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3 U 100/82 - Oberlandesgericht (Schiffahrtsobergericht)
Decision Date: 17.01.1984
File Reference: 3 U 100/82
Decision Type: Urteil
Language: German
Court: Oberlandesgericht Köln
Department: Schiffahrtsobergericht

Leitsätze:

1) Die Verpflichtung, daß nach § 79 Abs. 2 BSchG i.V. m. der Regel 111 der Rhein-Regeln Antwerpen-Rotterdam 1956 der am Havarie-grosse-Fall Schuldige die Havariegrosse-Kosten allein zu tragen hat, gilt nicht, wenn sich der Schuldner rechtswirksam von der Haftung freigezeichnet hat.

2) Zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen das durch zu schnelle Fahrt verursachte Sinken eines Schubleichters dem Schiffsführer eines Schubverbandes als leichte Fahrlässigkeit zugerechnet werden und sich der Schubbooteigner insoweit freizeichnen kann.

3) Zum Begriff der Fahruntüchtigkeit eines Schubleichters.

Urteil des Oberlandesgerichts - Schiffahrtsobergerichts in Köln

vom 17. Januar 1984

3 U 100/82

(Schiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort) = Bestätigt durch Nichtannahme der Revision gemäß Beschluß des BGH vom 1. Oktober 1984 - II ZR 67/84

Zum Tatbestand:

Die Klägerin beauftragte die Reederei E. mit dem Transport einer Ladung Erz von Rotterdam nach Neuss. Die Reederei E. gab diesen Auftrag unter Zugrundelegung ihrer Konnossementsbedingungen an die Beklagte weiter. In den danach für alle am Transport Beteiligten geltenden Bedingungen heißt es u. a., daß Havarie-grosse-Fälle nach den Rheinregeln 1956 abzuwickeln sind. Als sich der Schubverband der Beklagten, bestehend aus Schubboot H14 sowie den Schubleichtern H112 und H144, des Nachts auf der Bergfahrt bei Ehingen befand, sank plötzlich der mit Chromerz der Klägerin beladene, an der Spitze fahrende Leichter H114. Der Leichter und ein Teil der Ladung konnten später geborgen werden. Nach der vom Experten W. erstellten Dispache betrug der Anteil des Schiffes an den Havarie-grosse-Kosten über 83 000,- DM und der Ladungsanteil über 80000,- DM.
Die Klägerin hat gegen die Dispache Widerspruch erhoben und die Zahlung verweigert. In der von ihr erhobenen Klage verlangt sie die Feststellung, daß ihr Widerspruch begründet sei. Nach den Rheinregeln müsse der am Havarie-grosse-Fall Schuldige die Kosten allein tragen. Die Beklagte könne sich auf Freizeichnung nicht berufen, da der Schadensfall durch Fahruntüchtigkeit des Leichters verursacht worden sei.
Die Beklagte ist der Meinung, daß die Klägerin nach den Rheinregeln in jedem Fall ihren Beitrag zur Havariegrosse zahlen müsse. Der Leichter sei gesunken, weil der Schubverband zu schnell gefahren sei. Für dieses nautische Verschulden habe sie, die Beklagte, sich in den Konnossementsbedingungen freigezeichnet.
Das Schiffahrtsgericht hatte die Klage abgewiesen. Auf Berufung der Klägerin war die Sache vom Schiffahrtsobergericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Schiffahrtsgericht zurückverwiesen worden, das die Klage wiederum abgewiesen hat. Die hiergegen eingelegte Berufung der Klägerin ist vom Schiffahrtsobergericht zurückverwiesen worden. Die Revision der Klägerin hat der Bundesgerichtshof gemäß Beschluß vom 1. Oktober 1984 - II ZR 67/84 - nicht angenommen.

Aus den Entscheidungsgründen des Schiffahrtsobergerichtsurteils:

Die Klägerin ist verpflichtet, zu den Havarie-grosse-Kosten beizutragen. Zwar soll nach § 79 Abs. 2 BSchG bzw. der Regel 111 der Rhein-Regeln Antwerpen-Rotterdam 1956 letztlich der an dem Havarie-grosse-Fall Schuldige die Kosten allein tragen. Eine solche Einstandspflicht der Beklagten besteht aber im vorliegenden Fall nicht.
Die Beklagte haftet auch nicht für das Unterschneiden des Leichters H114, obwohl dies erwiesenermaßen auf einen Navigationsfehler der Schiffsführung zurückzuführen ist, weil sie sich insoweit wirksam freigezeichnet hat.
Nach den beiden Gutachten des Sachverständigen M. vom 21. Dezember 1981 und vom 23. Juni 1983 ist davon auszugehen, daß für den Leichter H114, der voll abgeladen war, die Gefahr des Unterschneidens bestand, sobald die „Sollgeschwindigkeit" von 7,5 km/h über Grund merklich überschritten wurde. Nach dem Havariebericht des Schiffsführers H. vom 1. Juli 1977 fuhr der Schubverband vor dem Unfall mit einer Geschwindigkeit von ca. 8,7 km/h. Der Zeuge J. hat erstinstanzlich vernommen, bekundet, daß die Geschwindigkeit des Verbandes in den letzten 5 Minuten vor dem Unfall „unheimlich" und ihm zu schnell erschienen sei und daß mit voller Kraft voraus gefahren worden sei. Diese Angaben werden vom Zeugen H. bestätigt, der erstinstanzlich als Zeuge ausgesagt hat, der Verband sei zur Unfallzeit ca. 11 bis 12 km/h gefahren.
So ergibt sich aus der Rückrechnung eine liniare Durchschnittsgeschwindigkeit für 13,6 km/h (Duisburg-Ruhrort - Hafenkanal - Strom-km 780,4 bis Ehingen Strom-km 766,8), die in der Zeit von 22.15 bis 23.50 Uhr, das sind eine Stunde und 35 Minuten, zurückgelegt wurden, von rund 8,6 km/h. Hierbei ist freilich nicht berücksichtigt, daß der Schubverband bei der Ausfahrt aus dem Hafen langsamer und die Bergfahrt auf dem Strom durchschnittlich schneller als 8,6 km/h gewesen sein muß. Die Angaben der Zeugen H. und J. die in sich stimmig sind, und die auf Schätzungen der Zeugen beruhen, finden daher in objektiviprbaren Umständen eine Stütze.
Hiergegen läßt sich nicht einwenden, die Leichter des Verbandes hätten bei einer Geschwindigkeit von 8,6 km/h oder mehr schon unmittelbar nach Beginn der Reise unter Wasser geraten müssen, denn unzweifelhaft hat der Verband die vorgenannte Strecke in der von keinem Beteiligten in Zweifel gezogenen Maximalzeit von einer Stunde und 35 Minuten zurückgelegt. Die Divergenz zu den Gutachten des Sachverständigen M. ist insoweit nur scheinbar. Der Sachverständige geht in seinen beiden Gutachten davon aus, daß bei einer Geschwindigkeit von mehr als 7,5 km/h die Gefahr bestand, daß Wasser an Deck des Leichters kam. Diese Aussage beruht aber allein auf der Auswirkung hydrodynamischer Einflüsse und auf der Annahme einer Gegenstromgeschwindigkeit von 5,4 km/h bei einer Wassertiefe in der Strommitte von ca. 6 m. Da die beiden letztgenannten Faktoren für die Reisestrecke nicht exakt festgestellt worden sind, sondern rechnerische Durchschnittswerte für die Mitte des Rheinstromes darstellen, können die konkreten örtlichen Gegebenheiten - andere Wassertiefen und andere Strömungsgeschwindigkeiten - sehr wohl eine schnellere Fahrt als 7,5 km/h ermöglicht haben. Es erscheint auch nicht nur möglich, sondern in gewissem Umfang wahrscheinlich, daß der Leichter auf der Fahrt über einen längeren Zeitraum Wasser übernommen hat und erst danach unterschnitten hat.
Der Senat sieht sich in der Überzeugung, daß der Untergang des Leichters allein auf zu schnelle Fahrt zurückzuführen ist, auch dadurch bestätigt, daß andere Schadensursachen nicht erkennbar sind und der Leichter, wie noch auszuführen sein wird, fahrtüchtig war.
Die Schiffsführer H. und J. haben das Sinken des Leichters H114 nicht absichtlich oder vorsätzlich herbeigeführt, denn es läßt sich mangels konkreter Anhaltspunkte nicht feststellen, daß sie mit dem Unterschneiden infolge zu schneller Fahrt gerechnet und diese Schadensfolge billigend in Kauf genommen haben. Auch ein grob-fahrlässiges nautisches Verhalten liegt nach Ansicht des Senats nicht vor.
Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn die erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maße verletzt worden ist, d. h. wenn dasjenige nicht beobachtet worden ist, was im Einzelfall jedem einleuchten mußte (vgl. BGH in NJW 80, 888; BGHZ 10, 16; BayObLG VersR 76, 33; OLG Stuttgart VersR 68, 954). Hierbei sind nicht ausschließlich objektive, sondern auch subjektive, in der Person des Handelnden begründete Umstände zu berücksichtigen (vgl. BGH VersR 74, 569; NJW 72, 476; BGHZ 10, 17; BAG DB 72, 780; OLG Frankfurt/M VersR 76, 554). Ob das fehlende Bewußtsein der Gefährlichkeit des eigenen Tuns grobe Fahrlässigkeit in der Regel ausschließt - so OLG Oldenburg VersR 78, 348; KG VersR 75, 1041; OLG Stuttgart VersR 68, 953; Palandt-Heinrichs, 41. Aufl. § 277 Anm. 2 oder nicht (BayObLG VersR 76, 33; OLG Köln VersR 78, 154) läßt der Senat dahingestellt. Jedenfalls erfordert der Vorwurf grobfahrlässigen Handelns, daß sich der Täter über Bedenken hinweggesetzt hat, die sich angesichts typischer Anzeichen für eine Rechtsgutgefährdung ihm aufdrängen mußten (vgl. BGH NJW 74, 949; VersR 74, 569; OLG Frankfurt/M. VersR 76, 1082; OLG Hamm VersR 76, 684). Zwar entschuldigt die Unkenntnis de, Verkehrsanforderungen nicht schlechthin (vgl. BGH VersR 77, 466), denn die Schwere des Schuldvorwurfs kann nicht allein davon abhängen, ob eine Gefahr erkannt und unterschätzt oder aus Leichtfertigkeit nicht erkannt worden ist. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Eingriff in ein fremdes Rechtsgut und seine Schwere aus einem gröblichen Verstoß gegen die dem Handelnden obliegende Sorgfalt verkannt worden ist. Diese Feststellung läßt sich im vorliegenden Fall nicht treffen.
Es ist zwar davon auszugehen, daß beide Schiffsführer hätten wissen müssen, daß die eingehaltene Geschwindigkeit zu hoch war und dazu führen konnte, daß Wasser übernommen wurde. Den beiden Schiffsführern mußte sich aber nicht unmittelbar der Schluß aufdrängen, daß die Wasserübernahme bei einer Geschwindigkeit von mehr als 8,6 km/h bis ca. 11 km/h stets eintreten mußte und so erheblich war, daß sie zum Sinken des Leichters führen konnte. Zum einen fand die Fahrt nachts statt, so daß eine Übernahme von Wasser in dem Leichter H114 nicht ohne weiteres erkennbar war. Zum anderen spricht die Tatsache, daß der Verband mit überhöhter Geschwindigkeit mehr als eine Stunde auf dem Strom auf der Reise war, bevor der Leichter sank, dafür daß der Fahrfehler sich nicht als gröblicher Sorgfaltsverstoß darstellte, der jedem einleuchten mußte. Schließlich steht auch nicht fest, welche Geschwindigkeit tatsächlich genau im Unfallzeitpunkt gefahren worden ist. Die Angabe des Schiffsführers H, ca. 11 km/h über Grund seien eingehalten worden, beruhte auf einer unzuverlässigen Schätzung und Rückrechnung, deren ein konkreter Beweiswert nicht zukommt. Die Äußerung des Zeugen J. über die ihm zu schnelle und „unheimliche" Fahrt läßt ebenfalls keine konkrete Einordnung der Geschwindigkeit zu. Danach bleibt nur die Feststellung, daß mehr als 8,6 km/h gefahren worden sind. Dies reicht aber nicht aus, eine Verletzung der Schiffsführerpflichten in besonders hohem Maße zu begründen.
Für leichte Verstöße der Schiffsbesatzung gegen ihre - insbesondere nautischen - Sorgfaltspflichten hat sich die Beklagte wirksam in den Konnossements-Bedingungen der E (§ 18) freigezeichnet. Dem Frachtvertrag, zwischen den Parteien lagen die Konnossements-Bedingungen der E. zugrunde.
Ein Verschulden der Beklagten bei der Anweisung der Schiffsführer ist substantiiert nicht dargetan. Soweit die Klägerin behauptet, der Wellenbrecher des Leichters sei zu niedrig gewesen und die Schiffsführer seien nicht auf die Gefahr des Unterschneidens hingewiesen worden, ist die Beklagte diesem Vorbringen substantiiert entgegengetreten. Sie hat die technischen Daten des Leichters und seine Zulassung offengelegt und die nautische Eignung der Schiffsführer dargetan, so daß es danach jedenfalls Sache der Klägerin gewesen wäre, ihren Vortrag mit nachprüfbarer Substanz zu versehen. Dies. ist nicht geschehen. Im übrigen läge in dem Inverkehrbringen des Leichters und dem Verabsäumen eines Hinweises an die Schiffsführer, daß der Leichter bei zu schneller Fahrt unterschneiden kann, mangels konkreter Anhaltspunkte und angesichts der Ausbildung und Berufserfahrung der Schiffsführer allenfalls ein leicht fahrlässiges, aber kein grobes Verschulden der Beklagten.
Die vorerwähnte Freizeichnung in den KonnossementsBedingungen gilt nicht für die von der Beklagten grundsätzlich zu gewährleistende Fahrtüchtigkeit des Leichters H114 (vgl. BGH VersR 83, 389). Eine Einstandspflicht der Beklagten besteht aber insoweit nicht. Der Leichter H114 war im Verband fahrtüchtig. Er wies, als er sank, kein Leck auf. Er war auch nicht zu tief abgeladen, wie der Sachverständige M. festgestellt hat.
Dieser hat in seinem Gutachten zur Überzeugung des Senats ausgeführt, daß der Leichter voll abgeladen mit- einer Geschwindigkeit von 7,5 krn/h über Grund auf dem Rhein gefahrlos hätte zu Berg geschoben werden können. Der angeblich fehlende oder zu niedrige Wellenbrecher des Leichters führte daher entgegen der Annahme der Klägerin, nicht zur Fahruntüchtigkeit.
Der Einwand, der Leichter H114 habe der ersten Leichter-Generation angehört und habe nicht mit einem zeitlich später gebauten Schubboot gefahren werden dürfen, ist unbegründet. Der Leichter H114 ist im Jahre 1975 gebaut worden und gehört nach seiner Bauart, wie die Beklagte zutreffend ausgeführt hat, nicht mehr zur ersten Generation. Das Schubboot FH14 ist 1968 gebaut worden und war daher älter als der Leichter.
Ein Leichter, der voll abgeladen nur mit 7,5 km/h über Grund zu Berg geschoben werden kann, ist allein deshalb, weil er langsamer ist als andere Leichter, nicht schon fahruntüchtig. Aber selbst wenn die Fahrtüchtigkeit des Leichters H114 im Vergleich zu anderen Leichtern als eingeschränkt anzusehen wäre, so läge gleichwohl eine haftungsbegründende Fahruntüchtigkeit, für die die Beklagte einzustehen hätte, nicht vor. Fahruntüchtigkeit ist nämlich nicht gegeben, wenn zu erwarten ist, daß der Mangel der Fahrtüchtigkeit vor der Konkretisierung der Gefahr entdeckt und beseitigt werden wird (vgl. BGH VersR 83, 389; 74, 483). Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. Die Schiffsführung hätte erkennen können und müssen - wenn sie das auch leicht fahrlässig nicht getan hat - daß der voll abgeladene Leichter mit voller Kraft voraus zu Berg nicht geschoben werden durfte, sondern mit einer immerhin noch ansehnlichen, Geschwindigkeit von nicht mehr als 7,5 km/h über Grund. Es war auch zu erwarten, daß ein erfahrener Schubboot-Schiffsführer, wie der Zeuge H. dementsprechend sorgfältig verfahren und bei der Wahl der Geschwindigkeit die Eintauchtiefe des Leichters kontrollieren würde. Hierdurch wäre mit Sicherheit die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht überschritten und der Unfall vermieden worden.