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Leitsatz:
Inländische Vorschriften zur Ordnung des Verkehrs, insbesondere hinsichtlich der tariflichen Bindung von Beförderungsentgelten im innerstaatlichen Verkehr, bleiben auch in Ansehung der Art. 59 und 60 EWGV und trotz des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 22. Mai 1985 - Rs 13/83 - rechtsgültig.
Urteil des Oberverwaltungsgerichtes in Münster
vom 11. Dezember 1987
13 A 2494/86
Zum Tatbestand:
Die Klägerin, die selbst im Güterfernverkehr tätig ist, beabsichtigte, ein holländisches Transportunternehmen, das keine deutsche Fernverkehrsgenehmigung und keine deutsche Niederlassung besaß, mit der Durchführung innerdeutscher Transporte zu untertariflichen Entgelten zu beauftragen. Die Beklagte hielt als zuständige deutsche Behörde diesen Plan für ungesetzlich und drohte mit Gegenmaßnahmen und Bußgeld. Da die Klägerin ihr Vorgehen weiterhin für zulässig hielt, wurde der Streitfall verwaltungsgerichtlich ausgetragen.
Das Oberverwaltungsgericht entschied gegen die Klägerin.
Aus den Entscheidungsgründen:
„Die von der Klägerin in den Mittelpunkt ihres Vorbringens gestellte Rechtsfrage, ob diese Vorschriften wegen Verstoßes gegen den EWG-Vertrag (EWGV) außer Kraft getreten seien, ist zu verneinen. Zwar hat der Ministerrat seine Pflicht, im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit auf dem Verkehrssektor gemäß Art. 75 Abs. 1 Buchst. b EWGV die Bedingungen für die Zulassung von Verkehrsunternehmern zum Verkehr innerhalb eines Mitgliedsstaats, in dem sie nicht ansässig sind, festzulegen, sowie andere Pflichten zur Liberalisierung des Verkehrs verletzt, jedoch haben der Ablauf der dem Rat eingeräumten Übergangszeit und die Folgezeit bis Mai 1985 nicht dazu geführt, dass die Art. 59 und 60 EWGV auf dem Verkehrssektor unmittelbar anwendbar sind. (Vgl. EuGH, Urteil vom 22.5.1985 - Rs 13/ 831), Sammlung der Rechtsprechung des EuGH (Sig.) 1985, 1513, 1599, Randziffer (Rz.) 63 i.V.m. Rz. 62, 59.) Der KI. ist einzuräumen, dass der Rat nach Art. 176 Abs. 1 EWGV aufgrund des vorstehenden Urteils, durch das seine Untätigkeit als vertragswidrig erklärt worden ist, die sich aus dem Urteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen hat. Zugunsten der KI. kann unterstellt werden, dass die von der Bekl. im einzelnen dargelegten Aktivitäten des Rates dem nicht oder jedenfalls nicht in ausreichendem Maße gerecht werden und hierin eine erneute Vertragswidrigkeit liegt. Auch in diesem Falle sind die Art. 59 und 60 EWGV im Verkehrssektor nicht unmittelbar anwendbar geworden, woraus sich auch nach dem Vorbringen der Kl. - allein eine Nichtanwendbarkeit der dem Erfolg der Klage entgegenstehenden Vorschriften des Güterkraftverkehrs¬gesetzes ergeben könnte.
Die Gründe, die den Europäischen Gerichtshof die unmittelbare Anwendbarkeit der Art. 59 und 60 EWGV in seinem Urteil vom 22.5.1985 haben verneinen lassen, bestehen fort. Die Anwendung der in den Art. 59 und 60 EWGV niedergelegten Grundsätze der Dienstleistungsfreiheit muss nach der Sonderregelung des Art. 61 EWGV durch die Verwirklichung der gemeinsamen Verkehrspolitik gemäß dem Vertragstitel über den Verkehr erreicht werden, und zwar vor allem durch die Festlegung der gemeinsamen Regeln für den internationalen Verkehr und der Bedingungen für die Zulassung von nicht gebietsansässigen Verkehrsunternehmern zum Verkehr innerhalb eines Mitgliedstaates, wie sie in Art. 75 Abs. 1 Buchst. a und b EWGV vorgesehen sind. Die Komplexität des Vorgangs, durch eine gemeinsame Verkehrspolitik die Grundsätze der Dienstleistungsfreiheit zu verwirklichen, und die dem Rat eröffneten Spielräume zu Gestaltung lassen es nach Auffassung des Senats schlechthin ausgeschlossen erscheinen, dass Art. 59 und 60 EWGV ohne die erforderlichen verkehrspolitischen Entscheidungen unmittelbare Anwendung finden können. Dies muss um so mehr gelten, als der EWG-Vertrag selbst nicht das Gebot völliger Dienstleistungsfreiheit auf dem Gebiet des Verkehrs enthält, so dass die von der KI. begehrte Bejahung derselben durch unmittelbare Anwendung des Art. 59 und 60 EWGV im Sinne der KI. eine Änderung des Vertragsziels enthalten, jedenfalls das Gebotene überschreiten würde. Art. 59 EWGV verweist durch die Einschränkung der schrittweisen Aufhebung der Beschränkungen des Dienstleistungsverkehrs durch den Zusatz „nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen" selbst auf Art. 61 EWBV, der wiederum die Art. 74 ff. EWGV in Bezug nimmt. Der maßgebliche Art. 75 EWGV verlangt in Abs. 1 unter Buchst. a) nur die Aufstellung gemeinsamer Regeln und unter dem im vorliegenden Verfahren maßgeblichen - die Kabotage betreffenden - Buchst. b) die Festlegung von - wie zu ergänzen ist: einheitlichen - Bedingungen. Der Ministerrat würde deshalb seinem Auftrag nicht gerecht, wenn die absolute Freiheit des Dienstleistungsverkehrs auf dem Verkehrssektor nicht geschaffen würde. (Vgl. auch Grabitz, Kommentar zum EWG-Vertrag 1986, Art. 75 Rz. 24). Wenn er nur das Gebot der Beseitigung sämtlicher Diskriminierungen des Leistungserbringers aufgrund von dessen Staatsangehörigkeit oder des Umstandes, dass der Leistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, (vgl. EuGH, Urteil vom 22.5.1985, aaO, Rz. 64) umsetzen würde, wäre dadurch die von der KI. angegriffene Zulässigkeit der nach § 22 GüKG festgesetzten Beförderungsentgelte, nicht berührt. Weiter als die Pflichten des Ministerrats nach Art. 75 iVm Art. 74, 59, 60, 61 EWGV können nach Ansicht des Senats übrigens auch aus einer unmittelbaren Geltung der Art. 59, 60 EWGV abgeleitete Pflichten der Einzelstaaten nicht gehen. Sollte der Ministerrat dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 22. 5.1985 - wie der Senat unterstellt - nicht oder nicht im ausreichenden Maß nachgekommen sein, so wäre dieser Verstoß gegen Art. 176 EWGV nach Ansicht des Senats im übrigen von nur nachrangigem Gewicht im Vergleich zu der Tatsache, dass die Pflicht zum Erlass von Vorschriften nach Art. 75 Abs. 2 EWGV schon bis zum Ende der Übergangszeit, nämlich bis zum 31. Dezember 1969, bestand und der Zeitraum der Vertragsverletzung im Zeitpunkt der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes bereits über 15 Jahre betrug. Angesichts der Länge der Vertragsverletzung vor dem genannten Urteil vermag der nun verstrichene Zeitraum von etwa zweieinhalb Jahren nicht solche Wirkungen zu entfalten, wie sie der viel längere Zeitraum nicht auszulösen vermochte, auch nicht mit der ggf. in der Nichtbefolgung des Urteils vom 22.5. 1985 liegenden weiteren Vertragsverletzung. Entgegen der Auffassung der KI. ist § 22 GüKG in der Neufassung vom 1.8.1961 auch nicht wegen Verstoßes gegen das Schlechterstellungsverbot des Art. 76 EWGV unanwendbar. Wenn nach dieser Regelung die Beförderungsentgelte den wirtschaftlichen Verhältnissen der Unternehmen des Güterkraftverkehrsgewerbes Rechnung tragen sollen, so ist dies, wie das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat, keine mittelbare oder unmittelbare Schlechterstellung von Verkehrsunternehmern anderer Mitgliedsstaaten, zumal Art. 78 EWGV ebenfalls vorschreibt, dass Maßnahmen auf dem Gebiet der Beförderungsentgelte im Rahmen des EWG-Vertrages der wirtschaftlichen Lage der Verkehrsunternehmer Rechnung zu tragen haben."
Ebenfalls abrufbar unter ZfB 1989 - Nr.6 (Sammlung Seite 1275); ZfB 1989, 1275