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Ws 3/71 - Oberlandesgericht (Rheinschiffahrtsobergericht)
Decision Date: 30.11.1971
File Reference: Ws 3/71
Decision Type: Urteil
Language: German
Court: Oberlandesgericht Karlsruhe
Department: Rheinschiffahrtsobergericht

Leitsätze:

1) Bei der Prüfung der Voraussetzungen zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung einer Rechtsmittelfrist dürfen die Anforderungen im Falle von auf Reisen befindlichen Binnenschiffern wegen der bei Ersatzzustellungen möglichen Ungerechtigkeiten nicht überspannt werden.


2) Zur Frage des Strafrahmens in Rheinschiffahrtsstrafsachen.

Beschluß des Oberlandesgerichts - Rheinschiffahrtsobergericht Karlsruhe

vom 30. November 1971

Ws 3/71

(Amtsgericht Kehl)

Zum Sachverhalt:

Gegen einen holländischen Schiffer hatte das Landratsamt Kehl einen Bußgeldbescheid erlassen, der dem Betroffenen, wegen seines Einsatzes auf dem Rhein, nicht an seinem Wohnsitz in Verden/Aller persönlich zugestellt werden konnte, sondern nur im Wege der Ersatzzustellung durch Übergabe des zuzustellenden Schriftstückes am 4. 3. 1971 an seine Ehefrau. Am 24. 3. 1971 ging beim Landratsamt Kehl ein Schreiben der Ehefrau vom 21. 3. 1971 ein, in welchem sie erklärte, daß sie im Auftrage ihres Mannes Einspruch gegen den Bußgeldbescheid einlegen möchte. Ihr Mann werde die ausführliche Begründung noch schriftlich folgen lassen. Am 27. 3. 1971 ging beim Landratsamt Kehl ein Schreiben des Betroffenen vom 26. 3. 1971 ein, in welchem er erklärte, daß er Einspruch einlege, „nachdem ich nun mit dem heutigen Datum Ihren oben aufgeführten Bescheid hier in Basel/Schweiz durch meine Hausadresse zugeschickt bekam". Im weiteren Verlauf des Verfahrens, in welchem der Einspruch vom Amtsgericht Kehl verworfen wurde und der Betroffene auf Belehrung und Fragen des Oberlandesgerichts aufgrund der daraufhin eingelegten sofortigen Beschwerde erklärte, daß er erst durch den telefonischen Anruf seiner Ehefrau von der Zustellung des Bußgeldbescheides Kenntnis erhalten habe, ist ihm wegen der Versäumung der Frist für den Einspruch gegen den Bescheid des Landratsamts Kehl die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt worden.

Aus den Enscheidungsgründen:

Als Versäumungsgrund ist in dem Schreiben vom 26. März 1971 hinreichend deutlich zum Ausdruck gekommen, daß der Angeschuldigte infolge seines Berufs als Schiffer nicht an seinem Heimatwohnsitz war, als der Bußgeldbescheid dort nach § 181 ZPO zugestellt wurde, und daß ihn der Bescheid erst am 26. März 1971 in Basel erreichte. Damit ist dargetan, daß der Angeschuldigte ohne sein Verschulden von der Zustellung vor Ablauf der Einspruchsfrist keine Kenntnis gehabt habe. Diese Tatsache stellt, sofern sie für das Gericht glaubhaft ist, nach § 44 Satz 2 StPO einen unabwendbaren Zufall kraft gesetzlicher Vermutung dar und ist somit ein Wiedereinsetzungsgrund. Mit einer solchen gesetzlichen Vermutung sollen die Ungerechtigkeiten ausgeglichen werden, die in Ersatzzustellungen liegen können (vgl. Löwe-Rosenberg, StPO, 22. Aufl., § 44 Anm. III 2; KG VRS 6, 383). Ersatzzustellungen jeder Art gefährden den durch Artikel 103 Abs. 1 GG geschützten Anspruch auf rechtliches Gehör. Deshalb ist nach Ersatzzustellung besonders sorgfältig darauf zu achten, daß die Anforderungen an den Angeschuldigten bezüglich dessen, was er zur Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör zu tun habe, nicht überspannt werden. Darauf hat das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das summarische Strafverfahren besonders hingewiesen und ausgeführt, daß die Unzulänglichkeiten des summarischen Strafverfahrens verfassungsrechtlich hingenommen werden könnten, weil das rechtliche Gehör für den Betroffenen dadurch verbürgt sei, daß er die Möglichkeit habe, durch Einspruch eine Hauptverhandlung zu erhalten. Im Falle der Versäumung der Einspruchsfrist hänge diese Möglichkeit davon ab, ob Wiedereinsetzung gewährt werde. Für die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung seien an sich die prozeßrechtlichen Vorschriften maßgebend; jedoch müsse dabei beachtet werden, daß Artikel 103 Abs. 1 GG für alle gerichtlichen Verfahren, unabhängig von der Ausgestaltung des Verfahrens durch die verschiedenen Verfahrensordnungen, ein Minimum von rechtlichem Gehör gewährleistet (Beschluß vom 21. Januar 1969, NJW 69, 1103, 1104). Dem entsprechen die Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht zu den Anforderungen an die Form der Glaubhaftmachung, besonders im Falle des summarischen Strafverfahrens, dargelegt hat (Beschluß vom 9. Juli 1969, NJW 69, 1531, 1532). Danach hat das Erfordernis fristgerechter Glaubhaftmachung gemäß § 45 Abs. 1 StPO den Sinn, dem Gericht die Versäumnisgründe sogleich wenigstens wahrscheinlich zu machen. Die Mittel der Glaubhaftmachung sind im Gesetz nicht bezeichnet. Unter Umständen kann bereits die schlichte Erklärung eines Beschuldigten ausreichen, um die richterliche Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit der behaupteten Versäumnisgründe zu begründen. Das wird jedenfalls dann zu gelten haben, wenn es sich um einen ausgesprochen naheliegenden, der Lebenserfahrung entsprechenden Versäumnisgrund handelt und kein Anlaß besteht, an der Wahrscheinlichkeit des vorgebrachten Sachverhalts zu zweifeln. Unter diesen Gesichtspunkten genügen die im vorliegenden Falle bekannten Umstände, ohne daß weitere Mittel zur Glaubhaftmachung beigebracht werden, um die richterliche Oberzeugung von der Wahrscheinlichkeit zu begründen, daß der Angeschuldigte vor Ablauf der Einspruchsfrist keine Kenntnis von der Zustellung hatte.
Für den Angeschuldigten bestand auch keine Verpflichtung, besondere Maßnahmen zu treffen, daß ihn die Zustellung einer Strafanordnung, die an seinen Wohnsitz ging, jederzeit sofort erreichen konnte. Löwe-Rosenberg (StPO, 22. Aufl., § 44 Anm. 2 Abs. 2) lehnt eine solche Pflicht zum Handeln selbst dann ab, wenn jemand eine Zustellung zu erwarten hat. Der Angeschuldigte brauchte aber auch mit der Zustellung eines Bußgeldbescheides zumindest im März 1971 nicht mehr zu rechnen, da er seit der Aufnahme einer Anzeige durch die Wasserschutzpolizei am 6. November 1970 von der Sache nichts mehr gehört hatte. Zudem durfte er sich auf die Üblichkeit verlassen, daß einem Schiffer über die Wasserschutzpolizei an Bord zugestellt wird. Das Gesuch um Wiedereinsetzung wurde mit dem Schreiben des Angeschuldigten vom 26. März 1971 auch innerhalb der gemäß § 45 StPO geltenden Frist von einer Woche nach Beseitigung des Hindernisses, das ist hier die Unkenntnis von der Zustellung des Bußgeldbescheides, angebracht. Nach Auffassung des Senats ist die Kenntnis von einer Zustellung, wie sie für die Anbringung eines Wiedereinsetzungsgesuchs nötig ist, erst dann gegeben, wenn der Angeschuldigte das zugestellte Schriftstück erhalten hat und es so mit seinem gesamten Inhalt einschließlich Rechtsmittelbelehrung voll zur Kenntnis nehmen konnte. Nur dann kann er sich eine hinreichende Vorstellung von den gebotenen Maßnahmen machen. Es genügte deshalb nicht, um das Hindernis der Unkenntnis wegfallen zu lassen, daß der Angeschuldigte zunächst fernmündlich von seiner Ehefrau etwas darüber erfuhr, daß eine Strafanordnung zugestellt worden war. Es widerspricht der Lebenserfahrung, daß der ganze Text mit sämtlichen Belehrungen in einem Ferngespräch vorgelesen worden wäre. Der Beginn der Frist für ein Wiedereinsetzungsgesuch kann deshalb erst mit dem 26. März 1971 angenommen werden. Das als Wiedereinsetzungsgesuch zu wertende Schreiben vom 26. März 1971 ging aber bereits am 27. März 1971 beim Landratsamt ein.
Über den Einspruch wird das Amtsgericht nunmehr als Rheinschifffahrtsgericht zu verhandeln haben. Es handelt sich um eine Rheinschiffahrtsstrafsache nach § 14 Abs. 2 BinnSchVerfG, Art. 34 Nr. 1 der Revidierten Rheinschiffahrtsakte vom 20. November 1963 (BGBI. 11 1966 Seite 561), §§ 8 Abs. 2 und 10 Abs. 1 Nr. 5 Altölgesetz (BGBI. 1 1968 Seite 1419), Art. 5 Abs. 1 und 2 der Verordnung zur Einführung der Rheinschiffahrtspolizeiverordnung vom 5. August 1970 (BGBI. 1 Seite 1305), § 1.15 Nr. 4 RhSchPVO 1970, § 7 des Gesetzes über die Aufgaben des Bundes auf dem Gebiet der Binnenschiffahrt vom 15. Februar 1956 (BGBI. II Seite 317) mit Änderungen vom 21. Juni 1965 (BGBI. II Seite 873) und vom 6. Juli 1966 (BGBI. 11 Seite 560). Nach der letzten Bestimmung ist dabei der Strafrahmen des Art. 32 der Mannheimer Rheinschifffahrtsakte in der Fassung vom 20. November 1963 (BGBI. 11 1966 Seite 561) zu beachten, zu dessen Einhaltung das Gegenwertverhältnis der Deutschen Mark zum französischen Goldfranken bei der Bundesbank in Frankfurt ermittelt werden muß.