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106 P - 9/79 - Berufungskammer der Zentralkommission (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Entscheidungsdatum: 24.01.1979
Aktenzeichen: 106 P - 9/79
Entscheidungsart: Urteil
Sprache: Deutsch
Gericht: Berufungskammer der Zentralkommission Straßburg
Abteilung: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt

Urteil

vom 24. Januar 1979

 (Auf Berufung gegen das Versäumnisurteil des Rheinschifffahrtsgerichts Strassburg vom 20. September 1978 - IE 1506/78 -)

Würdigung des Sachverhalts:

Der Beschuldigte hat Berufung gegen das Versäumnisurteil des Rheinschifffahrtsgerichts Strassburg vom 20.9.1978 eingelegt und die Einrede der Ungültigkeit der  Vorladung, die am 20. September 1978 in der Staatsanwaltschaft des Rheinschifffahrtsgerichts nach dem in Artikel 562  der französischen Strafprozessordnung betreffend im Ausland lebende Personen vorgesehenen Verfahren bewirkt worden ist, mit der Begründung erhoben, dass dieses Verfahren einerseits Art. 40 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte verletzen würde, wonach Vorladungen und Zustellungen an Personen, welche in einem der Rheinuferstaaten einen bekannten Wohnsitz haben, in letzterem bewirkt werden müssen, und dass andererseits die Vorladung, die ohne französische Übersetzung übersandt worden ist, gegen die von Frankreich am 3. Mai 1974  ratifizierte europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 verstoßen würde, deren Art. 6 bestimmt, dass der Beschuldigte insbesondere das Recht hat, "in möglichst  kurzer Frist in einer für ihn verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über die Art und den Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden". Der Beschuldigte erhebt auch die Einrede der Ungültigkeit der am 13. April 1978 in seinem Wohnsitz bewirkten Vorladung, weil auch sie die europäische Menschenrechtskonvention verletzten würde und hilfsweise, weil sie zu einem Zeitpunkt erfolgt sei, als die der Beschuldigung zugrunde liegende Tatsachen bereits verjährt gewesen seien.

Rechtliche Würdigung:

Verletzung der Revidierten Rheinschifffahrtsakte

Nach Art. 40 Abs. 3 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte müssen Vorladungen und Zustellungen an Personen, welche in einem der Rheinuferstaaten einen bekannten Wohnsitz haben, in letzterem bewirkt werden.

Die Formalität der Vorladung ist am 13. April 1978 durch Zustellung im Wohnsitz des Beschuldigten an seine Ehefrau erfüllt worden. Die Vorladung ist, wie aus den Akten hervorgeht, gemäß den formellen Vorschriften der deutschen Strafprozessordnung für Vorladungen im Wohnsitz erfolgt, wonach Vorladungen vor Gericht an im Ausland und insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland lebende Personen mindestens zwei Monate vor dem Termin ihres Erscheinens vor Gericht erfolgen müssen. Somit ist die Einrede der Ungültigkeit der Vorladung vor Gericht nicht als Verletzung der Revidierten Rheinschifffahrtsakte zu betrachten.

Verletzung der europäischen Menschenrechtskonvention

Die europäische Menschenrechtskonvention nennt eine gewisse Anzahl allgemeiner Grundsätze, wie das Recht auf Freiheit und Sicherheit und, in Bezug auf den genannten Art. 6, das Recht einen gerechten Prozess, und führt als Beispiel sich daraus ableitende Rechte und genauere und konkretere Regeln auf, deren Verletzung die grundlegenden Garantien, die man schützen wollte, direkt oder indirekt beeinträchtigen oder aushöhlen kann.

Zu diesen in Art. 6.3 der genannten Konvention aufgeführten Rechten gehört auch das Recht des Beschuldigten, in möglichst kurzer Frist in einer für ihn verständlichen Sprache genau über die Art und Grund der gegen ihn erhobenen Beschuldigung in Kenntnis gesetzt zu werden. Zu Unrecht hat die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer das europäische Übereinkommen über Rechtshilfe vom 20. April 1959, insbesondere hinsichtlich der europäischen Menschenrechtskonvention, als gleichbedeutend mit der Abfassung der Vorladung in einer beliebigen Amtssprache des Europarates interpretiert, unbeschadet der Tatsache, dass der Beschuldigte nicht in der Lage ist, sie zu verstehen. Wenn das europäische Übereinkommen über Rechtshilfe, das übrigens eine Verwaltungsvereinbarung zwischen Vertragsparteien ist, die Möglichkeit vorsieht, die den zuständigen Behörden der Bundesrepublik Deutschland übermittelten Schriftstücke entweder in deutsch oder in einer der Amtssprachen des Europarates abzufassen, so präjudiziert sie keineswegs die Bedingungen, die noch aufgrund der europäischen Menschenrechtskonvention einzuhalten sind, die das Übereinkommen über Rechtshilfe, wie ausdrücklich in Art. 26 dieses Instruments gefordert wird, in keiner Weise berührt. Die Verletzung der in Art. 6.3 der europäischen Menschenrechtskonvention genannten Rechte des Beschuldigten, in Kenntnis gesetzt zu werden, hat jedoch nicht zur Folge, dass die Vorladung an die Person ungültig wird, sondern verhindert lediglich, dass das Gericht ein Urteil fällt, obwohl  aus den Akten nicht ersichtlich ist, ob der Beschuldigte in der Lage war, die Art und den Grund der in der Vorladung angeführten Beschuldigung zu verstehen. Das Versäumnisurteil, gegen das Berufung eingelegt wurde und das in Verletzung der europäischen Menschenrechtskonvention betreffend das Recht des Beschuldigten, in Kenntnis gesetzt zu werden, gefällt wurde, muss aufgehoben werden. Die übrigen angeführten Rechtsgründe, insbesondere die der Verjährung, brauchen nicht geprüft zu werden.

Demgemäß

- erklärt die Berufungskammer die Berufung des Beschuldigten L. für zulässig in der Form;

- erklärt sie für begründet;

- hebt das Versäumnisurteil des Rheinschifffahrtsgerichts Strassburg vom 20. September 1978 auf;

- erklärt, dass die Feststellung der Kosten für das Berufungsverfahren gemäß Art. 39 der Revidierten Rheinschifffahrtsakte vom Rheinschifffahrtsgericht Strassburg erfolgt.