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22 U 8/05 RhSch - Oberlandesgericht (Schiffahrtsobergericht)
Datum uitspraak: 21.10.2005
Kenmerk: 22 U 8/05 RhSch
Beslissing: Urteil
Language: Duits
Rechtbank: Oberlandesgericht Karlsruhe
Afdeling: Schiffahrtsobergericht

Quelle: VersR 2006, Heft 26, S. 1239:
Kollision durch Verstoß gegen das Kursänderungsverbot bei unmittelbar bevorstehenden Begegnungen
BGB § 823 Abs. 1; BGB § 823 Abs. 2; RheinSchPV § 1.04; RheinSchPV § 6.03 Nr. 3; RheinSchPV § 6.04 Nr. 5; BinnSchG §
* Zur Bindungswirkung einer unter Vorbehalt aufgenommenen kontradiktorischen Schadenstaxe (hier: für den Streit der Parteien über den Hergang und Unfallort einer Schiffskollision) im nachfolgenden Schadensersatzprozess. *

OLG Karlsruhe

Urteil

vom 21. 10. 2005


Die Parteien stritten um die Haftung für die Folgen eines Schiffsunfalls, der sich am 8. 9. 2002 gegen 21:40 Uhr auf dem Rhein im Bereich von Kilometer 395,4 ereignet hatte, wobei die genaue Unfallstelle streitig war.

Der Kl. ist Eigner des Gütermotorschiffs (GMS) "S." (110 m lang, 11,45 m breit, 1700 PS stark, mit 2 Bugstrahlern ausgerüstet). Es war vor dem Unfall mit 2235 t Quarzsand auf einen gemittelten Tiefgang von 2,90 m abgeladen und wurde (ab M.) von dem Lotsen H. bei guter Sicht mit Radarhilfe zu Berg geführt.

Zu gleicher Zeit befand sich das Fahrgastschiff (FGS) "R." (110 m lang, 11,40 m breit, mit zwei Hauptmaschinen zu je 1000 PS und einer Bugstrahlruderanlage von ca. 350 PS ausgerüstet) auf der Talfahrt von X. nach M. Schiffsführer N., der ebenfalls mit Radarhilfe fuhr, meldete sich auf Kanal zehn mit den Worten: "Talfahrendes Kabinenschiff am B. Altrhein". Sodann gab der das GMS "S." führende Lotse dem Talfahrer eine Steuerbord/Steuerbord-Begegnung vor und bat darum, die grüne Tonne hart anzuhalten. Zu diesem Zeitpunkt hatten die beiden Schiffsführer noch keinen Sichtkontakt, auch auf dem Radarschirm war das jeweils andere Schiff noch nicht zu erkennen. Im weiteren Fahrtverlauf kam es zur Kollision zwischen dem Steuerbordvorschiff des GMS "S." und dem Steuerbordachterschiff des FGS "R.".

Das AG hat der Klage dem Grunde nach stattgegeben.

Die Berufung der Bekl. hatte keinen Erfolg.

Aus den Gründen:

Mit zutreffenden Gründen, die im Ergebnis durch das Berufungsvorbringen nicht entkräftet werden, hat das Rheinschifffahrtsgericht die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Der Kl. hat gem. § 823 Abs. 1 und Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 1.04, 6.03 Nr. 3, 6.04 Nr. 5 RheinSchPV, §§ 3, 4, 92 b BinnSchG einen Anspruch auf Ersatz der Schäden, die FGS "R." bei der Havarie am 8. 9. 2002 auf dem Rhein an GMS "S." herbeigeführt hat.

1. Rechtsfehlerfrei gelangt das Rheinschifffahrtsgericht aufgrund der getroffenen Feststellungen zu der Überzeugung, dass nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme der Kl. der ihr obliegende Beweis dafür gelungen ist, dass allein der Führer des zu Tal kommenden FGS den Unfall schuldhaft verursachte, indem er eine unzulässige Kursänderung vorgenommen und nicht die ihm obliegende Sorgfalt bei der Begegnung beider Schiffe hat walten lassen, sondern mit dem Achterschiff von FGS "R." gegen das Vorschiff von GMS "S." geraten und anschließend an dessen Steuerbordseite entlanggeschrammt ist.

a) Unbegründet sind die Berufungsangriffe gegen die Beweiswürdigung, die der Berufungsführer vergeblich durch seine eigene zu ersetzen versucht. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Rheinschifffahrtsgericht die entscheidungserheblichen Tatsachen unrichtig oder unvollständig festgestellt hat. Im Hinblick auf den Vortrag in der Berufungsinstanz ist eine erneute Feststellung in Form einer Wiederholung der Einvernahme der im Verklarungsverfahren vernommen Zeugen oder durch Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens nicht geboten. Der Schluss des Rheinschifffahrtsgerichts, dass nicht etwa ein Non liquet vorliegt, sondern vielmehr der Nachweis geführt ist, dass der Führer des FMS "R." den Unfall durch einen Kurswechsel verursacht hat, verstößt mit Blick auf das Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme nicht gegen die Denk- und Erfahrungssätze und den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 286 ZPO). Dies gilt sowohl hinsichtlich des vom GMS "S." als auch des vom FGS "R." gehaltenen Kurses, des sonstigen nautischen Verhaltens sowie auch hinsichtlich des Unfallorts. Das Rheinschifffahrtsgericht hat insbesondere die Übereinstimmung einzelner Zeugenaussagen einerseits sowie eine Unsicherheit in den Angaben der Schiffsführung des FGS "R." andererseits gewürdigt und es hat dabei die Beziehungen der einzelnen Zeugen zu den Parteien des Rechtsstreits erkannt und angemessen berücksichtigt. Danach steht auch zur Überzeugung des Berufungsgerichts fest, dass die Führung des FGS "R." die für eine gefahrlose Steuerbord/Steuerbord-Begegnung erforderliche Fahrweise äußerst am geographisch linken Teil der Fahrrinne entlang und durch Wahl einer geringeren, der nautischen Situation angemessenen Geschwindigkeit, die ein Ausscheren und Verfallen in den Hang verhindern konnte, vermissen ließ.

b) aa) Im Rahmen der Beweiswürdigung ist das Rheinschifffahrtsgericht zu Recht nicht der Auffassung der Interessenten des GMS "S." gefolgt, bereits durch die Feststellung der Experten in der kontradiktorischen Schadenstaxe sei zwingend – oder jedenfalls für die Parteien verbindlich – erwiesen, dass das GMS "S." im Zusammenhang mit der Havarie backbordseitig auf die Steine geraten und nicht unerheblich verkratzt worden sei.

Es entspricht Schifffahrtsbrauch, nach einem Unfall die Schadensfolgen durch Experten feststellen zu lassen. Durch eine kontradiktorische Schadenstaxe werden die zur Wiederherstellung des Schiffs erforderlichen Kosten mit für den nachfolgenden Schadensersatzprozess bindender Wirkung festgelegt (OLG Karlsruhe VersR 1994, 1211). Durch diese Taxierung wird die Einwendung des Schädigers nicht ausgeschlossen, es sei überhaupt kein Schaden entstanden oder der Schaden sei aus Rechtsgründen anders zu ermitteln (BGH VersR 1965, 351 = MDR 1965, 456). Kontradiktorische Schadenstaxen sind Schadensfeststellungsverträge der Parteien, vertreten durch ihre Sachverständigen, durch die die Höhe der Reparaturkosten und darüber hinaus auch andere mit dem Schiffsunfall zusammenhängende Umstände bindend festgelegt werden können (vgl. OLG Hamburg TranspR 1993, 109). Jedoch nur dann, wenn eine kontradiktorische Schadenstaxe von beiden Seiten ohne Vorbehalt unterzeichnet wird, kann unter Umständen eine Bindung nicht nur hinsichtlich der Höhe einzelner Schadenspositionen angenommen werden. Den Parteien bleibt unbenommen, in einem späteren Rechtsstreit zu bestreiten, dass ein bestimmter Schaden durch den Unfall verursacht wurde, der zur Aufstellung der Taxe geführt hat, wenn die Taxe – wie dies allgemein üblich ist – mit Vorbehalten versehen wurde (so auch zutreffend Wassermeyer, Der Kollisionsprozess in der Binnenschifffahrt 4. Aufl. S. 364 m. w. N.). Die Schadenstaxe bindet die Beteiligten hinsichtlich der Ursächlichkeit des Unfalls nur dann, wenn sich dies aus dem feststellenden Teil der Urkunde ergibt oder sonst festgestellt werden kann, dass die Experten sich in dieser Hinsicht geeinigt haben und die Beteiligten diese Einigung gegen sich gelten lassen müssen (OLG Hamburg VersR 1960, 128). Werden Schäden taxiert, die nach den Angaben des Schiffsführers "entstanden sein sollen", so ist dies als klar erkennbarer Vorbehalt zu bewerten (vgl. Wassermeyer aaO unter Hinweis auf eine Entscheidung des OLG Hamm).

bb) Entgegen der mit der Berufungserwiderung wiederholten Auffassung der Interessenten des FGS "R." ist durch die kontradiktorische Schadenstaxe vom 16. 12. 2002 nicht schon erwiesen, dass das GMS "S." im Zusammenhang mit der Havarie backbordseitig auf die Steine geraten und nicht unerheblich verkratzt wurde. Die einleitenden Worte in der Urkunde, die Unterzeichneten hätten das GMS "S." besichtigt, "mit dem Auftrag, ohne besondere Erkenntnis, was die Schuldfrage betrifft, und unter Vorbehalt aller Rechte der Auftraggeber, den Schaden aufzunehmen und der Höhe nach festzustellen, welcher entstanden sein soll in Folge einer Anfahrung mit der FGS. R.‘", dient, wie bei Gutachten dieser Art üblich, nur dazu, den Auftragsumfang der Experten anzugeben. Dem ist – wie das Rheinschifffahrtsgericht zutreffend erkannt hat – keine Wertung der im Auftrag enthaltenen Behauptung, die Schäden seien durch den Unfall vom 9. 9. 2002 entstanden, zu entnehmen. Dies wird sowohl durch die Wendung "welcher entstanden sein soll" als auch durch die Worte "ohne besondere Erkenntnis, was die Schuldfrage betrifft" hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht und wird verstärkt durch die Schlussbemerkung des Sachverständigen B., er sei "durchaus ohne Präjudiz mit den genannten Schadensbeträgen einverstanden, mit Ausnahme der Kosten der Bugstrahlanlage". Hinsichtlich der Kimmschäden bestand für eine derartige Aussage kein Grund, da für diese in der Schadenstaxe keine Reparaturkosten benannt wurden.

Wenn die Experten darüber hinaus Auftrag gehabt oder sich sonst für befugt gehalten hätten, sich auch über die Ursächlichkeit des Unfalls zu äußern, so hätte das in der Taxe deutlich gesagt werden müssen. Die Urkunde ergibt dafür keinen Anhaltspunkt. Die Kl. hat auch nicht behauptet, die tatsächlich erfolgte Einigung der Experten in dieser Frage sei nur in der Urkunde nicht deutlich zum Ausdruck gekommen.

Zu Recht weist das Rheinschifffahrtsgericht ferner auf das Gerichtsgutachten des Sachverständigen F. hin, der ausführt, dass es ihm und "wohl auch jeder anderen Person, welche bei der Havarie nicht zugegen war, unmöglich sei, die bei der kontradiktorischen Schadensaufnahme festgestellten ,Schleifspuren‘ an der backbordseitigen Kimm von GMS ,S.‘ dem vorstehend genannten Ereignis zuzuordnen".

c) Indessen steht ungeachtet der Frage, ob das GMS "S." die von deren Interessenten reklamierten Kimmschäden durch Querverkratzungen auf der Backbordseite bei der streitgegenständlichen Havarie erlitt, aufgrund der weiteren vom Rheinschifffahrtsgericht gewürdigten Beweise auch zur Überzeugung des Berufungsgerichts fest, dass der Schiffsunfall sich nahe dem rechtsrheinischen Ufer im Bereich von Rheinkilometer 395,4 ereignete. Die Behauptung der Interessenten des FGS "R.", dies könne nicht zutreffen, da es dem FGS "R." schon im Hinblick auf die Strömungsverhältnisse nach der Kollision mit GMS "S." dann nicht hätte gelingen können, sich freizuhalten und ohne Berührung mit dem rechtsrheinischen Ufer die Fahrt fortzusetzen, trifft nach den überzeugenden Feststellungen des Gerichtssachverständigen F., denen sich der Senat ebenso wie das Rheinschifffahrtsgericht anschließt, nicht zu. Da das FGS mit einer Bugstrahlruderanlage sowie zwei Aqua-Master-Antrieben im Achterbereich ausgerüstet war, war es seiner Führung möglich, auch nach der Kollision, dem anschließenden Entlangschrammen an GMS "S." und nach dem Freiwerden geeignete Manöver durchzuführen, um nicht gegen das im Hang befindliche rechtsrheinische Ufer aufzulaufen, sondern – wie geschehen – seine Fahrt zum Tal fortzusetzen.

2. Eine fehlerhafte Rechtsanwendung des Rheinschifffahrtsgerichts ist mit Blick auf diese Feststellungen nicht ersichtlich. Es wurde weder materielles Recht noch Verfahrensrecht verletzt.

Begegnen sich Berg- und Talfahrt, so müssen – von bestimmten, vorliegend nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen – die Bergfahrer den Talfahrern den Weg weisen und die Talfahrer die Weisung befolgen (§ 6.04 RheinSchPV). Diese Regelung bezweckt, mehr Klarheit für die Begegnungskurse zwischen Berg- und Talfahrt zu schaffen und damit die Sicherheit des Schiffsverkehrs zu erhöhen. Sowohl das Gebot, Kursweisungen des Bergfahrers zu befolgen, als auch das Kursänderungsverbot bei unmittelbar bevorstehenden Begegnungen zählen zu den Grundregeln des Binnenschifffahrtsverkehrsrechts (vgl. BGH VersR 1967, 450; OLG Karlsruhe vom 21. 12. 1999 – 23 U 3/04 RhSch). Ein Bergfahrer muss nicht den günstigsten, jedoch einen solchen Weg freilassen, den der Talfahrer risikolos befahren kann (vgl. Berufskammer der Zentralkommission für die Rheinschifffahrt ZfB 1992, 1399). In einer Stromkrümmung muss er berücksichtigen, dass das Wasser dort in den Hang fällt und das Schiff in der Regel breiter fährt als auf einer geraden Stromstrecke.

Ein haftungsbegründender Sorgfaltsverstoß der Schiffsführung des GMS "S." bei der Vorbereitung und Durchführung der Begegnung beider Fahrzeuge ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht festzustellen. Vielmehr unternahm der das GMS "S." führende Lotse alles, um eine gefahrlose Begegnung herbeizuführen, indem er bereits rechtzeitig sich danach erkundigte, wer ihm entgegenkam, und diesen anwies, die grünen Tonnen hart anzuhalten. Die beteiligten Schiffe hatten nach der Vorgabe des Bergfahrers über Funk eine Begegnung Steuerbord an Steuerbord abgesprochen; auf beiden Fahrzeugen war ferner unstreitig die blaue Tafel mit Funkellicht gesetzt.

Hätten beide Schiffe diesen Kurs eingehalten, wäre eine gefahrlose Begegnung möglich gewesen. Nach § 6.03 Nr. 3 RheinSchPV dürfen Fahrzeuge, deren Kurs jede Gefahr eines Zusammenstoßes ausschließt, nicht in einer Weise ihren Kurs ändern, der die Gefahr eines Zusammenstoßes herbeiführen könnte. Gegen dieses Verbot der Kursänderung verstieß allein die Schiffsführung des FGS "R.", indem sie etwa bei Rheinkilometer 395,4 auf kurze Distanz zur GMS "S." eine unzulässige und für den Unfall ursächliche Kursänderung unternommen hat. Das FGS "R." hat den ihm vom Bergfahrer gewiesenen und tatsächlich zur Verfügung gestellten Weg nicht genommen (§ 6.04 Nr. 5 RheinSchPV) und hat nicht die ihm obliegende Sorgfalt bei der Begegnung beider Schiffe walten lassen.

3. Die Berufung war daher mit der Kostenfolge aus § 97 Abs. 1 ZPO zurückzuweisen, wobei auf den in (Rhein-)Schifffahrtssachen üblichen Wunsch der Parteien nach einer Vorabentscheidung über den Grund durch das erstinstanzliche Gericht die Sache an dieses zur weiteren Verhandlung und Entscheidung über die Höhe des Klaganspruchs nach § 538 Abs. 2 Nr. 4 ZPO zurückzuverweisen war. Wegen der Kosten des Verklarungsverfahrens wird auf die in NZV 1993, 441 (= VersR 1994, 367 L) veröffentlichte Entscheidung des Senats (vgl. dazu auch Wussow, Unfallhaftpflichtrecht 15. Aufl. Kap. 67 Tz. 12 m. w. N.) hingewiesen.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 543 ZPO) sind nicht gegeben.