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230 Z - 10/89 - Berufungskammer der Zentralkommission (Berufungsinstanz Rheinschiffahrt)
Decision Date: 29.05.1989
File Reference: 230 Z - 10/89
Decision Type: Urteil
Language: German
Court: Berufungskammer der Zentralkommission Straßburg
Department: Berufungsinstanz Rheinschiffahrt

Leitsatz:

Zur Beweiswürdigung widersprechender Aussagen bei einer Begegnungshavarie.

Urteil der Berufungskammer der Zentralkommission für die Rheinschiffahrt

vom 29.5. 1989

230 Z - 10/89

(Rheinschiffahrtsgericht Duisburg-Ruhrort)

 

Zum Tatbestand: 

Die Klägerin ist Versicherer des Schubboots „K", das mit vier Schubleichtern linksrheinisch zu Berg fahrend am 2. 10. 1986 mit dem rechtsrheinisch zu Tal fahrenden MS „L" der Beklagten zu 1) (Eigentümerin des MS „L"; Beklagter zu 2) ist der verantwortliche Rudergänger) auf dem Rhein im Raum Wesel bei dichtem Nebel mit unterschiedlichen Sichtweiten bis zu ca. 300m in der Radarfahrt kollidierte. Die Klägerin hat behauptet, oberhalb der Brücke von Wesel habe Kapitän „S" vom Schubboot „K" auf dem Radarschirm in einer Entfernung von ca. 1400 m das Echo des zu Tal fahrenden MS „L" erkannt. Der Schubverband habe sich etwa 100 m aus dem linken Ufer gehalten und von der Talfahrt über Kanal 10 eine Begegnung Backbord an Backbord verlangt, während MS „L" etwa 'A der Strombreite vom rechten Ufer entfernt gefahren sei und damit zunächst eine problemlose Begegnung Backbord an Backbord ermöglicht habe. Die Durchsage über Kanal 10 habe der Talfahrer nicht erwidert. Als das MS „L" dann auf eine Entfernung von etwa 300 m herangekommen sei, habe es aus seiner Richtung nach Backbord gehalten. Kapitän „S" habe sich erneut über Kanal 10 gemeldet und nach Steuerbord gehalten, um dem Talfahrer auszuweichen. Im letzten Augenblick habe dann auch MS „L" nach Steuerbord abgedreht, sei aber gleichwohl mit seiner Backbordseite in Höhe von Raum 2 gegen den vorderen Backbordleichter des Schubverbandes gestoßen. Die Anfahrung habe sich ca. 70 m aus dem linken Ufer zugetragen. Offenbar sei der Beklagte zu 2) mit dem Radargerät nicht vertraut und ungeeignet gewesen, den Schiffsführer zu vertreten, der sich in den entscheidenden Augenblikken nicht im Steuerhaus befunden habe.
Die Beklagten haben vorgetragen, der Schubverband habe weder die blaue Flagge noch ein Funkellicht gezeigt und sei im geographisch linken Teil des Fahrwassers gefahren, so daß die bevorstehende Backbord an Backbord-Begegnung mit MS „L" ohne weiteres möglich gewesen wäre. Vor der Begegnung sei der Schubverband jedoch nach Backbord, also zum rechten Ufer hin ausgebrochen. Auf MS „L" sei das Ruder noch hart nach Steuerbord gelegt worden, doch sei es für ein Ausweichen oder ein Maschinenmanöver bereits zu spät gewesen. Der Unfall habe sich im rechten Teil des Fahrwassers in einer Entfernung von etwa 20 m von den roten Tonnen bei Stromkilometer 813 ereignet. Der Beklagte habe sich seit fünf Jahren mit und ohne Radar als Steuermann bwährt.
Das Rheinschiffahrtsgericht hat die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt, weil es die Sachdarstellung der Klägerin ungeachtet der gegenteiligen Bekundungen der Besatzung des MS „L" aufgrund der Aussage des Kapitäns „S" vorn Schubboot „K" als erwiesen angesehen hat. Die Berufung der Beklagten hatte auch in der Sache Erfolg.

Aus den Entscheidungsgründen:


"Die Klägerin hat den ihr obliegenden Beweis für ein unfallursächliches Verschulden der Führung von MS „L" nicht mit einer für die Verurteilung der Beklagten ausreichenden Sicherheit zu erbringen vermocht. Im einzelnen hat die Berufungskammer erwogen:

1. Gemäß § 6.03 Nr. 3 der Rheinschiffahrtspolizeiverordnung dürfen Fahrzeuge, deren Kurse — wie das vorliegend zunächst unstreitig der Fall gewesen ist — heim Begegnen jede Gefahr eines Zusammenstoßes ausschließen, ihren Kurs nicht in einer Weise ändern, die die Gefahr eines Zusammenstoßes herbeiführen könnte. Der Unfall ist demnach — wovon beide Parteien zutreffend ausgehen — von dem Schiff schuldhaft verursacht worden, das in kurzer Entfernung vor dem entgegenkommenden Fahrzeug seinen zunächst problemlosen Kurs nach Backbord verlagert hat und dadurch in den Kurs des Gegenfahrers geraten ist. 

2. Die Darstellung der Klägerin, nach der das MS „L", nachdem es auf eine Entfernung von 300m an den Schubvorhand herangekommen war, nach Backbord gehalten habe, wird von dem als Zeugen vernommenen Kapitän „S" vom Schubboot „K" in vollem Umfang bestätigt . . .
3. Der im wesentlichen die Sachdarstellung der Klägerin bestätigenden Aussage des Kapitäns des Schubverbandes stehen jedoch die Bekundungen der Besatzungsangehörigen des beklagten Motorschiffes unvereinbar gegenüber.

So hat Schiffsführer „H" von MS „L" bekundet, daß das Motorschiff rechtsrheinisch in einem Abstand von etwa 20 m zu den Tonnen zu Tal gefahren sei. Er selbst habe am Radargerät gesessen, während der Beklagte zu 2), der ebenfalls Sicht auf den Radarschirm gehabt habe, das Ruder bedient habe. Als der Schubverband im Bild erschienen sei, habe alles ganz normal ausgesehen. Nachdem er jedoch auf eine Entfernung von 200 oder 300m herangekommen sei, sei der Schubverband plötzlich nach Backbord hinübergekommen . . .
Auch der Beklagte zu 2), der, im Parallelprozeß als Zeuge vernommen, angegeben hat, seit 16 Jahren in der Schiffahrt tätig und schon etwa 10 Jahre als Steuermann auf dem Rhein beschäftigt gewesen zu sein, hat die Darstellung des Unfallhergangs durch seinen Schiffsführer bestätigt . . .

4. Stehen sich demnach — soweit der Ablauf des Unfallgeschehens und insbesondere die von der Bergfahrt und dem Talfahrer eingehaltenen Kurse in Frage stehen — die Bekundungen des Kapitäns „S" und die Aussagen der Besatzung des MS „L" unvereinbar gegenüber und sind unbeteiligte Zeugen nicht vorhanden, so fehlt es auch an hinreichend sicheren objektiven Anhaltspunkten für die Richtigkeit der einen oder der anderen Sachdarstellung.
a) Die Auffassung der Berufung, das Schadensbild widerlege die Bekundungen des Kapitäns „S" und spreche eindeutig für die Richtigkeit der Unfalldarstellung durch den Beklagten zu 2), was sich insbesondere aus der Tatsache ergebe, daß die Fahrzeuge jeweils an der Backbordseite beschädigt worden seien, vermag die Berufungskammer nicht zu teilen.
Zuverlässige Schlüsse über die von den kollidierten Fahrzeugen vor der Anfahrung eingehaltenen Kurse ließen sich aus dem Schadensbild allenfalls ziehen, wenn feststünde, an welcher Stelle im Verhältnis zu den Ufern des Stromes der Schubverband und MS „L" zusammengestoßen sind. Insoweit stehen sich jedoch die Angaben der beteiligten Schiffsführer unvereinbar gegenüber . . .
b) Die Behauptung der Berufung, eine Kursverändung des Schubverbandes nach Backbord liege nahe, weil es der Übung der Bergfahrt entspreche, in Höhe der Ausfahrt des Wesel-Datteln-Kanals von der linken zur rechten Rheinseite hinüberzuwechseln, kann — von in den Hafen einfahrenden Schiffen abgesehen — nicht zutreffen, da in diesem Strombereich die geregelte Begegnung vorgeschrieben ist, die Schiffahrt daher beim Begegnen ihren Kurs so weit nach Steuerbord richten muß, daß die Vorbeifahrt ohne Gefahr Backbord stattfinden kann (§ 9.02 Nr. lb, Nr. 2 RhSchPVO).
c) Die von den Beklagten zitierte Aussage des Matrosen vom Schubboot „K" kann als richtig unterstellt werden. Sie belegt jedoch nicht, daß die Kollision sich rechtsrheinisch ereignet haben muß, denn es entspricht einer allgemeinen Erfahrung, daß auch hei dichtem Nebel die Sichtmöglichkeit entscheidend von dem eigenen Standort abhängig ist und ständig wechseln kann. 

5. Fehlt es — wie ausgeführt — an objektiven Anhaltspunkten, die geeignet wären, die Darstellung des Unfallgeschehens durch die Besatzung des MS "L" er erhärten, so gilt das Gleiche auch für die Bekundungen des Kapitäns „S" vom Schubverband „K". Die in dem von der Klägerin überreichten Privatgutachten des Expeten „K" enthaltenen Berechnungen und aus der angenommenen Geschwindigkeit der kollidierten Fahrzeuge, ihrem seitlichen Abstand, deren Entfernung zum Ufer und zueinander bei Beginn der kritischen Phase gezogenen Schlüsse beruhen auf Annahmen, die in dieser mathematischen Exaktheit keineswegs feststehen. Insbesondere wird diesen Berechnungen und Schlußfolgerungen die Grundlage entzogen, wenn sich der Kollisionsort — was angesichts der widersprechenden Bekundungen der am Unfall beteiligten Besatzungsmitglieder der kollidierten Schiffe nicht ausgeschlossen werden kann — nicht in Ufernähe, sondern weiter zur Strommitte hin befindet. 

6. Werden demnach die Bekundungen keines der am Unfall beteiligten Besatzungsangehörigen durch objektiv feststellbare Umstände erhärtet, so kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreits darauf an, ob ein Verstoß der Führung des MS „L" gegen die Vorschrift des § 6.03 Nr. 3 RhSchPVO allein aufgrund der Aussage des an der Kollision unmittelbar beteiligten Kapitäns „S" vom Schubverband "K" zweifelsfrei festgestellt werden kann. Insoweit ist der erste Richter zutreffend davon ausgegangen, daß sowohl der Zeuge „H" als auch der Beklagte zu 2) eine übereinstimmende Darstellung des eigentlichen Unfallhergangs gegeben haben, die mit der Aussage des Kapitäns „S" nicht zu vereinbaren ist. Gleichwohl ist das Rheinschiffahrtsgericht der Aussage des Kapitäns des Schubverbands gefolgt, weil es die Glaubwürdigkeit der Besatzungsangehörigen des MS „L" dadurch in Frage gestellt sieht, daß sie widersprüchliche Angaben über die Ruderführung und den Reiseverlauf gemacht hätten. Die unterschiedliche Darstellung des Reiseverlaufs wäre aber — so meint der erste Richter — „bei der Frage nach einer möglichen Ursache für einen Fahrfehler des MS „L" eine plausible Erklärung, nämlich Übermündung."
Zudem habe der Beklagte zu 2) anscheinend nicht über die erforderliche Fähigkeit verfügt, um ein Schiff im Nebel zu führen, während Schiffsführer „H" in der entscheidenden Phase nicht in der Lage gewesen sei, in das fehlerhafte nautische Manöver seines Rudergängers einzugreifen.
Was zunächst die Übermüdung anlangt, kann es allein darauf ankommen, ob der Beklagte zu 2) übermüdet gewesen ist, weil Schiffsführer „II" der sich gemäß § 4.06 Nr. 1d) RhSchPVO auch durch einen Rudergänger vertreten lassen durfte, der — wie der Beklagte zu 2) — nicht im Besitz eines Radarschifferzeugnisses war — wie seiner eigenen Aussage entnommen werden kann — aus welchen Gründen auch immer in das Geschehen erst eingreifen konnte, als es zur Abwendung der Kollision bereits zu spät war. Oh aber der Beklagte zu 2) tatsächlich übermüdet gewesen ist, erscheint nicht mit Sicherheit feststellbar, nachdem er im Parallelprozeß als Zeuge vernommen angegeben hat, nach zeitweiligen Ruhepausen vor dem Unfall erst drei Stunden am Ruder gestanden zu haben. Zutreffend ist allerdings, daß der Beklagte zu 2), ungeachtet seiner Fahrpraxis als Steuermann, seinen eigenen Bekundungen zufolge noch nicht in eigener Verantwortung im Nebel gefahren war. Hierin kann eine mögliche Ursache der Kollision liegen. Indessen kommt diesem Umstand keine Bedeutung zu, wenn die Darstellung des Unfallhergangs durch die Besatzung des MS „L" zutrifft, nach der der Schuhverband auf eine kurze Entfernung vor dem entgegenkommenden Talfahrer seinen Kurs verändert und auf das Motorschiff zugekommen ist, weil der Unfall dann aller Voraussicht nach auch von einem Schiffsführer mit reicher Erfahrung hei Nebelfahrten nicht hätte abgewendet werden Kabinenkönnen. Daß aber ein gravierender nautischer Fehler nicht nur einem unerfahrenen Rudergänger, sondern auch einem versierten Schubzugkapitän (gemeint ist „Schubbootkapitän", die Red.) unterlaufen kann, entspricht einer in Schiffahrtsprozessen nicht selten zu machenden Erfahrung . . . 

7. Bei dieser Sachlage hatte die Berufungskammer Bedenken, einen Verstoß der Führung des MS „L" gegen die Vorschrift des § 6.03 Nr. 3 RhSchPVO allein aufgrund der Aussage des am Unfall unmittelbar beteiligten und in einem Parallelprozeß auf Schadensersatz in Anspruch genommenen Kapitäns des Schubverbands „K" mit einer für die Verurteilung der Beklagten ausreichenden Sicherheit als erwiesen anzusehen. Ist aber eine der Darstellung der Besatzung des MS „L" entsprechende Darstellung des Unfallablaufs nicht zweifelsfrei auszuschließen, so kann der Führung des Motorschiffes auch nicht zur Last gelegt werden, es versäumt zu haben, den Unfall durch geeignete Maßnahmen, insbesondere durch Abgabe akustischer Signale (§6.32 Nr. 4 RhSchPVO) abzuwenden, da hierdurch die Kollision nicht mehr hätte vermieden werden können."

Anmerkung der Redaktion:

Unter stärkerer Berücksichtigung der Spezialvorschrift des § 9.02 RheinSchPVO wäre die Beweiswürdigung möglicherweise ergiebiger gewesen.

Ebenfalls abrufbar unter ZfB 1991 - Nr.14 (Sammlung Seite 1327 f.); ZfB 1991, 1327 f.