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Leitsätze:
1) Die Vorladung zu einem Klageverfahren gegen einen Verband, der von der Klageerhebung keine Kenntnis erhalten und zu seiner Vertretung auch nie eine Vollmacht erteilt hat, muß ebenso wie das daraufhin ergangene Urteil als nichtig aufgehoben werden.
2) Zur Schuldfrage und Schuldverteilung unter 3 Schiffen, wenn sich eine zur Kollision führende Überholung in der Nähe des Ufers und eines dort quer in den Strom hineinragenden Stilliegers abgespielt hat.
Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt
vom 10. Juni 1980
115 BZ - 5/80 und 116 BZ - 6/80
(Rheinschiffahrtsgericht Rotterdam)
Zum Tatbestand:
Dem Rechtsstreit liegt ein Unfall zugrunde, der sich am 5. November 1969 nachts bei guter Sicht auf der Waal bei km 942 am linken (Süd-) Ufer ereignet hat. Dort befand sich neben mehreren anderen Stilliegern das der Klägerin zu 1 damals gehörende MTS J, das quer im Strom, mit dem Achterschiff zwischen den Kribben und mit dem Vorschiff weit im Fahrwasser, lag und nur den Buganker, nicht den Heckanker gesetzt hatte. Unterhalb fuhren zu Berg - Talfahrt war nicht vorhanden - das MS AF und hinter ihm das damals der Beklagten gehörende MTS A, das bei einem Abstand von ca. 500 m zur Überholung des MS AF an dessen Steuerbordseite ansetzte und diese Absicht durch Zeichen ankündigte. Als beide Schiffe mit einem seitlichen Abstand von ca. 30 m ungefähr gleichauf lagen, kam infolge beiderseits unklarer Manöver, über deren Einzelheiten die Parteien abweichende Darstellungen geben, die AF in unmittelbare Berührung mit der A und saß ihr einen Augenblick auf. MS A verlor die Manövrierfähigkeit, scherte voll nach Steuerbord aus und stieß mit dem Vordersteven gegen das Backbordvorschiff des TMS J und sodann gegen dessen Backbordseite 20 m weiter hinten. Dieses Schiff hat einen Schaden von ca. 180 500,- DM erlitten. Auch die anderen Schiffe wurden beschädigt. Die Klägerin zu 1 verlangt Zahlung von etwa 107 000,- DM an sich und außerdem von etwa 73500,- DM an die Klägerin zu 2 (Kaskoversicherer), die den Schaden insoweit bereits ersetzt hat. Die Beklagte bestreitet die Forderung dem Grunde und der Höhe nach. Die Beklagte hat ihrerseits auch gegen den Schifferbetriebsverband „Jus et Justitia" (SBV) Klage auf Regreß erhoben. Das Rheinschiffahrtsgericht hat in seinem Grundurteil eine Schuldaufteilung zwischen A, AF und J im Verhältnis von 5:3:2 für gerechtfertigt gehalten.
Alle Parteien haben Berufung eingelegt. Die Kläger zu 1 und 2 meinen, daß nur die A und die AF ein Verschulden treffe, die Beklagte hält die A für schuldlos. Der SBV wendet ein, daß er bereits am 30. April 1972 - 6 Jahre vor seiner erstmaligen Ladung - aufgrund des Binnenschiffsverkehrsgesetzes (BSchVerkG) vom Bundesverkehrsminister aufgelöst worden sei. Die Liquidatoren hätten zufällig erstmals nach der Verkündung des erstinstanzlichen Urteils vom 23. Februar 1979 erfahren, daß eine Klage gegen den SBV angestrengt worden sei. Niemals sei einem Rechtsanwalt zur Vertretung des SBV in dieser Sache Vollmacht erteilt worden. Außerdem sei der SBV - gemäß den Vorschriften des BSchVerkG - niemals Eigner, Ausrüster oder Reeder der AF gewesen.
Die Berufung der Kläger zu 1 und 2 sowie der Beklagten wurden von der Berufungskammer der Rheinzentralkommission zurückgewiesen. Die Schuldanteile der J mit 20% und der A mit 50% wurden bestätigt. Auf die Berufung des SBV wurde das Urteil insoweit auf Kosten der Beklagten aufgehoben und die Vorladung für nichtig erklärt.
Aus den Entscheidungsgründen:
„...
Die Berufungskammer vertritt folgenden Standpunkt in bezug auf die Berufung, die der SBV gegen das auf die Regreßklage gefällte Urteil eingelegt hat.
...
Nach Art. 40 Absatz 3 der revidierten Rheinschiffahrtsakte müssen Vorladungen und Zustellungen an Personen, welche in einem der Rheinuferstaaten einen bekannten Wohnsitz haben, im letzteren bewirkt werden. Was den SBV anbetrifft, so liegt dieser Wohnsitz in Duisburg-Ruhrort. Von dieser Vorschrift kann abgewichen werden, wenn die Personen, für die die Vorladung oder Zustellung bestimmt ist, damit einverstanden sind, daß diese an einem anderen, von ihnen erwählten Wohnsitz bewirkt wird. Diese Wahl hat nach Art. 15 des 1. Zivilgesetzbuches schriftlich zu erfolgen.
In der Zustellung der genannten Vorladung zum Regreßverfahren heißt es, daß sie bewirkt worden ist „an den Schifferbetriebsverband, der Rechtsperson nach dem bundesdeutschen Recht, niedergelassen in Duisburg-Ruhrort (Bundesrepublik Deutschland), der seinen Wohnsitz ausdrücklich in Dordrecht, Boomstraat Nr. 31 im Büro des Rechtsanwalts Dr. A.C. H. daselbst erwählt hat. Ich habe meine Zustellung und Aussagen in diesem ausdrücklich erwählten Wohnsitz vorgenommen und Herrn C.V., Angestellter des Rechtsanwaltsbüros, eine Kopie hiervon überlassen". Der SBV hat bestritten, der Beklagten seine Zustimmung für die Bewirkung dieser Ladung an einen anderen als den nach Art. 40 Abs. 3 vorgesehenen Wohnsitz gegeben zu haben, und da die Beklagte eine solche Zustimmung auch nicht behauptet hat, muß davon ausgegangen werden, daß die Streitverkündung nicht vorschriftsmäßig erfolgt ist. Sie ist daher nichtig.
Gemäß Art. 94 der ZPO, der für die ergänzende Anwendung von Art. 30 der Verfahrensordnung der Berufungskammer in Betracht kommt, kann der Richter, wenn der Berufungsbeklagte auf eine nichtige Vorladung dennoch erscheint und deren Nichtigkeit geltend macht, diese Einrede zurückweisen, falls für den Berufungsbeklagten kein Anlaß besteht, sie zu erheben. Dieser Fall liegt hier jedoch nicht vor. SBV hat in der Berufung immer bestritten, daß der für ihn in erster Instanz aufgetretene Rechtsanwalt von ihm Vollmacht dazu erhalten hat, was von der Beklagten nicht bestritten worden ist. Das bedeutet, daß der SBV gemäß Artikel 272 in Verbindung mit Art. 269 der ZPO nicht in der ersten Instanz im Regreßverfahren erschienen ist. Das Erscheinen des SBV im Berufungsverfahren hebt die Nichtigkeit nicht auf. Dadurch daß SBV in der ersten Instanz bei der nichtigen Klage nicht erschienen ist, hat er eine Instanz verloren; nur das rechtfertigt die Einrede der Nichtigkeit.
Die obigen Erwägungen führen zu dem Schluß, daß das hinsichtlich der Regreßklage angefochtene Urteil aufgehoben werden muß, daß die Vorladung in der bezüglich der Regreßklage darüber hinaus für nichtig erklärt werden muß, daß das vom SBV in der Berufung gemachte Vorbringen nicht mehr erörtert zu werden braucht und daß die Kosten für die vom SBV eingelegte Berufung der Beklagten auferlegt werden müssen. Da der SBV nicht in der ersten Instanz erschienen ist, hat er für diese Instanz keine Kosten zu tragen. Da die Aspekte der Schuldfrage, die in der Hauptsache bzw. in der Regreßsache aufgeworfen wurden, vom Rheinschiffahrtsgericht nicht getrennt, sondern zusammen geprüft wurden, hat die Aufhebung des angefochtenen Urteils bezüglich der Regreßklage zur Folge, daß dieses Urteil auch im übrigen nicht aufrechterhalten werden kann. Die Nichtigkeit der Regreßklage veranlaßt die Berufungskammer, nur in der Hauptsache zu entscheiden, die die Schuldaufteilung zwischen der J und der A betrifft. Hier liegt jedoch eine Kollision vor, an der mehr als zwei Schiffe beteiligt sind und - wie sich nachstehend herausstellen wird - an dem jedes der Schiffe in gewisser Weise für den den anderen Schiffen dabei verursachten Schaden verantwortlich ist. Gemäß Art. 939 und 940 des Handelsgesetzbuches kann in einem solchen Fall die Haftung eines Eigners gegenüber Eignern der anderen Schiffe den Schuldanteil dieses Schiffes nicht überschreiten. In Verbindung damit kann die Berufungskammer bei der Beurteilung des Schuldverhaltens zwischen der J und der A nicht den Schuldanteil der AF außer Betracht lassen, wenn auch der Eigner nicht von der Berufung betroffen ist.
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Bei seiner Feststellung, daß die J quer im Strom gelegen hat, stützt sich das Rheinschiffahrtsgericht auf die Aussagen der Zeugen M. (Schiffer auf der A), D. (Rudergänger auf der A), F. (Schiffer auf der AF) und R. (Rudergänger auf der AF). Diese Aussagen wurden noch durch die als Zeugen verhörten Polizeibeamten N. und K. bestätigt. Nach den Aussagen dieser Zeugen, die eine große Erfahrung in der Binnenschiffahrt haben und den Strom an dieser Stelle sehr gut kennen, stellen sich die Schiffe, die an dieser Stelle und bei niedrigem Wasserstand nur einen Bugankergesetzt haben, infolge der Flutströmung, wie sie im Zeitpunkt der Kollision gegeben war, schräg.
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Schließlich versucht die Klägerin zu 1 zu beweisen, daß selbst wenn die J quer gelegen hatte, dies nicht zur Verursachung der Kollision beigetragen hat und kein Verschulden dieses Schiffes vorliegt. Denn die J lag nach Aussage der Klägerin zu 1 weit unterhalb der Motorschiffe MS E und MS S, die ganz in der Nähe und oberhalb dieses Schiffes lagen. Die vor Anker liegenden Schiffe seien gut sichtbar gewesen und an Bord der A rechtzeitig auf dem Radarschirm ausgemacht worden; außerdem stehe auch gar nicht fest, daß die Kollision nicht stattgefunden hätte, wenn die J gerade in der Fahrrinne gelegen hätte, da die A aufgrund der Sogwirkung nach der Kollision mit der AF ohnehin nach Steuerbord gezogen worden sei. Die Kollision sei, nach Darstellung der Klägerin zu 1, ausschließlich auf die Fahrweise der A zurückzuführen, die die AF nicht an Steuerbord hätte überholen dürfen, wo dies nicht möglich war, sowie auf die Fahrweise der AF, die es unterlassen habe, das Überholmanöver der A zu erleichtern.
Auch diese Darstellung kann nicht als zutreffend angesehen werden. Die AF fuhr etwa 100 bis 120 m seitlich aus der südlichen Kribbenlinie heraus. Von dem so für ein Überholmanöver an der Steuerbordseite dieses Schiffes zur Verfügung stehenden Raum nahm die 57,65 m lange J, die eine leichte Schräglage in der Fahrrinne hatte, einen wesentlichen Teil in Anspruch. Aber aufgrund der durch den niedrigen Wasserstand erhöhten Soggefahr war der verbleibende Abstand nur unzureichend, um der A eine gefahrlose Vorbeifahrt an AF auf der Steuerbordseite zu ermöglichen.
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Zwischen der Art und Weise, vor Anker zu liegen, und der Kollision besteht ein kausaler Zusammenhang. Dadurch hat die J eine Situation geschaffen, die zusammen mit dem Überholmanöver der A zur Kollision geführt hat. Die Berufungskammer hält es für unwahrscheinlich, daß die A mit J zusammengefahren wäre, wenn das letztgenannte Schiff vorschriftsmäßig vor Anker gelegen hätte. Dann wäre nämlich der verfügbare Raum zwischen der AF und der J wesentlich größer gewesen und hätte - auch bei dem ungünstigen Wasserstand - völlig ausgereicht, um ungehindert zwischen beiden Schiffen hindurchzufahren.
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Dies ändert nichts an der Tatsache, daß die A - die auf ihrem Radarschirm rechtzeitig festgestellt hatte, daß die J durch ihre Schräglage einen für das Überholmanöver zur Verfügung stehenden Raum in Anspruch nahm - durch und bei der Durchführung ihrer Entscheidung, die AF an Steuerbord zu überholen, das falsche Stilliegen der J nicht hinreichend berücksichtigt hat. Beide Fehler zusammen haben zur Kollision geführt.
Der kausale Zusammenhang zwischen der Weise, in der J stillag, und der Kollision kann auch nicht durch den Umstand aufgelöst werden, daß sich stromaufwärts von diesem Schiff noch andere querliegende Schiffe befanden, die - die Berufungskammer kann das außer acht lassen - in Abwesenheit der J der A sicherlich für eine ungehinderte Durchfahrt im Wege gewesen wären.
Aufgrund der vorstehenden Ausführungen vertritt die Berufungskammer sowie das Rheinschiffahrtsgericht die Auffassung, daß die Kollision auch durch die J mitverschuldet worden ist.
Die Beklagte stellt sich auf den Standpunkt, daß die A keine Schuld an der Kollision trifft.
Die Kollisionen seien dadurch verursacht worden, daß die AF statt dessen ihre Maschinen auf volle Kraft voraus gestellt und sich Steuerbord gehalten habe.
Dieses Vorbringen ist zurückzuweisen. Wie bereits vorstehend gezeigt, wäre für eine gefahrlose Vorbeifahrt an AF auf der Steuerbordseite genügend Platz vorhanden gewesen, wenn die J nicht einen großen Teil dieses Platzes in Anspruch genommen hätte. Auch der niedrige Wasserstand hätte die A davon abhalten müssen, an dieser Stelle ein Überholmanöver an Steuerbord vorzunehmen.
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Vor dem Überholmanöver der A hat die AF ihren Motor etwas gedrosselt; als dann das Vorschiff der A auf Höhe des Achterschiffes der AF gekommen war, wurde dieses Achterschiff zur A hingezogen und das Vorschiff drehte nach Backbord, um dieses aufzufangen, gab der Steuermann R. leicht Steuerbordkurs, worauf das Vorschiff der AF zur A hingezogen wurde; es gelang nicht, diese Bewegung durch das Ruder zu korrigieren, da die AF durch das Drosseln der Motoren nicht mehr genug Druck auf dem Ruder hatte, um frei zu kommen, gab R. im letzten Augenblick volle Kraft voraus, aber ohne Erfolg; fast im gleichen Augenblick fuhren die beiden Schiffe ineinander.
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Wie das Rheinschiffahrtsgericht geht auch die Berufungskammer davon aus, daß es sich beim Ausscheren der AF nach Steuerbord nicht um ein isoliert zu betrachtendes Manöver des Schiffes handelt, sondern um einen Teil der - übrigens erfolglos gebliebenen - Bemühungen des Steuermanns der AF, die überholende A in einer durch Sogerscheinungen gekennzeichneten Situation freizufahren.
Diese Situation ist durch die A hervorgerufen worden, die es hätte vermeiden müssen, an AF so nahe vorbeizufahren, daß die vorbeschriebenen Schwierigkeiten entstanden. Die A kann sich dann auch nicht unter Berufung auf Art. 42 Abs. 1 letzter Satz der derzeit geltenden Rheinschiffahrtpolizeiverordnung über das überholte Schiff rechtfertigen, während sie selbst gegen die Vorschriften von Art. 37 Abs. 1 und von Art. 42 Abs. 1 verstoßen hat. Da das Überholen an dieser Stelle außergewöhnlich gefährlich war und der Unterschied der Geschwindigkeit beider Schiffe nur gering war, hätte das Überholmanöver ohne weiteres zurückgestellt werden können. Die Berufungskammer rechnet der A dieses Verschulden schwer an. Es wiegt schwerer als die Verschulden der anderen beiden betroffenen Schiffe.
Der Umstand, daß die A falsch gefahren ist, bedeutet nicht, daß die AF schuldlos ist. An Bord dieses Schiffes wußte man rechtzeitig, daß die A, die ihr Überhollicht zeitig gesetzt hatte, die AF überholen wollte. Als dem Steuermann dieses Schiffes klar wurde, daß die A an Steuerbord vorbeifahren wollte, hat er zurecht die Geschwindigkeit herabgesetzt. Die anderen rechtzeitig ausgemachten schrägliegenden Schiffe und der sehr niedrige Wasserstand hätten jedoch Grund genug für ihn sein müssen, das Überholmanöver der A durch Kurswechsel nach Backbord zu erleichtern, noch bevor die A das in Art. 43 Abs. 2 Buchstabe b) der derzeit geltenden Rheinschiffahrtpolizeiverordnung genannte Zeichen gesetzt hat. Für einen solchen Kurswechsel wäre genug Platz vorhanden gewesen. Die Möglichkeit, A überholen zu lassen, wäre somit sichergestellt gewesen.
Die vorstehenden Erwägungen führen zu dem Schluß, daß das Rheinschiffahrtsgericht zu Recht ein Mitverschulden der drei an der Kollision beteiligten Schiffe festgestellt hat. Die feststehenden Tatsachen und Umstände erlauben es der Berufungskammer nicht, zu einem anderen Verhältnis der Schuldaufteilung zu kommen als das Rheinschiffahrtsgericht.
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