen von Parteien, welche im Ausland und besonders in der Bundesrepublik Deutschland wohnen, mindestens zwei Monate vorher bewirkt werden müssen.
Deshalb ist der Einwendung der Nichtigkeit der Vorladung wegen Verstoßes gegen die Bestimmungen der Revidierten Rheinschifffahrtsakte nicht stattzugeben.
Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention
Die Menschenrechtskonvention nennt eine gewisse Anzahl allgemeiner Prinzipien und zählt in Artikel 6 beispielhaft genauere und konkrete Folgerechte und Regeln auf, deren Verletzung die grundlegenden Garantien direkt oder indirekt berühren oder aushöhlen kann.
Zu diesem in Artikel 6.3 der genannten Konvention aufgezählten Folgerechten gehört das Recht des Beschuldigten, in möglichst kurzer Frist in einer für ihn verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden.
Zu Unrecht hat die Staatsanwaltschaft das europäische Rechtshilfeabkommen vom 20. April 1959 dahingehend interpretiert, dass die Abfassung der Ladung in einer beliebigen Amtssprache des Europarates, vor allem gegenüber der europäischen Menschenrechtskonvention, gültig ist, unbeschadet der Tatsache, dass der Beschuldigte nicht in der Lage ist, sie zu verstehen.
Zwar können nach dem europäischen Rechtshilfeabkommen den zuständigen Behörden der Bundesrepublik Deutschland übermittelte Schriftstücke entweder in deutscher Sprache oder in einer der Amtssprachen des Europarates abgefasst werden, doch präjudiziert dieses Abkommen in keiner Weise die Bedingungen, die noch nach der europäischen Menschenrechtskonvention einzuhalten sind, welche, wie in Artikel 26 dieses Instruments ausdrücklich darauf hingewiesen wird, vom Rechtshilfeabkommen in keiner Weise berührt wird.
Allerdings bedeutet die Verletzung der in Artikel 6.3 der europäischen Menschenrechtskonvention beschriebenen Rechte des Beschuldigten auf Information deshalb nicht die Nichtigkeit der Ladung einer Person, sondern macht für das Gericht lediglich jede Entscheidung unmöglich, zumal sich bei der Prüfung der Gerichtsakte und der Verhandlung ergeben hat, dass die Gerichtsakte keinen Hinweis darauf enthält, dass der Beschuldigte die Art und den Grund der in der Ladung angeführten Beschuldigung verstand.
Das mit Berufung belegte Versäumnisurteil, das in Verletzung der Bestimmungen der europäischen Menschenrechtskonvention über das Recht des Beschuldigten auf Information gefällt worden ist, ist aufzuheben.
Aus den dargelegten Gründen wird für Recht erkannt:
- die Berufung des Beschuldigten B., die formell nicht zu beanstanden ist, ist zulässig;
- sie ist begründet;
- die Berufung der Staatsanwaltschaft wird deshalb verworfen;
- das Versäumnisurteil des Rheinschifffahrtsgerichts Strassburg vom 22. April 1985 wird aufgehoben;
- die Festsetzung der Kosten für das Berufungsverfahren erfolgt durch das Rheinschifffahrtsgericht Strassburg gemäß Artikel 39 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte.